Dr. Med. Robert Epprecht - der erste Arzt der Au

5. März 1926 – 1. Februar 2007

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2007 von Peter Weiss

Als ich Röbi Epprecht einmal fragte: «Weisch Du au, dass Du sit Jaarhunderte der erscht Tokter bisch, wo sich i der Au nider glaa hed?», gab er mir zur Antwort: «Ja, und Du der erscht Pfaarer.» Bei seiner Praxiseröffnung im Jahre 1966 und in den folgenden Jahren erlebte die Au eine ungeahnte Bautätigkeit. Wohnten 1966 in den Siedlungsschwerpunkten Oberort/Gwad, Mittelort und Unterort insgesamt 718 Personen, so waren es im Jahre 1975 bereits 2840. Viele von ihnen begleitete Robert Epprecht vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter und stand ihnen mit seiner ärztlichen Kunst und seinem ausgesprochenen Einfühlungsvermögen bei. Als er am 30. Juni 1994 seine Praxistätigkeit beendete, konnte er auf 28 Jahre erfolgreichen Wirkens zurückblicken. «Viele meiner Patienten habe ich während mehr als einem Vierteljahrhundert betreut. Es fällt mir nicht leicht, von ihnen Abschied zu nehmen. Ich danke allen herzlich für ihr Vertrauen und ihre Anhänglichkeit.» Umgekehrt war die Dankbarkeit Unzähliger für sein ärztliches Können, für seinen unermüdlichen Einsatz, für seine ausgeglichene und verständnisvolle Art wie auch für seine liebevolle Fürsorge überaus eindrücklich.

HERKUNFT

Sein Vater, Robert Epprecht, war Gemeindepfarrer an der Bühlkirche in Zürich-Wiedikon. «Ein klarer, unbestechlicher Intellekt, eine praktische und phrasenlose Art, eine seelsorgerliche Güte und Klugheit und eine unbeirrbare Treue im Kleinen wie im Grossen bestimmten sein Wirken. ... Vor allem aber war Robert Epprecht Feldprediger. Der Feldprediger schlechthin. ... Wie er zum Soldaten zu sprechen wusste, wie er dessen Sorgen nüchtern und praktisch erfasste, wie er jedem nachging, von dem er nur irgendwie wusste oder ahnte, dass ihn der Schuh drückte, wie er in sich selbst völlig unverkrampft und überzeugend die Einheit von schweizerischem Christen und Soldaten verkörperte, machte tiefen Eindruck.» (NZZ 27./28 März 1976).

Seine Mutter Paula, eine geborene Wyssling, wuchs von ihrem vierten Lebensjahr an im Chalet an der Schönenbergstrasse 38b in Wädenswil auf. Ihr Vater, Walter Wyssling, ein führender Kopf in der aufkommenden Elektroindustrie, Professor und Rektor der ETH Zürich, Oberst und Brigadekommandant, wurde auf den 1. April 1894 zum technischen Direktor und Bauleiter für das Kraftwerk Waldhalde an der Sihl verpflichtet. Zu diesem Grossvater hatte Röbi Epprecht eine sehr enge Beziehung und genoss seine Ferienaufenthalte in Wädenswil überaus. Im Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1995 schildert er gemeinsame Besichtigungen von Kraftwerkbauten, Zugfahrten durch Kehrtunnels, eine Wanderung auf der Gotthard Südrampe, alles mit pädagogischen Absichten verbunden.

Das Chalet an der Schönenbergstrasse, 1913.

Liebevoll erwähnt er auch grossväterliche Ansichten und Eigenheiten. «In der Obhut des Grossvaters fühlten wir uns geborgen und sicher; wir hatten ihn gern. Es war uns auch ganz selbstverständlich, dass er oft als einziger Fleisch bekam, war er doch schliesslich unbestrittener Herrscher der Tafelrunde.»

Familie Wyssling vor dem Chalet in Wädenswil, 1913.
Von Links: Luise * 1889 (Frau von Pfarrer Meier, «Tante Muus»), Vater Walter Wyssling * 1891, Mutter Luise Wyssling-Witt, Walter Wyssling, Paula * 1890 (Frau Pfarrer Epprecht), Margaretha * 1901, stehend (Frau Prof. Frey-Wyssling * 1897 (Frau Dr. med. Helene Wyssling).

