Wädenswiler erzählen aus ihrer Jugendzeit

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1981 von Peter Ziegler
Viele Erinnerungen bleiben an jene Tage wach, da der Zürichsee zugefroren war. Nächtliche Stimmung auf dem Eis vor Wädenswil, 1914.

Es ist immer reizvoll, älteren Leuten zuzuhören, wenn sie Jugenderinnerungen erzählen. Manch köstliche Episode wird da berichtet, die in keinem Protokoll aufgezeichnet steht und darum auch rasch wieder vergessen geht. Halten wir einige Erinnerungen heute bereits verstorbener Wädenswiler fest. Die Aufzeichnungen geben Einblick in das Leben in Wädenswil zwischen 1870 und 1930.




Peter Ziegler




Wie es in den 1880er Jahren an der Zugerstrasse aussah

wusste der Wädenswiler Fabrikant Paul Blattmann (1869–1947) zu beschreiben: «Der Dorfbach war zwischen Türgass und Hirschen und längs der Gerbestrasse bis zum See mit Steinplatten eingedeckt. Da er alle Dohleneinläufe aufnahm, gab es hier nebst schlechten Ausdünstungen auch viel Ungeziefer, besonders Ratten. Ich erinnere mich noch gut an die Rattenplage in den Kellern. Als in der «Hirschen»-Metzgerei einmal der Boden repariert werden musste, kamen 16 Ratten zum Vorschein.
Da wo sich heute an der Zugerstrasse das Geschäftshaus «Nordmann» erhebt (jetziges Haus «Linde»), stand in den 1880er Jahren ein altes Wädenswiler Haus. Es wurde vom Schuhmacher Lieni bewohnt. Wir Buben an der Zugerstrasse hatten im dortigen Umgelände gute Spiel- und Versteckisgelegenheit. Dadurch kamen wir aber oft mit dem Schuhmacher in Konflikt. Abends schnitten wir ihm heimlich an den Zugjalousien die Schnüre ab, und am andern Morgen hiess es dann, «de Lieni sei hine use gheit, wo-n-er d Balleschnüer zoge heb». Längs des damaligen Dorfbaches, hart beim «Ochsen», standen alle dreissig Meter runde, oben abgeflachte Säulensteine. Die Lieni-Buben konnten darauf den Kopfstand oder Handstrand machen. Und wenn etwa Passanten vorbeigingen, wurden sie angegangen, und für einen Fünfer konnte man den Kopfstand sehen.
Gegenüber dem Haus zur alten Kanzlei erhoben sich das «Liebegg», dessen Wirtschaft und Tanzsaal nicht mehr benutzt wurden, und das «Rössli». Da wo heute die Rosenbergstrasse in die Zugerstrasse einmündet, stand ein Brünneli, von wo aus man zum damals noch tiefer stehenden Haus «Schwanen» und dann seewärts wieder zu einem laufenden Brunnen gelangte: zum sogenannten «Gnadenbrünneli». Weiter unten lagen das «Schwyzerhüsli», der «Ochsen», die Liegenschaft «Zur Ceder», das Haus des Krämers Schenkel und der «Gasthof Hirschen», Die linke Seite der Zugerstrasse war also schon stark überbaut. Auf der rechten aber standen nur fünf Häuser: die alte Kanzlei, das Kleiner-Haus (heute Bäckerei Ryser), die Apotheke, das alte Lindenhaus (heute Sparkasse) und der «Florhof».
Am Hirschenplatz um 1900. Links der Gasthof «Hirschen», gegenüber der «Florhof».

Das ganze angrenzende Areal bis zum Kleiner-Haus bestand aus grünen Wiesen. Mittendurch zog sich der Kreuzweg, welcher hauptsächlich zum Kinderwagenstossen benützt wurde. Oft liessen wir aber die Wagen stehen und spielten auf Schreiberhauptmann Eschmanns Wiese. Hier wuchsen auch gut tragende Apfelbäume, besonders ein grosser Paradiesli-Apfelbaum. Wenn die Chilbizeit nahte, waren wir gute Kunden dieses Baumes: mit wohlgezielten Steinen warfen wir die willkommenen Früchte herunter. Schreiberhauptmann Eschmann, der das grosse Haus hinter der alten Kanzlei bewohnte, kam dann oft in seinen grossen Rohrstiefeln dahergerannt, mit einem Prügel in der Hand. Erwischt hat er uns Buben natürlich nicht. − Oberhalb der Kanzlei, da wo jetzt das Glärnischschulhaus steht, dehnte sich ein grosser Rebberg aus. Als dieses Land noch dem Schreiberhauptmann gehörte, durften wir hier dann und wann wümmen helfen.

