AUS DEM PHOTOGRAPHIE-ALBUM EINER WÄDENSWILER FAMILIE 1907−1934

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1992 von Prof. Dr. Albert Hauser

Ein Wädenswiler Familienvater kauft 1907 eine Kamera und wird, obwohl das Freizeitvergnügen seinen stolzen Preis hat, ein leidenschaftlicher und technisch versierter Photograph. Seine Schnappschüsse bannt er auf Platten. Er ordnet sie paarweise an, so dass sie zum Betrachten mit dem Stereoskop geeignet sind. Das Plattenpaar wird in das Gerät (in unserm Fall ein Mahagonikästchen) geschoben (Bild Nr. 1): Der Betrachter erhält einen erstaunlich guten räumlichen Eindruck. Selbst heute, im Fernseh- und Videozeitalter, ist man überrascht über die räumliche Wirkung, die sich einstellt. Die Bilder, die wir hier in kleiner Auswahl vorstellen, waren in erster Linie für die Familie und die Freunde gedacht. Sie spiegeln in schönster Weise das Familienglück und den Vaterstolz wider. Sie zeigen eine Welt, in der es bürgerliche Rechtschaffenheit und bürgerlichen Wohlstand gab. Jede Aufnahme verrät es: Es ging darum, ein Bild von der Familie zu erhalten und den Kindern und Kindeskindern zu überliefern. Die Photographie hatte das schwache Gedächtnis zu stützen. Man kann es auch realistisch oder brutal ausdrücken: Die Photographien sind zu Bildern geronnene und in Bilder erstarrte Erinnerungen.
1 Das Stereoskop, durch welchen unsere Wädenswiler Familie die Photos des Vaters räumlich-zweidimensional bestaunte. Es ist aus Mahagoni-Holz gefertigt. Lieferant war Carl Pfann in Zürich.

Eines kann man dem Freizeitphotographen attestieren: Er hatte ein gutes Auge. Seine Bildausschnitte sind immer klug gewählt. Er hat gut beobachtet. Einer der Theoretiker der Photographiegeschichte (Heinz Buddemeier) hat allerdings gesagt, dass die Photographie nicht wie oft behauptet werde, die Beobachtungsgabe fördere. Das Gegenteil sei der Fall: Die verblassenden Erinnerungen fixieren sich auf ein einziges Bild. Diese Entwicklung, so scheint es uns, kann man allerdings nicht der Photographie als solche anlasten. Sie ist vielmehr auf die moderne Informationsfülle zurückzuführen. Beim Betrachten unserer Wädenswiler Photographien steht eine andere Frage im Vordergrund: Was hat der Photograph ins Blickfeld gerückt und abgelichtet, und was hat er geflissentlich, bewusst oder unbewusst, übersehen?
Das Resultat unserer Beobachtung überrascht einigermassen. Es ist die schöne Welt, es ist der Sonntag und Festtag, der uns entgegentritt. Die Leute erscheinen im schönsten Kleid, der Alltag und die Arbeitswelt sind ausgeklammert. Was den Photographen faszinierte, waren die grossen Ereignisse, Festumzüge, Geburtstage, Hochzeiten, Fasnachtsumzüge, Schützenfeste oder seltene Erscheinungen, wie die Seegfröörni. Er registriert allerdings auch das Verschwinden alter Häuser. Aber diese Aufnahmen sind eher selten. Recht häufig sind hingegen die Bilder von den Ferienreisen. Doch auch auf diesen Photographien sieht man nur die Vorderseite der Medaille, den schönen Garten des Kursaals in Interlaken oder die Gondelfahrt in Venedig. Es wäre verlockend, den Photographen auf seinen Wanderungen und Ferienreisen zu begleiten, um zu sehen, was er für bildwürdig hielt und was nicht. Doch für diesmal bleiben wir in Wädenswil. Wir lassen seine Bilder für sich selber sprechen. Den Kommentar liefern seine Zeitgenossen, anders ausgedrückt, die Einsender in den inzwischen verschwundenen «Nachrichten vom Zürichsee».
Im Januar 1907 wird der Stossschlitten aus der Remise geholt, abgestaubt und aufpoliert. Es ist − die ernsten Gesichter verraten es − sehr kalt. Aber man weiss sich, wie die Photographie Nr. 2 zeigt, entsprechend zu kleiden. Der mit einer Straussenfeder geschmückte Hut der Mutter deckt freilich die Ohren ebenso wenig, wie die Matrosenkappe den Knaben vor der Kälte geschützt hätte. Wenigstens sind die Beine in eine Decke gehüllt.
2 Die Mutter am Stossschlitten, Januar 1907.