KINDER- UND SCHULZEIT

Robert Konrad Ulrich Epprecht wurde zusammen mit seiner Zwillingsschwester Elisabeth am 5. März 1926 in Zürich geboren. Die Familie wohnte damals in der Pfarrwohnung der Zwinglikirche an der Aemtlerstrasse in Zürich-Wiedikon. Zusammen mit vier älteren Brüdern und seiner Schwester erlebte er eine von zwinglianischer Einfachheit geprägte, aber glückliche Jugendzeit. Nach seiner Primarschulzeit im Zurlindenschulhaus trat Robert Epprecht in die Kantonsschule ein.
Anfangs Mai 1941 bezogen die Epprechts das geräumige Pfarrhaus an der Wiedingstrasse 3. Ein besonders eindrücklicher Tag für den jungen Gymnasisten war der 4. Juni 1941 mitten im Zweiten Weltkrieg, als alle drei Abteilungen der Zürcher Kantonsschule das 650-jährige Bestehen der Eidgenossenschaft auf der Rütliwiese feierten. Die Mitteilung, dass der turnerische Vorunterricht an der Kantonsschule zum Obligatorium erklärt worden war, wurde mit starkem Applaus begrüsst. Anschliessend hielt Vater Robert Epprecht in Feldpredigeruniform den über 2000 anwesenden Schülern mit ihren Professoren und dem Erziehungsdirektor eine «kurze, gehaltvolle Ansprache in frischem Züritütsch», die «mit stürmischem Beifall» aufgenommen wurde. «Im gemeinsamen Gesang der Landeshymne bekräftigten die Kantonsschüler ihren festen Glauben an die Heimat und an die freiheitlichen und humanen Ideale der Schweiz» (NZZ).

Die Eltern.

Die beiden Extra-Raddampfer brachten die riesige Gesellschaft bei strahlendem Wetter zur Verpflegung nach Vitznau und Weggis und zurück nach Luzern, von wo sie in zwei Extrazügen nach Zürich heimkehrte.
Nach den ersten beiden Gymnasialjahren trat Röbi Epprecht in die Klasse 3L mit Latein und Griechisch ein. Einer seiner Klassenkameraden war Peter Henrici, der spätere Weihbischof von Zürich. Mit der Zeit erkannte Röbi Epprecht, dass diese sprachlastige Ausbildung seinen doch eher naturwissenschaftlichen Begabungen nicht entsprach und wechselte an die «Neue Schule Zürich», die er mit der Eidgenössischen Maturität abschloss.
 

Ein Bild das Robert Epprecht besonders liebte: sein Grossvater, Oberst Walter Wyssling, als Brigadekommandant mit seinem Stab (Fünfter von links).

AUSBILDUNG ZUM ARZT

In Zürich studierte er an der Medizinischen Fakultät mit grossem Interesse und sichtlicher Freude. Aus jener Zeit sind auch Karikaturen von Professoren erhalten, die Röbi eigenhändig angefertigt hatte. 1950 zog er für ein Semester nach Paris, wo er in der von Le Corbusier gebauten Fondation Suisse logierte und mit Kollegen zahlreiche Ausflüge unternahm. Nach dem Pariser Semester betätigte er sich als Schiffsjunge auf dem Lastkahn «Piet Hein» der Familie Korporaal. Am 29. Mai 1953 erhielt er das Eidgenössische Arztdiplom, unterzeichnet von Bundesrat Philpp Etter. Er bildete sich als Assistent unter anderem an der Dermatologischen Universitätsklinik Zürich weiter und war 1955/56 am Spital in Ilanz tätig – eine überaus anstrengende Zeit mit häufigem zusätzlichem Nachtdienst wegen der zahlreichen Geburten. Anschliessend wohnte Robert Epprecht mit seiner jungen Familie in Wädenswil bei Tante Lehne (Frau Dr. med. Helene Wyssling) im Chalet an der Schönenbergstrasse, bis er 1957 in Weisslingen im Zürcher Oberland seine erste eigene Praxis eröffnete.
 

Professoren an der Medizinischen Fakultät, karikiert von Robert Epprecht. Stresemann, Löffler, Pfaffhuser.

FAMILIE

Es war 1951, das erste Zürifäscht, an welchem die 600-jährige Zugehörigkeit Zürichs zur Eidgenossenschaft gefeiert wurde. Eine Cousine aus Burgdorf, die einige Studenten kannte, nahm Liselotte Stamm aus Wädenswil mit. Auf dem Platz vor dem Fraumünster wurde eifrig getanzt. «Zuerst habe ich mit allen getanzt, dann nur noch mit Röbi.» Es war Liebe auf den ersten Blick. Am 26. Juli 1953 feierten die beiden Verlobung, am 5. Februar 1954 liessen sie sich in der Wasserkirche von Vater Robert Epprecht unter dem Aaronssegen (4. Mose 6,24) trauen. Drei Kinder wurden ihnen geschenkt: Thomas Konrad (1955), Peter Ulrich (1956) und Katharina Elisabeth (1961). Die Familie bedeutete Robert Epprecht sehr viel. Er begleitete die Seinen mit viel Fürsorge, Hingabe und Liebe. Die Gemeinschaft der Familie wurde so zu einem Ort, an dem Kinder wie Enkelkinder Geborgenheit fanden, viel innere Kraft bekamen und ein starkes Vertrauen zum Leben gewannen. Als die Schwiegertochter Licia infolge eines unheilbaren Krebsleidens ihren beiden Buben Lorenz und David im Alter von sechs und drei Jahren entrissen wurde, nahmen die Grosseltern all ihre Kräfte zusammen, um den beiden Enkeln ihrerseits nach Möglichkeit Halt und Heimat zu geben.

