VON ELEKTRIZITÄT UND ÄRZTEN IN WÄDENSWIL IM VERGANGENEN JAHRHUNDERT

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1995 von Robert Epprecht

WALTER WYSSLING (1862–1945) – PIONIER DER ELEKTRIFIZIERUNG UNSERES LANDES

Der grösste Impuls zur Elektrifizierung unseres Landes und der Bahnen ist von Wädenswil ausgegangen und verbunden mit dem Namen meines Grossvaters, Walter Wyssling. Er war eines der vielen Kinder des Ökonomieverwalters der damaligen Kantonalen Strafanstalt Ötenbach in Zürich.
Der Bub war gescheit, pflichtbewusst, in allem hoch exakt, fleissig und handwerklich geschickt. Als er nach dem Besuch des Gymnasiums erklärte, unbedingt Ingenieur werden zu wollen, entschied sein Vater: «Praxis kommt vor dem Studieren!» Ausserdem müsse seine schmächtige Gestalt noch etwas «auseinandergehen», und so steckte er den Jungen in eine Schlosserlehre. Unter dem Dach richtete der Vater dem Sohn eine eigene kleine Werkstatt ein. Für die erworbenen praktischen Konstruktionskenntnisse war mein Grossvater später immer dankbar. Vorerst aber musste er auf dem zweiten Bildungsweg den Zugang zum Polytechnikum – so hiess die ETH damals – schaffen. Walter Wyssling studierte dann Mathematik und Physik. Er erkannte das gewaltige, noch ungenutzte Potential der Elektrizität und wandte sich diesem Teilgebiet der Physik zu. Damals, vor hundert Jahren, empfand man die Elektrizität als eine ungeheure Naturgewalt, hochenergetisch und vor allem sehr gefährlich. Man wusste, dass wenige Blitze ganze Städte und Industrien hätten versorgen können, hätte man sie nur vom Gewitterhimmel einfangen können.

Der Pionier der Elektrizität, Walter Wyssling (12.1.1862 −22.2.1945), als junger Professor am Polytechnikum in Zürich.
Die Gewalt des Blitzes als Ausdruck der Elektrizitätskraft sass in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts fest in der Vorstellungskraft der menschlichen Köpfe. Ich erinnere mich an einen Pavillon der Landesausstellung 1939 in Zürich, der «Landi», wo die ETH die Wirkungen der Elektrizität vorstellte: Da gingen haushohe Blitze los, dass es nur so donnerte und krachte.
Zur Zeit der «Landi» war man noch sehr stolz auf die Leistung des Landes, mittels Elektrizitätswerken eine so gewaltige Energie herstellen und im Zaum halten zu können. Diese Energieform nannte man «Weisse Kohle», weil sie sauber war keinen stinkenden Rauch produzierte und in unserem an Bodenschätzen armen Land selber hergestellt wurde. Auch war man stolz auf die gewaltigen Staumauern in den Bergen, deren Nebeneffekt schöne Bergseen waren. Nun zurück zum Anfang unseres Jahrhunderts!
Mit Zuversicht, Zukunftsglaube und einem gewissen Nationalstolz ging mein Grossvater, Walter Wyssling, daran, die praktische Anwendung der Elektrizität zu studieren und zu erproben. Sein ausgeprägtester Charakterzug, seine absolute Exaktheit in allen Dingen, half ihm, die in ihren Auswirkungen noch weitgehend unbekannte Energieform der Elektrizität in den Griff zu bekommen. Den Mitbürgern musste die Angst vor der Elektrizität genommen werden. Die Bevölkerung reagierte damals auf mit Elektrizität betriebene Maschinen nicht viel anders als sie sich seinerzeit vor Dampfmaschinen gefürchtet hatte. Den Anwohnern der Spanisch-Brötli-Bahn erschien ja die Dampflokomotive auch als direkt vom Teufel erfunden.
So war also die allgemeine Einstellung zur Elektrizität, als mein Grossvater Professor für angewandte Elektrotechnik und später dazu Rektor am Polytechnikum war.

