VERANTWORTUNG WAHRNEHMEN

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2007 von Beat Wiederkehr
 
Trotz politischer Erfahrung als Gemeinderat war es für mich im Frühjahr 2006 ein Sprung ins kalte Wasser, das Gemeinderatspräsidium zu übernehmen, denn die übliche Vorbereitung für dieses Amt als zweiter und erster Vizepräsident fehlte mir. Glücklicherweise durfte ich in meiner Tätigkeit auf das Wohlwollen und die Unterstützung meiner Kollegen im Ratsbüro und auf eine kompetente Ratssekretärin zählen.
Ich erlebe unsere Stadt als engagiert und eigenständig. Stellvertretend für viele Aktivitäten erwähne ich die Historische Gesellschaft Wädenswil. Sie liess sich durch das Nein zum Ortsmuseum nicht entmutigen, sondern nahm bald die Vorbereitungen für die Wechselausstellung «Schatzkammer Wädenswil» in Angriff. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen für einen Verein, der keine Räumlichkeiten und nur bescheidene Finanzen zur Verfügung hat. Der Einsatz war riesig und die Umsetzung ein voller Erfolg. In einer öffentlichen Ausstellung, begleitet mit persönlichen Führungen, erhielt die Bevölkerung Einblick in den reichen historischen Fundus unserer Stadt.

Auf gelungene Art konnten so Brücken vom Gestern zum Heute geschlagen werden.

ZUKUNFTSWEISENDE INVESTITIONEN

Die «Schatzkammer Wädenswil» hat uns vor Augen geführt: Wädenswil hat sich rasant entwickelt. Und wo stehen wir heute? Ein enormer, lang aufgestauter Investitionsschub wird uns auch finanziell herausfordern. Ich denke an die Bahnhofplatzgestaltung, den Um- und Erweiterungsbau der Frohmatt, das neue Feuerwehrgebäude, später dann hoffentlich bald die Bibliothek und an eine Kulturhalle. Nach langen Jahren der Planung folgt nun die Umsetzung. Stagnation lassen wir hinter uns. Endlich. Wir bewegen uns vorwärts. Dafür setzen sich alle politischen Kräfte ein. Eine seltene Allianz aller Wädenswiler Parteien hat mitgeholfen, dass der Bahnhofplatzvorlage schliesslich der Durchbruch gelang. Ich bin begeistert gewesen, wie Vertretungen unterschiedlicher politischer Couleur am gleichen Strick gezogen haben. Andererseits haben wir erlebt, wie Eigeninteressen Privater lange Jahre das neue Feuerwehrgebäude verhindert haben. Aufgestaute, dringende Investitionen müssen nun bei besserer Konjunktur und bei steigendem Zinsniveau realisiert werden.

SOZIALHILFE ALS HERAUSFORDERUNG

Auch Wädenswils Finanzhaushalt wird durch jährlich steigende Ausgaben für die Sozialhilfe belastet. Der Ausgabenrekord für die wirtschaftliche Sozialhilfe ist Besorgnis erregend; der öffentliche Haushalt wurde in 2006 um 2,1 Millionen Franken stärker belastet als budgetiert. Ein immer grösserer Teil der Steuereinnahmen muss für Personen aufgewendet werden, die – aus welchen Gründen auch immer – finanziell vom Staat abhängig werden. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und stehen völlig im Kontrast zur guten Konjunkturlage. Die Situation ist grotesk: Trotz boomender Wirtschaft steigen die Fallzahlen weiter. Als Gesellschaft sind wir hier stark gefordert. Integrationshilfen für Ausgesteuerte, vor allem durch Programme für junge Arbeitslose und ältere Langzeitarbeitslose, müssen eine hohe Priorität haben.

Dazu gehört ebenso, von den Sozialhilfebezügern verstärkte Mitwirkung und Eigenverantwortung zu fordern. Auch wirksame Kontrollmechanismen zur Verhinderung von Missbrauch gehören dazu. Und Innovation ist gefragt, wie zum Beispiel das lancierte Pilotprojekt «wädi rollt». Denn im Sozialbereich kommt es speziell darauf an, nicht nur das Richtige zu tun, sondern das Richtige in der richtigen Haltung anzupacken und mit Kopf und Herz zu denken.
Bei aller Notwendigkeit staatlicher Hilfe muss uns aber auch bewusst sein, dass ein solidarischer Umgang mit den Schwächeren Verpflichtung und Verantwortung eines jeden einzelnen ist, insbesondere von Privilegierten wie ich und wahrscheinlich viele von uns sind. Unsere Gesellschaft wird nicht solidarischer, indem alle sozialen Aufgaben dem Staat überbürdet werden. Solidarität lässt sich letztlich nicht delegieren. Das wäre zu billig.

«Wädi rollt» - Gratis Veloverleih auf dem Platz vor dem Coop.