Verlobung, 26. Juli 1953.

Auch die beiden Enkelinnen Alyssa und Sophie waren mit ihrem «Nonno» in herzlicher Liebe verbunden. Unvergesslich die Familien-Weihnachtsfeier, an der Robert Epprecht jeweils die Geburtsgeschichte Jesu aus dem Lukas-Evangelium vorlas, während ihm ein Kind oder Enkelkind mit einer Kerze Licht gab. Sein mit Zeichnungen versehener kurzer Rückblick unter dem Titel «Ein halbes Jahrhundert goldene Jahre mit Liselotte» endet mit dem Satz: «Aus unserer Liebe ist eine grosse Familie geworden.»
 

TÄTIGKEIT ALS HAUSARZT

Die Praxis in Weisslingen bei der Kyburg war eine richtige Landarztpraxis, untergebracht in einem ehemaligen alten Bauernhaus mit hübschem Garten. Weit gefächert waren die Ansprüche, denen Robert Epprecht zu genügen hatte. Nicht nur besuchte er die Patienten mit seinem Auto Marke DKW auf den verschiedenen Höfen, er war es auch, der im Garten vor seinem Sprechzimmer einen Beinbruch gipste. Dank seinem hervorragenden Können und seinem zugänglichen Wesen fand er rasch den Kontakt zu den verschiedenen Menschen und gewann ihr Vertrauen. 1965 erwarb er noch das Diplom als Arzt für allgemeine Medizin FMH. Dass der Arzt in Zeiten der «Metzgeten» auf den Bauernhöfen nicht leer ausging, braucht kaum besonders erwähnt zu werden. 
1965 begann er mit dem Bau eines Wohnhauses mit eingegliederter Praxis an wundervoller Lage gegenüber dem Auhügel im Mittelort in der Au, das 1966 bezugsbereit war.
Nun begann eine Zeit intensiver ärztlicher Tätigkeit in dem rasant aufstrebenden Gemeindeteil von Wädenswil. Ganze Familien begleitete er als kundiger Arzt, einfühlsamer Berater und Seelsorger. Eines der schönsten Erlebnisse war für ihn jeweils, wenn ein Kind, das er von Geburt an kannte, das erste Mal selbständig zu ihm in seine Praxis kam. Er war ein ausgezeichneter Diagnostiker, der dank einem feinen Gespür Zusammenhänge zu erkennen vermochte, die technisch noch so raffinierte Apparaturen niemals erfassen konnten. Auch nahm er sich für alle viel Zeit, strahlte eine tiefe Ruhe aus und wirkte nie gestresst oder aufgeregt. Der Dienstagnachmittag war jede Woche für Hausbesuche reserviert. Wurde er nachts gerufen, so war er in kürzester Zeit bei den Hilfe Suchenden.
In seiner anspruchsvollen Tätigkeit wurde er von seiner Frau Liselotte vorbildlich unterstützt und seine Arztgehilfin, Karin Schindler-Stalder, die «Karin aiuto», wie er sie nannte, stand ihm während zwölf Jahren ohne einen einzigen Tag zu fehlen, effizient, treu und verschwiegen zur Seite.
Die Kunst der Akupunktur, mit der er sich in zahlreichen Kursen vertraut machte, öffnete ihm zudem neue und alternative Wege der Heilung.
 

Robert Epprecht - der Arzt.