DAS SIHLWERK WALDHALDE

Mit grossem Mut plante der Wädenswiler Tuchfabrikant Walter Treichler-Näf (1861–1894) mit andern Unternehmern, von Dampfbetrieb auf elektrischen Antrieb umzustellen. Strom war aber nicht vorhanden; es musste zuerst ein Kraftwerk gebaut werden. Die Industriellen wandten sich daher an den damals zuständigen Fachmann, an Professor Walter Wyssling.
1893 erfolgte die Gründung der Aktiengesellschaft «Elektrizitätswerk an der Sihl» mit je einer Million Aktien- und Obligationenkapital. Noch bevor das Elektrizitätswerk stand, starb 1894 der Initiant, Walter Treichler. Der spätere Bundesrat Dr. Robert Haab (1865–1939) übernahm den Vorsitz des Verwaltungsrates. Dr. Haab war damals Gemeindepräsident von Wädenswil. Seine berufliche und freundschaftliche Verbindung mit meinem Grossvater war eiri Glücksfall.
Allein zu Pferd – oder in Begleitung von Dr. Haab in der Kutsche – reiste mein Grossvater manchmal täglich an die Sihl, wo südlich von Schönenberg unterhalb der Menzinger Brücke, flussabwärts an der Waldhalde, das Kraftwerk gebaut wurde. Ein Teil des Sihlwassers wurde unterirdisch zum zu einem Stauseelein erweiterten Tiefenbachweiher geleitet. Von dort führte eine Druckleitung 62 Meter in die Tiefe zu den Turbinen im Maschinenhaus. Es war das erste öffentliche Kraftwerk im Kanton und versorgte neun zürcherische Gemeinden und Menzingen mit Strom.


Bauarbeiten am gestampften Erddamm des Tiefenbachweihers, 1894/95. Im Vordergrund rechts die bereitliegenden Druckrohre.

Im Rahmen der Enkel-Erziehung musste ich – mit einem Empfehlungsschreiben versehen – zu Fuss, per Velo oder mit dem Schlitten die Waldhalde besuchen. Damals konnte man vom Feld gefahrlos auf der Schönenbergstrasse ins Dorfhinunterschlitteln. Zu Hause wurden dann die Enkel vom Grossvater abgefragt. Fünf Turbinen, hergestellt durch Escher Wyss, leisteten bei 360 Touren pro Minute je 400 PS. Brown, Boveri in Baden erstellten die Zweiphasengeneratoren von zuerst 42, später 50 Perioden pro Sekunde, also 50 Hertz.
Grossvater gab uns vor der Abreise einen Tip: Sollten wir uns im Werk nicht genügend orientiert haben, so seien die wichtigsten Angaben am Transformatorenhaus in Menzingen zu lesen. Grossvater hielt viel darauf, die Öffentlichkeit für die Elektrizität zu interessieren. Sicherheitshalber legten wir das Wegstück nach Menzingen auch noch zurück. An besagter Transformatorenstation stand in grossen Buchstaben: Elektrizitätswerk an der Sihl. Generatorenstation Waldhalde 612 m ü. M. 5 Maschinen a 400 PS, 5000 Volt Spannung, Weiherinhalt 220000 m3, Druckhöhe 62 m, und dazu verschiedene Angaben über die Transformatorenstation. Der Passant sollte sich die Leistung bildlich vorstellen können, als ob 2000 Pferde nach Menzingen hinaufkeuchten.
Für heutige Verhältnisse ist das Werk, das 1995 hundert Jahre alt geworden ist, klein. Es war aber der Grundstein der zürcherischen Stromerzeugung und liefert noch heute Strom. Dem Werk Waldhalde war ein derartiger Erfolg beschieden, dass das Volk 1908 beschloss, die Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) zu gründen. Unermüdlich veröffentlichte Walter Wyssling vor der Abstimmung seine Argumente für diese Gründung.
Die EKZ übernahmen dann die Waldhalde und deren Direktor als technischen Leiter der gesamten Betriebe. Als nächstes wurde das Kraftwerk Eglisau gebaut, und mein Grossvater sollte seine Büros nach Zürich verlegen. Ich bin aber «z Wätteschschwiil», sagte mein Grossvater. Diese Begründung konnte der Verwaltungsrat der EKZ nicht widerlegen, und so blieb das technische Büro der EKZ bis 1913 – solange es durch Wyssling geführt wurde – in Wädenswil. Die Räumlichkeiten befanden sich im Eckhaus Schönenbergstrasse/Töbeliweg, gerade neben Grossvaters Chalet.
So wurden die Anfänge der Elektrifizierung des Kantons Zürich in Wädenswil geplant. Auch das Versuchswerk Waldhalde gab seinem Direktor noch viel zu tun. Einmal gefror das Wasser im Druckstollen, und alles Salz von Schönenberg und Umgebung musste aufgekauft werden, um das Eis wieder aufzutauen.
Dr. Robert Haab (1865–1939), der spätere Bundesrat, Präsident des Verwaltungsrates der Aktiengesellschaft «Elektrizitätswerk an der Sihl».

