Heimat braucht Demokratie und Engagement

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1991 von Hermann Koch

Haben Sie je darüber nachgedacht, was das Wort Heimat für Sie persönlich bedeutet? Frage ich im Bekanntenkreis herum, so bekomme ich darauf zuerst ganz unterschiedliche Antworten, etwa «unser Land», «die Berge», «mein Dorf», «die Menschen, die hier leben», «der See», «der abendliche Blick über den See in die Berge» usw. Im Begriff Heimat, hat jemand einmal gesagt, seien Erinnerungen an frühere Zeiten, an Jugend, enthalten. Und so verschieden die Erinnerungen der einzelnen Menschen, so verschieden wird Heimat empfunden.
Heimat: Das sind aber in erster Linie Menschen, die wir mögen, mit denen wir gerne zusammen sind, sei es im Quartier, bei der Arbeit, im Verein. Genauso gehören aber eigentlich jene Menschen dazu, die einem selber, manchmal aber auch der Mehrheit der Bevölkerung nicht nur Freude machen, sondern vielleicht eine geistige Unruhe erzeugen, oft skurille Ideen haben. Gäbe es sie nicht, würde einem etwas fehlen, und sei es der politische Gegner.
Heimat, das ist auch Landschaft, in der man sich geborgen fühlt. Und hier zeigt es sich, dass wir die Landschaft hier am See ebenso gerne haben können, wie jene in Italien am Meer oder die Weite Sibiriens.

Zwillinge: Heimat und Fremde

Heimat ist nicht statisch, sondern ändert sich, positiv wie negativ. Wenn Landschaften oder ganze Strassenzüge zerstört werden, werden Menschen heimatlos! Auch kulinarisch ändert sich die Heimat: Als Lieblingsspeise nennen viele Menschen Spaghetti, Pizza, Gulasch oder Nasi Goreng. Daran sind Menschen, die als Flüchtlinge oder Emigranten zu uns gekommen sind, «schuld». Ihre «Landesspeisen» wurden unsere Speisen, und unsere Heimat wurde für viele von ihnen ihre neue Heimat.
Zu den Voraussetzungen, um mich – wo auch immer- «heimisch» zu fühlen, gehört, dass demokratische Strukturen vorhanden sind, wo ich nicht nur mitreden darf und angehört werde, sondern auch mitbestimmen, mitentscheiden kann. Mitentscheiden zum Beispiel über das Jahresprogramm des Sportvereins, oder innerhalb der Partei an einer Volksinitiative oder einem Referendum von der Idee bis zum Abstimmungskampf mitarbeiten.

Heimisch in der Vielfalt

Im Verein, von denen es in unserer Stadt für jeden und jede sicher einen passenden gibt, fühlt man sich heimisch unter Gleichgesinnten. Gemeinsam werden Ideen entworfen, diskutiert, wird entschieden und zusammen daran gearbeitet, auch wenn nicht immer alle der gleichen Meinung sind. Gerade wegen ihrer demokratischen Struktur habe Vereine eine wichtige Funktion in unserer Gesellschaft. Mit ihrer Arbeit, die sie vielleicht auch an die Öffentlichkeit tragen, leisten sie einen ideellen und unbezahlbaren – für die Allgemeinheit vielfach kostenlosen – Beitrag an das gesellschaftliche und kulturelle Leben unseres Gemeinwesens.

Die eigene Heimat mitgestalten

Auch in politischen Bereichen gibt es die Möglichkeit der Mitbestimmung. So haben alle Stimmberechtigten zum Beispiel die Möglichkeit mitzuentscheiden, wie Wädenswil in fünf bis zehn Jahren aussehen soll, wo neue Wohnungen, Arbeitsplätze entstehen sollen und wo die Landschaft unberührt bleiben soll, welche Bildung den Kindern geboten, wie für sozial Benachteiligte und Gebrechliche gesorgt werden soll. Bei all diesen wichtigen Themen kann jede und jeder Stimmberechtigte die eigenen Ideen zur Diskussion stellen, die eigene Meinung äussern, mitentscheiden und so auf das Bild der künftigen Heimat Einfluss nehmen. Am konkretesten und auf direktestem Weg kann Heimat in der Gemeinde mitbestimmt werden.

… mit Engagement und Toleranz

Zwar reden viele – wenn überhaupt – vom Verlust der Heimat, nehmen aber ihre demokratischen Rechte kaum wahr. Die grosse Mehrheit in unserer Stadt, im Kanton und in der Schweiz nimmt politische und wirtschaftliche Veränderungen, die auch ihre «Heimat» beeinflussen, wie Naturereignisse hin. Dabei wäre es in einer Zeit von Elend und Hunger in der Welt einerseits und Überfluss andererseits, angesichts der weltweiten und regionalen Umweltprobleme, des raschen technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels nötiger denn je, sich zu engagieren. Dies auch dann, wenn damit kurzfristig Schwierigkeiten, Meinungsverschiedenheiten mit Mitmenschen, Behörden und Institutionen verbunden sein können. Aber zugegeben, sich engagieren ist nicht immer einfach, manchmal brauchte es – auch unter Gleichgesinnten – etwas Mut, einen «alten Hut» nicht mehr zu «grüssen», sondern sich für mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit, für seine Ideen einzusetzen und auch selber Verantwortung zu übernehmen. Nur wer sich heute in der Öffentlichkeit, in Vereinen, Institutionen, Bewegungen und Parteien engagiert und dabei auch andersartige Ideen und Gesellschaftsvorstellungen toleriert, sich mit ihnen ernsthaft und im gemeinsamen Gespräch auseinandersetzt, hat die Chance, auch inskünftig in Wädenswil jene «Heimat» zu finden, die er oder sie sich wünscht.




Hermann Koch
Gemeinderatspräsident 1990/91 (SP)