ÖFFENTLICHES ENGAGEMENT

Neben seinem beruflichen Einsatz übernahm Röbi Epprecht auch Verantwortung in öffentlichen Gremien. Von 1970 bis Ende 1994 war er Mitglied des Betriebsausschusses und des Stiftungsrates des Spitals Wädenswil, wo er sich jeweils sehr für die Anschaffung zweckmässiger moderner Geräte und Apparate einsetzte. Im Vorstand des Pestalozzivereins Wädenswil wirkte er von 1967 bis 2001 mit. Prof. Dr. h.c. Peter Ziegler, der in beiden Institutionen den Vorsitz inne hatte, schreibt:
«Er unterzog sich also gleich zweimal meinem Präsidium! Während beiden Sitzungen, im Spital oder für den Pestalozziverein im „Engel“, zeichnete Robert Epprecht unaufhörlich. Verziert wurden die Sitzungseinladungen und im „Engel“ auch etwa die Getränkekarte. Zuerst an den Rändern des Einladungstextes, dann in langen Sitzungen auch auf der Rückseite des Blattes entstanden Ornamente, Architekturelemente; und sehr häufig porträtierte der talentierte Zeichner andere Vorstandsmitglieder. Es schien, als konzentriere er sich dabei ganz auf sein Kunstwerk und habe alles um sich vergessen.
Aber plötzlich legte er den Stift zur Seite, griff in die Diskussion ein und brachte das Geschehen mit überzeugenden Argumenten auf den Punkt. Im Sitzungszimmer des Spitals herrschte schon damals Rauchverbot. Aber im „Engel“ war das Rauchen erlaubt, und so griff denn Röbi Epprecht mit Genuss zu seiner ihn kennzeichnenden Pfeife. Ich habe Röbi als geraden, anregenden, hilfsbereiten und vielseitig begabten Begleiter in Erinnerung.»
Einige Jahre war Robert Epprecht auch Präsident des Quartiervereins Au, deren Versammlungen er jedem Formalismus abhold mit Humor und Güte und der Pfeife in der Hand leitete.
Als es am 2. Oktober 1997 darum ging, eine mit dem Wappen der Au versehene Lokomotive der S-Bahn zu taufen, amtete Robert Epprecht als Götti und zerschlug die Champagnerflasche mit sichtlichem Vergnügen am starken Patenkind.
 

Als Loki-Götti kurz vor der Taufhandlung.

HANDWERKLICHES GESCHICK UND REICHE GEDANKENWELT

Als Ausgleich zu seiner beruflichen Arbeit fertigte Röbi Epprecht in seiner Schreinerwerkstatt vor allem für seine Kinder und Enkelkinder selbst entworfene Möbelstücke und Truhen an, die meisten mit einem Geheimfach versehen. Von seinem handwerklichen Können zeugen auch die Stabellen, in deren Rücklehne er in sorgfältiger Arbeit das Epprecht-Wappen als Intarsie einfügte.
Zu erwähnen ist auch das Alpenpanorama, das er mit Hilfe eines Theodoliten vom Dach seines Hauses aus erstellte, drucken liess und an zahlreiche Freunde und Patienten verschenkte, ebenso kannte er sich in den Sternbildern aus.
Die Spannweite seines Denkens und Fühlens, seines Träumens und Empfindens, seiner Phantasie und Vorstellungskraft kannte kaum Grenzen. Unermüdlich suchte er nach dem, – wie Goethe es einmal formuliert hat – «was die Welt im Innersten zusammenhält». Nicht nur erzählte er seinen Kindern und Enkelkindern phantasievolle, selbst erfundene Geschichten, stets brach er selber immer wieder auf, neue Erkenntnisse zu gewinnen, und versuchte, geistige Dimensionen in Worte zu fassen, um dadurch mehr Klarheit zu finden. Gott war für ihn die Quelle und der Ursprung allen Lebens, ja das Leben selbst. In dieser Überzeugung wurzelte seine tiefe Ehrfurcht vor allem Leben. Alles, Pflanzen, Tiere, Mitmenschen sind für ihn Teil dieser göttlichen Einheit, und es ist unsere Bestimmung, alles Leben zu achten und ihm mit Liebe zu begegnen. Daher seine innige Beziehung zu seinen Angehörigen, seinen Patienten und Mitmenschen, aber auch zu allen Tieren, seinem Pferd «Broc» wie seinem Hund «Bingo», den Igeln und Nachbarskatzen, die bei ihm zu Besuch kamen, wie auch zu allen Blumen, Pflanzen und Schmetterlingen, deren Schönheit er in unzähligen wundervollen Farbfotos festgehalten hat. Über dem gewaltigen Spannungsbogen von sichtbarer und unsichtbarer Welt, von Diesseits und Jenseits, von Geist und Materie und über allen Gegensätzen im menschlichen Leben stand für ihn die Liebe. Sie war für Robert Epprecht das, was die Welt im Innersten zusammenhält, und die Quelle, aus der er so reichlich schöpfen und weiterschenken konnte.

Reise mit dem Glacier-Express anlässlich Röbis 60. Geburtstag, 1986.

Mit Enkel David, Weihnachten 1992.

Auf «Broc» unterwegs.



Peter Weiss