Politische Debatten wurden «frei von aller behördlichen und pfarrherrlichen Bevormundung» geführt. Der dörflichen Oberschicht diente die Lesegesellschaft daher zunächst als politischer Club, der sich über das Tagesgeschehen ausgiebig Gedanken machte. Ab 1797 wurde eine handschriftliche Chronik geführt, die alle lokalen Ereignisse eines Jahres zusammenfasste. Ein Vereinsmitglied der Lesegesellschaft wurde jeweils als Chronist beauftragt. Seine Aufgabe war es, zum Jahresende hin alle aus seiner Sicht wichtigen Ereignisse in Wädenswil zu schildern. So sind bis heute vermeintlich triviale Informationen wie Wetterbeschreibungen, Bevölkerungsstatistiken und eine Übersicht der Lebensmittelpreise überliefert. Neben lokalen Vorkommnissen wurden aber auch Themen von kantonaler und nationaler Brisanz gestreift (u.a. Bockenkrieg, Ustertag, Sonderbundskrieg). Die Chronik wurde bis 1886 handschriftlich geführt. Danach wurde sie aus eingeklebten Zeitungsausschnitten (1890 bis 1945) und später aus maschinengeschriebenen Seiten zusammengetragen. Die Bände für den Zeitraum 1797 bis 1886 gelten als eine der bedeutendsten Quellen für die Geschichte Wädenswils im 19. Jahrhundert und sind heute in digitalisierter Form zu finden unter www.dokumentationsstelle.ch/chronik-der-lesegesellschaft. Heute, mehr als zwei Jahrhunderte später und den Gegebenheiten der Zeit angepasst, spiegeln die Vereinsmitglieder der Lesegesellschaft einen Querschnitt der Wädenswiler Bevölkerung wider. Um ein Mitglied zu sein, braucht es keinen Zugang zur Oberschicht mehr als vielmehr einen zur Literatur. Die Lesegesellschaft Wädenswil lädt regelmässig Autorinnen, Schriftsteller und andere Personen ein, die sich gerne und intensiv mit Literatur beschäftigen. Sie bietet stets Raum für neue Bücher und gibt dem Publikum die Möglichkeit, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt ist sie Veranstalterin von rund einem Dutzend Anlässen pro Saison. Die Literatur ist das verbindende Glied zwischen den Gästen, den Zuhörern und der Stadt Wädenswil. Auch Musik, Kleintheater, Sprechpoesie oder sogar politische Diskussionen finden regelmässig ihren Platz. Die Zeit und das Geschehen zu reflektieren, ist nach wie von Bedeutung - die Lesegesellschaft hat ihren Auftrag noch immer. [ruedi peter]