Die Kälte dauerte an. Die «Nachrichten vom Zürichsee» berichten am 25. Januar 1907: «Das absolute Minimum der Kälte während den letzten drei, vier Nächten war minus 18,7 Grad Celsius. Sicher ein gestrenger Herr, der diesjährige Winter, aber so ganz ausserordentlich doch nicht. Im Januar 1891 erlebte man noch ganz andere Dinge ... Man fand damals häufig erfrorene Vögel. Heute wollen wir folgendes verzeichnen: Der Genfersee ist von Villeneuve bis Grangettes auf der Höhe von NeuveviIIe bis auf eine Breite von 200 bis 300 Meter zugefroren, was seit dem Jahre 1879 nicht mehr vorgekommen ist. Der Zürichsee ist ganz zugefroren, und in Konstantinopel herrscht ein fürchterlicher Schneesturm.» Unser Photograph hat sich auf den Seeplatz begeben. Sein Bild (Nr. 3) ergibt folgendes. Auf der gefrorenen Seefläche tummeln sich verhältnismässig wenige Eisläuferinnen und Eisläufer. Die meisten Leute ziehen es vor, das Spektakel vom sicheren Ufer aus zu betrachten. Die Herren erscheinen im dunklen Paletot mit schwarzen Hüten, weissen Krägen und Krawatten, die Damen in langen Seidenröcken.
3 Seegfröörni 1907.

Auf einer Photographie vom 13. Februar 1907 (Bild Nr. 4) präsentieren sich jugendliche Fasnächtler. Dominos und Pierrots beherrschen die Szene. Die Gruppe wird von den Leuten auf der Zinne des Hauses der heute noch bestehenden Firma Brupbacher an der Stegstrasse beobachtet. Die «Nachrichten vom Zürichsee» schreiben dazu: «Die Fasnachttage verliefen ruhig. Zeigten sich tagsüber nur vereinzelte Maskierte, ging es abends in den Tanzsälen recht lebhaft zu. Hin und wieder waren auch originelle Charaktermasken und kostümierte Gruppen zu sehen, der hübsch dekorierte Engelsaal war am Sonntag und am Montag gestossen voll Besucher.» Am 13. Februar wird berichtet: «Ja, und so geht's durcheinander, wirr und bunt, kleine Pierretten und Pierrots, Trachtenmädchen und lustige Fantasiekostümjüngelchen drehen sich in unbeholfenen Schritten nach dem Takt; dazwischen fackelt ein kaum zweikäsehoher eleganter Bräutigam mit prächtiger Blume im Knopfloch, der schwenkt den höflichen Zylinder gravitätisch. Ein ebenso zierliches Schützenlieutnäntchen rasselt mit dem Säbel und verdreht die Herzen der Mütter. Wie reizend ist diese Kindernarrheit.»
4 Maskengruppe an der Wädenswiler Fasnacht vom Februar 1907.

Im Mai des gleichen Jahres 1907 hat unser Photograph seine Kinder auf einem Frühlingsspaziergang in den Steinacher begleitet. Sie geben sich, wie es der Vater wahrscheinlich geboten hat, die Hand. Das Mädchen mit einem hübschen Damenhut, der Bub mit Strohhut und weisser Halsbinde. Sie werden von der eleganten Mutter mit strohgeflochtenem Kinderwagen begleitet. Im Hintergrund ist der Schiessstand sowie die hölzerne Festhütte zu erkennen (Bild Nr. 5).
5 Spaziergang beim Schützenhaus Steinacher, Mai 1907.

Unserem Photographen gelangen auch Bilder von eindrücklichem Ernst und grosser Schönheit. Wie beschaulich wirkt die Aufnahme der Grossmutter in der Stube vom Jahre 1908. Standen die alten Holländer oder stand Albert Anker Pate? Das weisse Haar wird von der gestickten Kapotte gedeckt. Vor Kälte schützt ein gehäkelter Schal, und die Schürze ist, wie das Bild deutlich zeigt, frisch gebügelt (Bild Nr. 6).
6 Grossmutter in der Stube, 1908.
 
