SCHÄRME, EIN «DACH ÜBER DEM KOPF»

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1992 von Trudi Rota

Die Drogenproblematik, das Elend, das sich vor allem am Zürcher Platzspitz so offensichtlich zeigte, beschäftigte uns alle, und es war und ist unbestritten, dass es so nicht weitergehen kann. Vorarbeiten zur Entlastung der Stadt Zürich und zur Lösung und Bewältigung der Probleme auf Bezirksebene waren eingeleitet. Als die Stadt Zürich kurzfristig die Schliessung des Platzspitzes anordnete und die Rückführung der Drogensüchtigen in die Wohngemeinden anstrebte, entschlossen sich Sozialbehörde und Sozialdienst, in Wädenswil als Sofortmassnahme einen Versuch mit einer auf vier Monate befristeten NotschlafsteIle zu machen. Im Rahmen der dezentralen Drogenhilfe sollten damit drogenabhängige, obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene aus unserer Gemeinde und dem Bezirk Horgen über die kalte Jahreszeit einen geschützten Ort, ein «Dach über dem Kopf», erhalten.
Nach der Gewährung der notwendigen finanziellen Mittel durch das Gemeindeparlament konnte das Pilotprojekt verwirklicht werden. So machte sich die aktive Betriebsgruppe − Vertreter aus Sozialbehörde, Sozialdienst und Kirchgemeinden − an die Arbeit. Sie konnte dabei die Erfahrungen bereits bestehender NotschlafsteIlen nutzen. Dank dem Entgegenkommen des Liegenschaftenbesitzers war es möglich, an der Oberdorfstrasse 28 aus den Räumen zweier Notwohnungen den notwendigen Raum für den «Schärme» bereitzustellen. In einem Grosseinsatz wurden die Räume bewohnbar gemacht und eingerichtet. Überaus erfreulich war auch die Suche nach freiwilligen Helfern. Über 100 Freiwillige, zum grossen Teil aus kirchlichen Kreisen, waren bereit, zusammen mit der von der Stadt Wädenswil angestellten Koordinatorin, die Betreuung im «Schärme» zu übernehmen. Sie wurden an zwei Abenden durch einen Arzt und durch die Koordinatorin sorgfältig in ihre Aufgaben eingeführt. Zudem wurden zwei Weiterbildungsabende zur Suchtproblematik organisiert. Zwei Tage vor der Eröffnung hatten die Nachbarn Gelegenheit, die NotschlafsteIle zu besichtigen. In vielen Gesprächen wurden Ängste und Bedenken offenbart − sie konnten zum Teil auch abgebaut werden − , und es kam viel Wohlwollen den jungen Menschen gegenüber zum Vorschein.
So öffnete der «Schärme» am 9. Januar 1992 seine Türen. Es standen zehn Schlafplätze und zwei Notbetten zur Verfügung. Im Laufe der Zeit wurde das Angebot aus betreuerischen Gründen um zwei Betten reduziert. Während der viermonatigen Versuchsphase fanden 63 junge Mitmenschen, hauptsächlich Männer, im «Schärme» eine Unterkunft (relativ wenige kamen aus unserem Bezirk). Sie wurden von den über 100 Freiwilligen, die ohne Entschädigung am Projekt arbeiteten, betreut und ein Stück ihres Weges begleitet. Sehr erfreulich war, dass sich fast gleich viele Männer wie Frauen für diesen Dienst am Nächsten zur Verfügung stellten (im sozialen Bereich eine eher seltene Erscheinung). In drei Schichten wurden die Einsätze von abends 20 Uhr bis morgens 10 Uhr geleistet. Die Freiwilligen hatten keinen therapeutischen Auftrag. Ich hoffe aber, dass ihre unkomplizierte Hilfe und die mitmenschliche Begleitung im einen oder anderen der Jugendlichen den Wunsch nach einem Neubeginn geweckt haben. Die Betreuer hatten aber auch die Hausordnung durchzusetzen, wahrlich kein leichtes Unterfangen mit Menschen, die schon längere Zeit auf der Gasse lebten. Ihnen oblag im Weiteren, den bescheidenen Unkostenbeitrag von einem «Fünfliber» für eine Übernachtung mit Abend-und Morgenessen einzuziehen.
Kochnische in der Notschlafstelle «Schärme» an der Oberdorfstrasse.
Im Haus Oberdorfstrasse 28 war vom 9. Januar bis 30. April 1992 die Notschlafstelle «Schärme» untergebracht.

Am 30. April 1992 hat der «Schärme» an der Oberdorfstrasse, wie vorgesehen, seine Türen geschlossen. Ich danke allen, die das Pilotprojekt mitgetragen und bei dieser Aufgabe mitgearbeitet haben. Wie sehr die Freiwilligen mit ihren Aufgaben verbunden waren, zeigt, dass sie sich in einem Verein zusammenschlossen und den «Schärme» in der Liegenschaft Zugerstrasse 52 mit finanzieller Unterstützung der Stadt und der Kirchgemeinden sowie Spenden aus der Bevölkerung weiterführen.
Sozialbehörde und Sozialdienst werden den viermonatigen Versuch nun auswerten und Vorschläge für längerfristige Lösungen im Rahmen der dezentralen Drogenhilfe ausarbeiten. Ziel wird sein, den in Not geratenen Jugendlichen bestmöglich zu helfen und sie, wenn immer möglich, aus der Drogenabhängigkeit zu befreien. Unser «Schärme» war ein kleiner Anfang dazu.
 




Trudi Rota,
Sozialvorsteherin