Oder der Blitz schlug in eine Überlandleitung, und die Sicherungen im Werk brannten durch. Die Sicherheit der im Betrieb Arbeitenden war eine grosse Sorge meines Grossvaters. So liess er – das war eine Neuheit – die Hochspannungsschalter in einem speziell gesicherten Raum anbringen. Diese Schalter befanden sich hinter einem gesicherten Gang auf riesigen Porzellanisolatoren an isolierenden Marmorwänden.
Anlässlich einer Besichtigung demonstrierte der Betriebsleiter uns Enkeln eine alte Schmelzsicherung; sie war damals, vor 60 Jahren, schon längst durch modernere Einrichtungen abgelöst worden. Sie diente nur noch als Demonstrationsobjekt aus der Anfangszeit. Der vorsichtige Mann hiess uns den Schalterraum verlassen; wir sollten von der Tür aus zusehen. Als er einen Hebel herunterriss, donnerte an der gegenüberliegenden Wand die alte Schmelzsicherung los. 5000 Volt Spannung liessen oben und unten aus einer dicken Porzellanröhre je eine Art Kugelblitz ausfauchen. Der Donnerblitz war derart gewaltig, dass ich meinte, dadurch in den Maschinenraum geschleudert worden zu sein, stand aber zu meiner Verwunderung nach diesem Ereignis immer noch am selben Platz.

SCHWEIZERISCHER ELEKTROTECHNISCHER VEREIN

Die Prüfung auf Sicherheit der Elektrizitätswerke, deren Bestandteile und aller elektrischen Apparate übernahm der neu gegründete Schweizerische Elektrotechnische Verein (SEV), dem alle Hersteller von Werken und Apparaten angehörten und noch heute angehören. Die Mitglieder hatten sich an die Vorschriften zu halten. Die Behörden wurden durch das Bestehen dieser Institution etwas beunruhigt. Sie waren nämlich damals sehr in Sorge, was für Verantwortlichkeiten ihnen die Stromerzeugung beschere. Die Vorschriften des SEV wurden für das ganze Land verbindlich erklärt. Noch heute sind in der Elektrotechnik nur SEV-geprüfte Bestandteile zugelassen. Jeder Stecker trägt das SEV-Prüfzeichen.