Seebuben

Die Wädenswiler Buben waren in drei Gruppen eingeteilt. Man unterschied die Engel-Buben, die Giessen-Buben und jene aus der Türkei: die Seferen-Buben. «Türggei» hiess der damalige Häuserkomplex unter dem heutigen Tiefenhof, wo 28 Wohnungen aneinandergebaut waren. Das Revier der Türkei-Buben erstreckte sich dorfwärts bis zur alten Säge am Sagenrain. Mit den Knaben aus dem Giessen, welchen der Rothaus-Hafen, das Brauerei-Areal und der «Boller» gehörte, gab es oft Differenzen und Händel. − Unser Hauptspielplatz war der Platz beim «Engel».
Fischende Knaben auf der Haabmauer beim Dampfschiffsteg Wädenswil. Postkarte von 1927.

Hier wurde, oft bis ins Dorf hinauf, Räuberlis gespielt. Dort wo der Dorfbach in den See mündet, lag der Hauptfischerplatz. Wir fischten sehr häufig. Jeder wollte eine längere Rute haben. Ich erinnere mich noch gut, wie Jakobli Schärrer vom «Engel» bis zum Blattmannrain (heute Lindenstrasse) eilte und der Mutter beim «Ochsen» zurief: «Mach Wasser parad, i hä zwee Fisch im Nastuech, wo na zappled!»

Häusliches Leben

Mit der Wasserversorgung stand es nicht so einfach wie heute. Die Häuser hatten Sodbrunnen und ausserhalb des Hauses oder beim Schüttstein eine Wasserpumpe. Wenn wir aus der Schule kamen, hiess es Wasser in die KupfergeIte pumpen, dann Ligroinlichter und Petroleumlampen putzen. Am Samstagnachmittag mussten wir Holz sägen und spalten und die Scheiter auf den Estrich tragen. Gasherde gab es noch keine. Bei offenem Fenster schlief man nicht. Es hiess nämlich, die Nachtluft sei ungesund, und besonders die älteren Frauen gingen nur mit Nachthauben ins Bett. Die Kinder wurden in Tragkissen herumgetragen, furchtbar dick eingewickelt. Und wenn dann in der Stube frisch gewickelt wurde und die Windelgerüche vernehmlich waren, dann lüftete man nicht, sondern dann sagte die Mutter: «Gang i d Appiteegg und hol es Rauchzäpfli!» Dieses stellte man auf den Tisch und zündete es an. Ganz langsam verglimmend, brachte es bessere Luft in die Stube.
Natürlich konnten wir auch nicht so viel schlecken wie die heutige Jugend. Schokolade gab es noch keine; dagegen Bärendreck, Süssholz und Johannisbrot und ab und zu auch saure Zeltli oder Feuersteine.
Die von Paul Blattmann geschilderten Lebensverhältnisse im alten Wädenswil können mit einigen Jugenderinnerungen des Wädenswiler Bundesrates Robert Haab ergänzt werden. Er äusserte sich im Jahre 1925 − anlässlich seines 60. Geburtstages − in einer Rede wie folgt:
«Meine erste Jugend fällt noch in ein eisenbahnloses Wädenswil. Der See, der noch vielerorts bis an die Seestrasse reichte, war unser hauptsächlichstes Verkehrsmittel. Damals zogen wir Jungen die Badehosen tagsüber nicht aus. Man badete bald im Hinterdorf, bald beim alten Steinhof und liess sich auf den warmen Steinplatten von der Sonne trocknen. Wasserversorgung, Gas und Elektrizität waren noch unbekannt. Das Wasser musste von uns gepumpt und in die Küchen getragen werden. Die ÖIIampe wurde gerade von der ersten sogenannten Steinölbeleuchtung und dem Ligroinlicht abgelöst; der Milchkaffee wurde im Winter im Pruntrutergeschirr im Ofen gekocht, ebenso die «Chostsuppe» und das Sauerkraut und Schweinefleisch am Sonntag. An Weihnachten und am Geburtstag gab es eine Pomeranze, die man von der sogenannten Tirolerin kaufte, die mit ihren guten Dingen zweimal im Jahre erschien. Schreibpapier, Bleistifte und Federn nahm man dem stummen Hausierer Abraham ab, über welchen allerlei seltsame Gerüchte zirkulierten. Damals gab es noch dorfbekannte. harmlose und weniger harmlose Originale, die wir Kinder je nach ihren Eigenschaften neckten oder fürchteten. Der Gipfel der Genüsse war für uns eine Vorstellung der alten Gebrüder Knie oder des Vater Sebold mit seinen sieben Söhnen.»
In den Jahren 1940/41 hat auch ein damals Achtzigjähriger, der am 1. Februar 1861 im Büelen geborene Emanuel Meier, ausführliche Erinnerungen an seine Jugendzeit notiert. Lassen wir ihn über seine
 