POLITIK MIT PROFIL UND LEIDENSCHAFT

Politikerinnen und Politiker haben das Privileg, sich einzumischen und über Sachen zu reden und zu entscheiden, von denen sie nicht zwingend sehr viel verstehen müssen. Kompetenz mag ihnen manchmal abgehen. Mindestens über eine Eigenschaft sollten sie jedoch verfügen: Sie müssen Profil haben. Sie müssen engagiert und leidenschaftlich für ihre Sache kämpfen. Politik ist ein ungünstiger Ort, Harmoniebedürfnisse zu befriedigen. Auch Konsenssüchtige haben es schwer. Politik darf nicht beliebig sein, sonst verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Politik heisst miteinander zu streiten, zu kämpfen, anderen Meinungen zu widerstehen, deutlich Stellung zu beziehen für grundlegende Werte und Überzeugungen. Ein englisches Sprichwort sagt: «Wenn du die Hitze nicht erträgst, dann verlasse die Küche.» Das gilt in besonderem Ausmass auch für die Politik. Wer Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen will, ist Fehl am Platz. Zu Recht. Denn auch der Gemeinderat Wädenswil ist keine Wohlfühl-Gruppe.
Diese Haltung kann allerdings auch zu Auswüchsen führen. In Wahl- und Abstimmungskämpfen wird polemisiert. Der politische Kontrahent wird in die Pfanne gehauen. Gegenseitiges Ausgrenzen und Anschwärzen führt zu Misstrauen und Stillstand. Auch in Wädenswil haben wir schon erlebt, wie ganz wenige das ganze politische Klima vergiften können. Gleichzeitig können ein paar wenige engagierte Persönlichkeiten Chancen packen, einen ganz anderen Weg zu beschreiten, wirklich profiliert zu politisieren. Denn Profil haben, bedeutet für mich viel mehr als nur Farbe zu bekennen. Profil haben, heisst für mich ebenso die Verpflichtung, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, auch gegen eigene Interessen. Dazu gehören genügend Rückgrat und ein langer Atem. Es bedeutet, gegenseitige Aufmerksamkeit, Respekt und Achtung zu leben. Streiten ist notwendig, oft sogar Pflicht, aber bitte fair. Streiten ist nur möglich mit einem Bekenntnis zum Dialog. Wer Profil hat, spielt auf den Ball und nicht auf die Frau oder den Mann. Wir müssen bestrebt sein, Anliegen und Ziele anderer besser zu verstehen und gemeinsam, über Parteigrenzen hinweg, neue Ideen und Lösungswege zu entdecken. Das kann dazu führen, eigene Vorstellungen aufzugeben, zu verlieren zugunsten anderer. Was wir brauchen, ist ein geschwisterlichen Umgang miteinander. Ich bin überzeugt, dass dies Impulse auslöst und Lösungen ermöglicht, die vorher nicht denkbar gewesen wären. Das erfordert aber eine neue Sichtweise, eine neue Mentalität. Lassen wir uns an diesem Anspruch messen! Mittelmass reicht nicht aus. Für das Ziel müssen wir uns mehr anstrengen. Wir stehen in der Verantwortung.

VERANTWORTUNG WAHRNEHMEN UND VERTRAUEN SCHAFFEN

Während meinem Präsidialjahr habe ich ausführlich davon Gebrauch gemacht, die verschiedenen Kommissionen bei der Behandlung von Sachgeschäften oder bei Einbürgerungsgesprächen zu besuchen. Der sachliche Ton und das Engagement der Kommissionspräsidenten und der Mitglieder haben mich beeindruckt. Keine stadträtliche Vorlage ist einfach durchgewinkt worden; die Kommissionen haben sich vertieft mit den Geschäften auseinandergesetzt, auch dann noch, wenn die Grenzen unseres Milizsystems offensichtlich geworden sind. Gerade dem Parlament obliegt es, sozusagen stellvertretend für die Bevölkerung, Stadtrat und Verwaltung in ihrer Aufgabe kritisch und konstruktiv zu begleiten und zu überwachen. Das beinhaltet auch Knochenarbeit, die Biss und Ausdauer erfordert. Hier erkenne ich durchaus noch Steigerungspotential. Denn Umfragen in der Bevölkerung machen es deutlich: Das Vertrauen in die Politik schwindet mehr und mehr. Politikerinnen und Politiker würden an den Bedürfnissen des Volkes vorbei regieren, heisst es. Schlimmer noch: Sie seien auf ihre Eigeninteressen bedacht und nähmen es mit der Wahrheit nicht allzu genau. Solche Aussagen müssen uns zu denken geben und uns gleichzeitig anspornen, immer wieder das Gegenteil zu beweisen. Als Parlament stehen wir im Scheinwerferlicht. Wir haben eine erhöhte Verantwortung – bei dem, was wir tun und mindestens ebenso, wie wir etwas tun. Persönliche Integrität und Glaubwürdigkeit sind also angesagt.



Beat Wiederkehr, Gemeinderatspräsident 2006/07