ELEKTRIFIZIERUNG DER EISENBAHNEN

Nicht nur die Elektrifizierung des Kantons Zürich ging von Wädenswil aus; auch die Elektrifikation der Bahnen, besonders der SBB, hatte hier ihre Wurzeln. 1905 reiste mein Grossvater, Walter Wyssling, auf eigene Kosten für ein halbes Jahr nach Amerika, um dort die ersten Versuche einer Bahnelektrifikation zu studieren. In der Schweiz gründete er hierauf die Studienkommission für elektrischen Bahnbetrieb und hielt an der ETH Vorlesungen über dieses Thema. Kleinere Bahnen konnten dafür gewonnen werden, verschiedene Systeme zu erproben. So machte auch die Emmental−Burgdorf−Thun-Bahn erste Versuche mit Dreiphasenstrom. Das Problem zeigte sich nicht in der Stromart, sondern bei der Oberleitung. Es mussten zwei parallele Oberleitungsdrähte geführt werden; das gab Schwierigkeiten bei den Weichen. Andere kleine Privatbahnen fuhren mit Gleichstrom, Ein- oder Zweiphasenstrom verschiedenster Spannungen.
Und was tat sich bei den Schweizerischen Bundesbahnen? Dr. Robert Haab aus Wädenswil trat 1911 in die Generaldirektion der SBB ein. Er wurde durch seinen Freund Wyssling immer wieder zur Elektrifikation der SBB gedrängt, dies vor allem aus militärischen Gründen: zur Wahrung der Unabhängigkeit des Landes von ausländischer Kohle. Die SBB glaubten damals, schlechte Erfahrungen mit Strombetrieb gemacht zu haben. Sie hatten nämlich 1904 bis 1909 der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) auf eigene Rechnung und Gefahr die wenig befahrene Strecke Oerlikon-Wettingen für Versuche zur Elektrifikation freigegeben. Wegen grosser Anfangsschwierigkeiten verloren aber die Schweizerischen Bundesbahnen die Geduld und entzogen der MFO die Konzession wieder. Die italienischen «ferrovie dello stato» hatten mehr Zukunftsglauben und elektrifizierten nach dem MFO-Prinzip die Strecke Brig-Domodossola.
Aber auch Dr. Haab hatte in seiner Wädenswiler Zeit Vertrauen in die Elektrizität gewonnen und erreichte, dass der Verwaltungsrat der SBB im Jahre 1913 einen ersten Kredit von 38,5 Millionen Franken für die Elektrifizierung bewilligte. Für diese Aufgabe berief Dr. Haab den ehemaligen Leiter der MFO und Initianten der Versuchsstrecke Oerlikon-Wettingen, den Elektroingenieur Emil Huber-Stocker. Ich zitiere aus dem Buch «Die Entwicklung der schweizerischen Elektrizitätswerke und ihrer Bestandteile in den ersten 50 Jahren» meines Grossvaters:
«Es war geradezu ein Glück, dass es inzwischen (1912) dem damaligen Generaldirektor Haab gelungen war, für die Leitung der gesamten Elektrifizierung Emil Huber zu gewinnen ... Der tiefgründigen Sachkenntnis Hubers, besonders aber seiner Energie, seinem tatkräftigen, auf die Hauptsache gerichteten, jeder Bürokratie abgeneigten Wesen, seiner grossen Verantwortungsfreudigkeit, die bis zur Übernahme grosser persönlicher Risiken ging, auch seiner Menschenkenntnis für die Wahl seiner Mitarbeiter, war es zu verdanken, dass die dafür vorgesehene Bundesbahnstrecke in ausserordentlich kurzer Zeit, unter Erstellung der dazu nötigen bedeutenden Kraftwerke, trotz aller Hemmnisse durch den Krieg, in elektrischen Betrieb kamen.»
Weiter werden alle Schwierigkeiten beschrieben, welche Huber zu bewältigen hatte: Erhöhung des Lichtraumes in den Tunnels, bei Strassenüberführungen, Brückenverstärkungen für die schweren Lokomotiven, Festlegung passender Lokomotivtypen, Vergabe der Aufträge an Baumeister und Lieferanten im ganzen Land, um eine gestreute Arbeitsbeschaffung zu erreichen, und vieles andere mehr. Schon 1920 konnte die Strecke Erstfeld−Göschenen dem elektrischen Betrieb übergeben werden. Wyssling regte an, Huber in Flüelen ein Denkmal zu setzen; es steht noch heute dort. Die seit dem Ersten Weltkrieg bestehende Kohlenknappheit hatte den Befürwortern der Elektrifizierung recht gegeben. Das Hin und Her der Meinungen betreffend Stromsystem, das auch am Internationalen Eisenbahnkongress von 1910 in Bern zu grossen Redeschlachten geführt hatte, wollte in der Schweiz lange nicht zur Ruhe kommen. Entsprechend den Empfehlungen der Studienkommission wurde schliesslich für Einphasenstrom entschieden. Dies zeigt eine weitere Grösse Hubers: Sein Dreiphasensystem, das Italien als bestes pries – auf der Simplonstrecke gab es ja nur wenige Weichen -, gab er einsichtig zugunsten eines für die Schweiz geeigneteren Systems auf.