Erlebnisse bei den Kadetten

berichten! «Während meiner Sekundarschulzeit war ich Kadett mit lederner Kappe. Als Instruktoren amteten damals Hauptmann Schnyder zum Morgenstern und Leutnant Hermann, Litograph am «Plätzli». Im «Geren» wurde exerziert und geschwitzt nach Noten, vor allem bei der Übung der Kavallerieabwehr. Glaubte man einem Dragonerangriff standhalten zu müssen, so drehte sich das ganze Korps in höchster Eile spiralig um den Führer. War der Knäuel perfekt, so warf sich der äusserste Ring platt auf den Bauch, die Mittleren knieten, und der Kern stand rund um die Fahne. Alle aber, ob liegend, kniend oder stehend, stemmten ihre Vetterli-Gewehre ein, mit aufgepflanztem Bajonett.
Bei einer Gefechtsübung in der Gegend der Lölismühle galt es, kühn über einen Bach zu setzen. Männiglich wagte den kühnen Sprung. Nur der lange, feingliederige Korporal Schangli Brupbacher glaubte, die Sache in zwei Etappen erledigen zu müssen. Er wollte einen nassen, mit Algen überzogenen Stein im Bachbett als Sprungbrett benützen, plumpste dann aber samt Vetterli Gewehr ins Wasser.
Ich erinnere mich auch noch an ein Kadettenfest, an einen Truppen- oder Kadettenkorps-Zusammenzug. Bei der Schlussparade defilierten die Jungsoldaten der grösseren Ortschaften am Zürichsee vor dem als Inspektor funktionierenden Major Walter Hauser, dem nachmaligen Bundesrat. Wir schossen auch mit Armbrüsten, gaben blinde Salven ab und schossen scharf auf Scheiben, welche in der Rietliau im See draussen standen. Die guten Schützen erhielten Preise. Ich weiss noch, wie ich unschlüssig vor dem Gabentempel stand. Ein leeres Portemonnaie hatte ich schon, ein Taschenmesser ebenfalls. Also, was wählen? Einer der Preisrichter erbarmte sich meiner. «Wenn dir nichts gefällt, kannst du das Geld haben», und er drückte mir zwei Franken fünfzig Rappen in die Hand. Das Geld konnte ich beim Ankauf von Schulmaterial gut gebrauchen.»

Brief aus dem Welschland

Schon früher zog es junge Wädenswilerinnen ins Welschland. Sie wurden dort in die Haushaltarbeiten eingeführt und erlernten die französische Sprache. 1918 schrieb eine Tochter folgenden Brief aus dem Welschland an ihre Mutter in Wädenswil:
«In letzter Zeit nähte ich sehr viel, Hemdchen, Höschen (vestoniert), Unterröckli für Marly, ein Hemd für Madame, ein herziges Sommerkleidchen (brodiert) für eins der Betroffenen beim Brandunglück, doch alles von Hand, gar nicht auf der Maschine, denn unsere uralte Handmaschine ist ganz fertig. Meine Madame ist kein besonderer Arbeitsgeist, ja sogar ziemlich faul. Während ich die Mauslöcher in ihren katzgrauen Hemden stopfe, liest sie, schaut zum Fenster hinaus oder macht sonst nichts. Gestern zum Beispiel hat sie ausser den Betten am Morgen ganze zwei Knöpfe angenäht und diese erst noch, indem sie die Zeitung las; immer ein Stich und wieder ein Wort. Könnte Dir überhaupt viele solche Beispiele sagen, ja oft macht es mich fuchsteufelswild, diese Tagdieberei.
Und über das „Köch“, Mutter, möchtest Du etwas wissen; ja verwöhnt werde ich nicht. Vom Fleischessen gibt es keine Ausschläge! Seitdem ich hier bin, hatten wir jeden Sonntag 1 Pfund Gesottenes, das aber für die halbe Woche reichen musste. Zweimal am Sonntag Conservensalat, die Woche hindurch stets vegetarisch. Heute hat Mr. B. eine Wurst gekauft. Bei Euch kennt man sie nicht, ja, eine Art Schübling, etwas dicker und 20 cm lang (hier kauft man nur diese Wurstware, ist aber sehr teuer), und es wurde sofort gesagt, dass sie für drei Mittagessen reichen soll. Für drei Erwachsene, eine 20 cm lange Wurst für drei Mittagessen, könnt Euch denken, diese welschen Rügel!!!
Das Schlitteln bereitete der Jugend viel Spass, so auch jenen Kindern, die sich um 1905 am Sagenrain, bei der Einmündung der Florhofstrasse in die Seestrasse fotografieren liessen.