7 Springbrunnen im Garten der Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau im Schloss Wädenswil, 1907.

8 Historischer Umzug an der Fasnacht 1908. Durchmarsch der Johanniter auf der Seestrasse beim «Du Lac», 8. März 1908.

Ganz in der Nähe des Dorfes gab es eine grosse Attraktion: Es ist und war der Palmgarten der Obst-, Wein- und Gartenbauschule. Die Kinder des Photographen mit hübschen grossrandigen Hüten betrachten hier den Springbrunnen (Bild Nr. 7).
Am 8. März 1908 hatte unser Photograph einen grossen Tag. Es war Fasnacht und die X-Gesellschaft hatte einen historischen Umzug organisiert. Die «Nachrichten vom Zürichsee» melden: «Eisenbahn und Dampfboote brachten an zehntausend Personen aus allen Richtungen der Windrose, von nah und fern. Das Festspiel und der Festumzug war alles andere als banale Fasnachtskomödienkost. Die Nähe der alten Zeiten und ihrer verschiedenen schmerzvollen kriegerischen Phasen sollte das törichte Gerede von der guten alten Zeit widerlegen.» Auf unserem Bild Nr. 8 reiten die Johanniter einher. Die Strasse ist von Zuschauern dicht gesäumt. Das alte Haus im Hintergrund steht längst nicht mehr. Es stand dort, wo sich heute das Restaurant Du Lac erhebt.
Ein völlig anderes Bild bietet die Fasnacht vom Jahre 1923. Die X-Gesellschaft hat anlässlich ihres traditionellen Balles die schönsten Einzelkostüme und Masken prämiert. Auf unserem Bild (Nr. 9) sehen wir die Philatelia. Auf ihrer Brust bemerkt man die berühmten Briefmarken Zürich 4 und Zürich 6. Der Blick der jungen Dame ist, wie es das Sujet verlangt, recht ernst.
 


9 Kostüm der Philatelia auf dem Ball der X-Gesellschaft an der Wädenswiler Fasnach 1923.
Im Sommer 1910 ging es mit einem Ruderschiffchen auf den Zürichsee. Die Frau des Photographen, diesmal ohne Hut, bedient die Stehruder. Die Kinder sitzen mit ihren Strohhüten brav und sittsam im Boot. Der Photograph selber (das Schicksal aller Photographen) tritt nicht in Erscheinung (Bild Nr. 10).
10 Mutter und Kinder im Ruderschiffchen auf dem Zürichsee. Aufnahme von 1910.

Am 20. August 1923 konnte der Turnverein Wädenswil sein 75-Jahr-Jubiläum feiern. Am Sonntag fand ein Preisschauturnen auf dem Turnplatz des Glärnischschulhauses statt. Es hat, wie die «Nachrichten» melden, «einen in jeder Beziehung schönen, in allen Teilen befriedigenden Verlauf genommen». Unser Photograph hat einen Hochstand am Barren festgehalten. Die Herren im Hintergrund − eine Frau sucht man vergeblich − mit Hüten, weissen Kragen und Krawatten, begutachten die Szenerie (Bild Nr. 11).
11 Turntag in Wädenswil, August 1923.
 
Am 7. August 1923 ist die neue Badanstalt eröffnet worden. Doch bevor wir einen Blick in dieses neue Etablissement werfen, wollen wir noch den Betrieb in der alten Badi ansehen. Unser Photograph hat eine Szene im Männerabteil festgehalten. Zu erblicken sind allerdings mit Ausnahme des Badmeisters Gattiker nur Knaben. Sie scheinen indessen recht vergnügt, und die Laubsägeherrlichkeit der alten Badi war damals noch intakt (Bild Nr. 12 von 1907).
12 Die alte Wädenswiler Badanstalt, abgebrochen 1923. Aufnahme aus dem Jahr 1907. Links oben Badmeister Gattiker.
 
Die neue Badanstalt ist, wie die «Nachrichten» melden, am 5. August 1923 vom Gemeinderat übernommen worden. «Dem Vernehmen nach sollen aber nicht alle ausgeführten Arbeiten befriedigen, so dass voraussichtlich in dieser Hinsicht zwischen Baukommission und Handwerkern Differenzen entstehen dürften.» Ein Einsender beklagt sich ausserdem, dass «unsere Badanstalt am Sonntagnachmittag geschlossen ist. Solchen Frauen, die bei der Badmeisterin anfragten, wurde gesagt, dass künftig an Sonntagen immer geschlossen werde. Unsere Bevölkerung und die zahlreichen Badenden wären dem tit. Gemeinderat wirklich dankbar, wenn dafür gesorgt würde, dass wie bis anhin an solch heissen Sonntagen die Badanstalt doch den zahlreichen Besuchern geöffnet bliebe ... Es liesse sich vielleicht ein Weg finden, dass man dem Badepersonal Vertretung gestattet und diese Nachmittage extra gut bezahlt; die Gemeinde hat ja gerade an den Sonntagnachmittagen eine grosse Einnahme». So höflich hat man damals noch miteinander in der Presse verkehrt. Das Bild der neuen Badanstalt (Nr. 13) zeigt die Damen in züchtigen, langen Badkleidern. Selbstverständlich wurde getrennt gebadet.
13 Frauenabteil der 1923 erstellten neuen Badanstalt Wädenswil. Aufnahme vom September 1923.
 