FAMILIE WYSSLING

Auch die Familie wurde in Walter Wysslings Tätigkeiten eingespannt. So entwarf er einen elektrischen Kochherd. Seine Frau musste dasselbe Gericht einmal auf dem Gasherd und dann auf dem Elektroherd kochen und über die Kochzeiten genau Buch führen. Elektrische, ja überhaupt alle Erzeugnisse mussten solid und dauerhaft sein. Seine vor fast hundert Jahren entworfenen elektrischen Öfen heizen noch heute das Chalet an der Schönenbergstrasse 36 in Wädenswil. Studenten mussten kommen, um die Konstruktionen zu studieren. Als Beweis für die angenehme Ofenwärme diente der Hund, welcher sich unaufgefordert an den warmen Ofen legte. Grossvater hielt viel auf Sparsamkeit. Wir Enkel mussten in seiner Werkstatt krumme Nägel gerade schlagen und in selbstgemachte Kartonschächtelchen sortieren. Ein Morgenessen lang dauerte sein Tadel, wenn eine Glühbirne über Nacht unnötig gebrannt hatte. Damals kostete der Strom ja auch verhältnismässig viel mehr als heute.
Wir Enkel empfanden unseren Grossvater manchmal als etwas vorgestrig. So hatte der Elektrizitätsprofessor keinen Radioapparat. Konzentration sei beim Arbeiten das Wichtigste, erklärte er, man dürfe auf keinen Fall beim Aufgabenmachen durch Radiomusik abgelenkt werden. Auch war er ein Feind der Automobile. Sie würden dereinst einen Strassenhunger entwickeln und dadurch unser schönes Land zerstören, sagte er schon vor einem halben Jahrhundert voraus. Als Bub glaubte ich, Grossvater leide unter einer Art Papiergeiz. Ich hatte seine Erklärung nicht begriffen, als er dozierte, man könnte durch Papiersparen, wenn es viele tun würden, verhindern, dass Bäume ihr Leben lassen müssten.
In vielem versuchte Grossvater, sein Wissen und seine Denkart an seine Enkel weiterzugeben. Jeder Enkel erhielt als Konfirmationsgeschenk eine Schweizerreise mit Grossvater.
Küche mit modernem Elektro-Kochherd. Aufnahme aus dem Jahre 1924.