Möchtest Du mal das komplizierte Menu dieser Woche kennen lernen? Sonntag: Keine Suppe (die ich nur zu gerne alle Tage entbehren würde), ein Euch unbekanntes Gemüse und Fleischkonserven als Salat. Montag: Reissuppe, Kartoffelklötzli, fein knusperig im Fett gebraten und Salat. Dienstag: Meine Lieblingsspeise, Lauchmuus, ist das etwas! Jetzt geht es immer besser runter, doch als ich das erste Mal ass, wurde mir beinahe übel. Keine Volontärin hat das gern, doch die Welschen verschlingen das Gericht. Hier wird es in jeder Familie einmal pro Woche gekocht. Zuerst gibt es Suppe, dann Lauchmuus mit Brot. Mittwoch: Maissuppe und ein grünes Gemüse, Euch unbekannt, grosse grüne Blätter, die werden mit Kartoffeln gekocht und nur mit Brot gegessen. Donnerstag: Suppe (ebensolche gehackte Blätter, Wasser, Schnittlauch, Peterli) einzig! Makkaronen, Salat. Freitag: weiss nicht mehr! Heute Samstag: Kartoffeln im Fett, Salat und so gedorrte Juliennesuppe. Nach dem Mittagessen jeweils jedem noch eine Tasse Tee. Abends 6 Uhr: Kaffee, Milch, natürlich Griesspäppeli, Reispäppeli, gebratene Kartoffeln, Butter, soweit sie reicht, Käse, gewärmte Nudeln oder so etwas. Nein, Hunger muss ich nie haben, Brot haben wir genug, davon ich nehmen kann nach Belieben.
Badegelegenheit bis jetzt nicht. Die öffentliche Badanstalt ist geschlossen wegen Kohlenmangel. Ich wasche mich alle Samstage gründlich, allerdings ein Unterschied zum Baden Tag für Tag im See! Die Köpfe wird uns Madame nächste Woche, mir und meiner Freundin, in die Kur nehmen, denn sie erlaubt nicht, dass wir der Coiffeuse so viel Geld abladen.
Im Dorf sind noch zwei ganz windige Bubenmädchen, überall bekannt. Von verschiedenen Seiten wurde uns geraten, ihre Bekanntschaft zu meiden, was wir gern befolgen. Die zwei zotteln stets allein, führen so herrliche Korrespondenzen und lassen sich durchs Küchenfenster photographieren. Ja, das sind noch Helvetia-Töchter! Letzte Woche kam noch eine Volontärin an, sie sei jedoch melancholisch und wolle nicht essen!
Denkt Euch mal das: Von Montag bis Freitagabend waren wir ohne einen einzigen Rappen Geld, ist das nicht arg? Natürlich wurde nur das AIlernötigste gekauft und dazu aufschreiben lassen. Nur der Kaminfeger musste bar bezahlt werden, 50 Rappen, was ich dann vorschiessen musste!
Ihr müsst Euch unseren Confitüren-Vorrat für den ganzen Winter in einem kleinen Töpfchen schwarzen Johannisbeeren vorstellen, die zudem noch schlecht sind! Ist das eine Haushaltung!
Nun aber Schluss. Wenn Ihr Euch immer noch keine Vorstellung machen könnt von meinem neuen Leben hier, so kommt selbst und seht. Ja, wenn nur mal jemand käme!»