Im Winter 1929 kam es abermals zu einer Seegfröörni. Unser Photograph wagte sich diesmal selbst aufs Eis, und er hat ein erstaunliches Bild auf die Platte gezaubert. Zwei Herren mit Hut und Krawatte ziehen ihre Kreise. Mitten im Bild aber, so hat es unser Photograph registriert, erblicken wir einen damals sehr bekannten und beliebten Herrn. Es ist Dr. Adolf Stutz, Verleger der «Nachrichten vom Zürichsee» und Buchdrucker. Wer hätte dem stattlichen Herrn eine solche Eleganz zugemutet? (Bild Nr. 14).
14 Seegfröörni 1929. In der Bildmitte Dr. Adolf Stutz.

Unser Photograph hat wiederholt auch das Dorf und einzelne Dorfpartien sowie Häuser auf die Platte gebannt. Auf unserem Bild − es ist 1923 entstanden − erblickt man das Neudorf. Das Glärnischschulhaus samt Turnhalle steht mitten im Grünen. Gleich dahinter erhebt sich ein Rebberg, an dessen Rande wir das später abgebrochene Bürgli erblicken (Bild Nr. 15).
15 Blick vom Furthof auf das Neudorf Wädenswil, Aufnahme aus dem Jahre 1923.
 
Die älteste Aufnahme der Sammlung stammt aus dem Jahre 1880. Aufgenommen ist dieses Bild nicht von unserem Photographen, er hat es vielmehr von seinem Vater übernommen. Die «Nachrichten vom Zürichsee» melden im Juni 1887 einen Dachstuhlbrand im Restaurant zur alten Post. Das Haus, unser Bild Nr. 16, stand dort, wo sich heute der Neubau von Bindella befindet. Der Dachbrand selber wird in den «Nachrichten» nicht erwähnt; hingegen fand ich in der Nummer vom 3. August 1887 ein Inserat. Da heisst es: «Zur gefl. Beachtung. Wegen baulicher Veränderung der Alten Post befindet sich mein Geschäft bis auf weiteres in der „Alpina“, vis-à-vis dem „Frohsinn“. Spezialitäten in Rauchutensilien, Cigarren und Tabak, Fischereiartikel, Lederwaren empfiehlt bestens R. Wartmann, Wädensweil.»
Ganz besonders eindrücklich ist eine Aufnahme vom Sommer 1931. Abgebildet ist der im Jahre 1877 erstellte Kronenbrunnen. Er ist kurz nach der Aufnahme abgebrochen worden. Heute würde da wohl die Denkmalpflege einschreiten (Bild 17).
 


17 Der alte Kronenbrunnen, abgebrochen 1932.
18 Restaurant zur alten Post, nach einem Dachstockbrand im Juni 1887 ins Restaurant Central umgebaut. Aufnahme von 1886.
 
Im Sommer 1931 sind auch die Liegenschaften «Friedau», «Seeau» und «Schiffli» abgebrochen worden. Unser Photograph hat diese Häuser noch festgehalten. An den drei Bauten prangt bereits ein Schild «Abbruch Honegger Zürich» (Bild Nr. 18).
18 «Friedau», «Seeau» und «Schiffli», vom alten Bahnhof aus, abgebrochen im August 1931 durch die Firma Abbruch-Honegger in Zürich. Aufnahme von 1931.

Besonders berühmt war das Restaurant «Zum Schiffli», das dem Abbruch im August 1931 ebenfalls zum Opfer fiel. Unser Photograph hat das traditionsreiche Wirtshaus festgehalten (Bild 19). Unter dem Eingang steht der Schiffliwirt Gattiker, eine originelle und dorfbekannte Persönlichkeit. Die «Nachrichten vom Zürichsee» schreiben dazu: «Morgen Sonntag wird nun das Restaurant Schiffli, das bekanntermassen der Bahnhofbaute geopfert werden muss, seine Tore für immer schliessen. Das Emblem des Hauses, eine getreue Abbildung des ersten Dampfschiffes, der „Minerva“, wird von seinem aussichtsreichen Platze verschwinden, um im neuen Heim des Besitzers einen Ehrenplatz einzunehmen. (Anmerkung des Verfassers: Das Emblem befindet sich heute im Museum zur Hohlen Eich.) Vier Generationen der Familie Gattiker haben dem Wirtschaftsbetrieb im „Schiffli“ vorgestanden; während 95 Jahren haben sie Einheimische und Fremde mit Speis und Trank versehen, und nun zu guter Letzt fällt das gastliche Haus einer neueren Zeit zum Opfer. Das alte Lied am See ist aus, es fällt das Haus, doch was vorbei ist, kehret wieder, das Bild verweht, und neues Leben blüht aus den Ruinen».
19 Restaurant zum Schiffli und Conditorei Brändli, abgebrochen im August 1931. Vorn der Wirt Hermann Gattiker.




Prof. Dr. Albert Hauser