Gleichzeitig mit mir wurden zwei weitere Enkel konfirmiert, und wir fuhren alle zusammen in das Tessin. Überall machte Grossvater auf Schönheiten und Besonderheiten der Landschaft aufmerksam. Auch mussten wir uns viele technische Einzelheiten merken, verschiedene Lokomotivtypen erkennen, die Brücken- und Tunnelnamen der Strecke auswendig lernen. In den Kehrtunnels holte Grossvater sein Sackmesser hervor, knüpfte es an eine Schnur, setzte es in Pendelbewegung und demonstrierte damit die sonst unsichtbare Kreisbewegung des Zuges. In Göschenen gab es einen längeren Zugshalt. Das war ein Relikt aus der Zeit der Dampflokomotiven, die vor der Tunneleinfahrt Kohle und Wasser fassen mussten. Auf den Perrons standen Holztische bereit, die Teller mit sehr heisser Mehlsuppe gefüllt, zur Stärkung vor der langen Tunnelfahrt. Restaurateur im Bahnhof Göschenen war damals der Dichter Ernst Zahn.
Im Gotthardtunnel holte Grossvater seine militärischen Marschtabellen hervor. Die Zugsbeleuchtung war zu seinem Ärger schlecht, flackerte, und er hatte mit seinen damals immerhin achtzig Jahren Lebensalter Mühe zu lesen. Er erwischte auch die falsche Tabelle, diejenige der Kavallerie und nicht der Infanterie. Nach diesen Angaben und mit der Landkarte berechnete er die Wegdauer von Ambri nach Faido. Er fuhr mit dem Zug weiter, wir stiegen für die Fussreise aus. Wir hätten dann in Faido über die Strassen- und Bahnbauten dieser Wegstrecke der Südrampe referieren sollen. Leider waren wir dazu nicht in der Lage, denn wir mussten Faido im Galopp erreichen, um rechtzeitig beim ungeduldig Wartenden aufzutauchen.
Im Hotel Locarno gab es Morgen- und Abendrapport. Am Morgen wurden wir zu Besichtigungen losgeschickt, abends hatten wir darüber zu berichten. Einmal aber haben wir Grossvater betrogen. Wir wollten ins Onsernonetal wandern, sahen aber am Bahnhofkiosk eine Ansichtskarte einer Kirche eines der dortigen Dörfer. Wir erwarben diese Karte, schlichen ins Lido an die Sonne, kauften aus dem Bahngeld eine Glace und zeichneten die Karte ab. Die Skizzen legten wir abends Grossvater vor. Der lobte die nun schon viel besseren perspektivischen Darstellungen, kritisierte aber, dass wir alle denselben Standort eingenommen hätten. Jede Sache müsse stets und immer von verschiedenen Seiten betrachtet werden.
In der Obhut des Grossvaters fühlten wir uns geborgen und sicher; wir hatten ihn gern. Es war uns auch ganz selbstverständlich, dass er oft als einziger Fleisch bekam, war er doch schliesslich unbestrittener Herrscher der Tafelrunde. Dafür war seit der Zeit seiner schmächtigen Jugend sein Bauch sehr gewachsen. Ich kannte meinen Grossvater nur als stattlichen Herrn.

WALTER WYSSLING – DER OFFIZIER

Um Grossvaters Beschreibung abzurunden, muss ich ihn noch kurz als Offizier schildern. Er war vor und während des Ersten Weltkrieges Kommandant der Zürcher Brigade 14. Damals gab es noch keine Divisionen und keinen höheren Grad als Oberst. Auch General Wille trug noch während des Ersten Weltkrieges Oberstenuniform. Der General hielt grosse Stücke auf Wyssling; auf die Zürcher könne man sich verlassen. Einmal hatte er aber doch Ärger mit Oberst Wyssling: 1912 waren die Kaisermanöver. Der Deutsche Kaiser besuchte oder inspizierte, wie man will, die Schweizer Armee. Die Manöver begannen um zwei Uhr nachmittags. Lange vorher schon wurden die Soldaten in Reih und Glied aufgestellt, mit Tornister und aufgepflanztem Bajonett, wie man eben damals in die Manöver zog. Aber zehn Minuten vor zwei – der Kaiser war schon eingetroffen – lagen die Zürcher noch lachend und spielend am Boden. Generalstabschef Sprecher galoppierte persönlich ventre a terre herbei, um Wyssling die Uhr zu zeigen. «Ich kenne die Zeit», sagte dieser, «meine Soldaten brauchen nicht länger als drei Minuten, um aufzustehen.» Und tatsächlich sind die Zürcher als erste «losgezäpft», als die Trompete zur Attacke blies.

Oberst Walter Wyssling, Kommandant der Zürcher Infanterie-Brigade 14. Aufnahme um 1912.

DR. FLORIAN FELIX

Florian Felix (1858−1931) war der Hausarzt der Familie Wyssling. Mein Grossvater litt gelegentlich unter «Hitzgi» während des Essens. Dr. Felix erklärte, das Übel gehe, wie es gekommen sei, wenn man ganz intensiv über seinen Ursprung nachdenke. Kam diese unangenehme Störung, so gebot Grossvater mit einer Handbewegung Schweigen und dachte nach. Bis der Singultus vergangen war, getraute sich keiner, durch Essen, Trinken oder gar Reden die grossväterliche Meditation zu stören.
Dr. Felix machte am Jahresende Sammelrechnungen. Emil Hauser senior musste als Bub einmal im Auftrag seines Vaters die lange Aussentreppe an der «Gerbe» hinaufsteigen, dort hinauf, wo Dr. Felix praktizierte, und folgendes ausrichten: Mit der Rechnung könne etwas nicht stimmen, im vergangenen Jahr sei niemand der Familie Hauser krank gewesen. Buebli, sag Deinem Vater, das wisse der Felix auch. Aber sollte die Rechnung nicht bezahlt werden, so werde er die Familie Hauser nie mehr besuchen. Er war ja der einzige Arzt in Wädenswil. Er betrieb den Sozialausgleich so, dass er hablichere Leute mehr bezahlen liess, um ärmere gratis behandeln zu können. Eine Krankenkasse gab es damals noch nicht.
Dieses System kam ins Wanken, als ein zweiter Arzt, Dr. Robert Ganz (1848−1913), seine Praxis in Wädenswil eröffnete. Dr. Felix wollte aber alleiniger Herrscher über die Gesundheit seiner Wädenswiler sein und machte seinem Kollegen das Leben schwer. Man kann das im Buch «Der Narr seines Herzens» der Tochter Milly Ganz nachlesen.
Dr. Felix sammelte leidenschaftlich Stiche. Er schaute sich bei seinen Patienten um. Fand er etwas Geeignetes für seine Sammlung, so meinte er, falls ihm der Stich überlassen werde, so werde das in der Rechnung berücksichtigt. Ein Teil seiner Sammlung ist im Qrtsmuseum zur Hohlen Eich ausgestellt.

HELENE WYSSLING, DAS FRÖILEIN TOKTER OBERSCHT

Florian Felix war der Götti meiner Tante, Helene Wyssling; sie war eine der Töchter meines Grossvaters. Zusammen mit Frl. Dr. Schinz in Zürich war sie eine der ersten frei praktizierenden Ärztinnen im Kanton Zürich, also wie ihr Vater eine Pionierin in ihrem Fach.
Das von August Weber gezeichnete Porträt ihres Göttis, also von Dr. Felix, hing über dem Pult in ihrem Sprechzimmer. So wurde es Dr. Felix nicht langweilig. Helene Wyssling war Spezialärztin für Lungenkrankheiten. Zu ihrer Zeit war ja die Tuberkulose eine der Hauptkrankheiten. Vor allem aber betrieb Helene Wyssling eine ausgedehnte Allgemeinpraxis. Sie verstand es, sich als Frau durchzusetzen und tat dies bei all ihrer Herzenswärme sehr energisch. Viele nannten sie deswegen «s Fröilein Tokter überseht». Sie praktizierte zunächst im EKZ-Gebäude, nach dem Tod ihres Vaters (1945) im Chalet. Die Hausbesuche erledigte sie lange Zeit per Velo. Sie werden sich die familiären Auseinandersetzungen vorstellen können, als sie sich zum Kauf eines Autos entschloss.
Der Autokauf selber aber war sehr amüsant und typisch für eine Wyssling. Sie liess die Autohändler kommen und sich in die Mugern chauffieren. Dort besuchte sie zuerst die hustenden Rusterholz-Kinder und wollte diesen Sirup verordnen. Die Kinder weigerten sich. Sie besassen nämlich ein Bilderbuch. Darin kam eine Hexe vor, welche aus Fliegenpilzen, «Spinnegöifern und andern unbekömmlichen Essenzen Sirup braute.
Der Wädenswiler Arzt Dr. Florian Felix (1858–1931), Pate von Dr. Helene Wyssling. Diese Radierung von August Weber aus dem Jahre 1927 hing im Sprechzimmer der Ärztin.
Die Hexe war klein und dick und glich somit ein wenig meiner Tante. Nun folgte die Probefahrt den Mugernrain hinan zum Rechberg. Die meisten Autos schafften die Strecke nicht. Das Kühlwasser brodelte, man musste in die Mugern zurück, um Wasser zu holen. Ein kleines Auto aber, ein Mercedes-Cabriolet, hielt durch. Dieses kaufte Helene Wyssling dann.
Ohne dieses Auto hätte Tante Leni die anstrengendste Zeit ihres Lebens nicht bewältigen können.
Während des Zweiten Weltkrieges waren ihre männlichen Kollegen meist im Militärdienst, und die ganze Last der ärztlichen Versorgung von Wädenswil lastete auf ihren weiblichen Schultern. Kam ein Kollege in den Urlaub, so konnte er sein Auto nicht benutzen: Stillgelegte Wagen waren damals aufgebockt zur Schonung der kaum mehr erhältlichen Pneus. Die Ärztin machte darum Ärzte-Sammeltransporte in «den Berg»; jeder Arzt besuchte seine Patienten. Für die Soldaten gab es während des Krieges noch keinen Lohnausgleich. Dies besorgte für ihre Kollegen Helene Wyssling. Die Hälfte der Honorareinnahmen, welche sie für die Behandlung von Patienten eines Kollegen erhielt, überwies sie dem entsprechenden Hausarzt.
Aber nicht nur Pneus waren kaum erhältlich; auch das Benzin war knapp und rationiert. Die Benzinration reichte nicht. Aber Helene Wyssling hielt einen Vorrat an grossen Wundbenzin- «Guttere». Dieses Benzin war nicht rationiert, und damit füllte sie den Tank. Das Cabriolet hustete und stotterte, aber es lief. Um Benzin zu sparen, liess die Ärztin den Wagen im Leerlauf den Berg hinunterrollen, fuhr im Schuss die Zugerstrasse hinunter, bog in die Oberdorfstrasse ein, wo der Wagen dann manchmal stehen blieb. «Stossen !» rief die Ärztin zum Fenster hinaus. Die Anwohner eilten herbei, um der tapferen Frau zu helfen.
In diesem Chalet an der Schönenbergstrasse 36 wohnte Professor Walter Wyssling, und hier praktizierte seine Tochter Dr. med. Helene Wyssling.

Zum Schluss nochmals etwas Elektrizität. Als Lungenärztin benötigte meine Tante einen Röntgenapparat. In ihrem Röntgenzimmer sah es anfänglich aus wie im Labor von Madame Curie. In einer Ecke stand ein mannshoher Transformer, eingeschalt in schwarzes Blech, durchsiebt von Luftlöchern in der Form abgerundeter Schweizerkreuze. Wurde der Röntgenapparat eingeschaltet, krachte es zunächst hinter diesen Gittern, dann hörte man bedrohliches Brummen. Der auf hohe Spannung gebrachte Strom wurde über wuchtige Porzellanisolatoren zur Decke geführt, kam über freihängende, dicke Kupferdrähte zur Röntgenröhre. Die Drähte waren durch kleine, bewegliche Porzellankugeln, die «chrälleliartig» aufgereiht waren, isoliert. Die erste Röntgenröhre war ein Urmodell, von Röntgen selber entworfen und von Siemens hergestellt, eine sogenannte Jonisationsröhre. Weitere elektrotechnischmedizinische Apparate (SEV-geprüft!) vervollständigten die damals hochmoderne Praxis.
Hiemit beende ich meine kleine Kultur- und Familiengeschichte und hoffe, einen kurzen Einblick in eine Aufbruchszeit von Wädenswil gegeben zu haben.

 
 
 
Dr. med. Robert Epprecht