ZUM 150. GEBURTSTAG VON HERMANN MÜLLER-THURGAU

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2000 von Robert Fritzsche

Hermann Müller-Thurgau gilt als der erste bedeutende Pionier, der grundlegend Forschung über den Bau der Pflanzen und deren Lebens- und Stoffwechselvorgänge nicht an einfach zu erfassenden Modellpflanzen eingesetzt hat, sondern ausschliesslich an Kulturpflanzen − in seinem Fall besonders an Reben, Obstbäumen und Kartoffeln. Dies mit dem Ziel, den Landwirte beim Aufbau und der Pflege der Kulturen und zur Bekämpfung der damals oft epidemisch auftretenden Krankheitserreger und Schädlinge die dringend notwendigen Grundlagen zu bieten. Erst diese ermöglichten eine qualitative Verbesserung der Produkte sowie höhere und regelmässigere Ernten. Auch für die Lagerung und die Verarbeitung der Produkte schuf er fundamental Grundlagen. Leider ist es aus Platzgründen nicht möglich, alle geleisteten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten aufzuführen.

AUS SEINEM LEBENSLAUF

Hermann Müller-Thurgau wurde am 21. Oktober 1850 im schmucken Bauerndorf Tägerwilen am Bodensee in einem sehenswürdigen Riegelhaus geboren. Seine Eltern besassen einen Rebberg, eine eigene Weinkelterei sowie eine Brotbäckerei. Der Dorfbäcker kaufte das Korn noch nach altem Brauch selber in Ueberlingen und liess es in Bottighofen mahlen. Mit den Mahlrückständen mästete er jeweils zwei Ochsen und einige Schweine. Hermann musste schon als Knabe wacker mithelfen. wobei ihn die Reben besonders interessierten. Sein Primarlehrer meldete ihn bereits am Ende der 5. Klasse an der Sekundarschule in Emmishofen an. So musste der kleine Müller, wie er genannt wurde, mit elf Jahren täglich von Tägerwilen die drei Kilometer zur Sekundarschule hin und zurück marschieren. Dies stellte an ihn, besonders im Winter, grosse körperliche Anforderungen. Sein Sekundarlehrer ermunterte ihn am Ende der Volksschulzeit, sich am Seminar in Kreuzlingen zum Lehrer ausbilden zu lassen. Der damalige weitherum bekannte Pädagoge Rektor Rebsamen empfahl ihm, nach Abschluss des Seminars weiter zu studieren. So besuchte er vorerst zur Förderung seiner französischen Sprachkenntnisse sprach- und naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität Neuenburg und führte in deren Auftrag geologische und botanische Studien im Val de Travers durch.
Büste von Hermann Müller-Thurgau vor dem Geburtshaus in Tägerwilen.

Im Herbst 1869, mit knapp 19 Jahren, wurde er als Lehrer an die städtische Realschule in Stein am Rhein gewählt. Aber schon nach einem Jahr entschloss er sich, am 1855 gegründeten Polytechnikum, der heutigen Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Naturwissenschaften zu studieren. Nachdem er das Diplom für Naturwissenschaften und den Ausweis als Fachlehrer erhalten hatte, berief ihn Seminardirektor Rebsamen als Lehrer für Naturwissenschaften, Mathematik und Zeichnen ans Seminar Kreuzlingen. Obwohl ihm ein sehr gutes Lehrtalent nachgesagt wurde, wollte er schon nach einem Jahr seine botanischen Studien weiterführen. Er erhielt eine AssistentensteIle beim damals bahnbrechenden Pflanzenphysiologen Prof. Dr. Julius Sachs (1832−1897) an der Universität Würzburg (D). Schon im Frühjahr 1874 promovierte Hermann Müller mit dem Prädikat summa cum laude zum Doktor der Naturwissenschaften mit einer Arbeit über die Sporenvorkeime und Zweigvorkeime der Laubmoose. Er verweilte noch weitere zwei Jahre als Mitarbeiter von Julius Sachs an der Universität Würzburg, wobei er zusätzlich Vorlesungen an der medizinischen Fakultät besuchte, die ihm bei seinen späteren Arbeiten sehr zustatten kamen.
Im Frühjahr 1876 wurde Hermann Müller, mit erst 25 ½ Jahren, auf Empfehlung von Prof. Dr. Julius Sachs als Leiter des neu geschaffenen Institutes für Pflanzenphysiologie an die preussische Forschungs- und Lehranstalt in Geisenheim (D) berufen und später von der Regierung zum Professor ernannt. Er bedauerte sehr, dass in der Schweiz noch kein Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Kulturpflanzen und Nahrungsmittel vorhanden war.
1881 verheiratete sich Hermann Müller mit Bertha Biegen, der Tochter eines Weinbauern und Weinhändlers in Oestrich am Rhein. Dem Paar wurden drei Töchter geschenkt.
Die Winzer und Weinkelterer der umliegenden grossen Weinbaugebiete unterhielten bald einen engen Kontakt mit dem jungen Forscher des Weinbaues, der es, in einem Weinbaubetrieb aufgewachsen, sehr gut verstand, die gewonnenen Erkenntnisse in einer gut verständlichen Form den Studenten, in Publikationen, mit Vorträgen und bei Beratungen weiterzugeben und darauf aufbauend praktische Ratschläge zu erteilen. An den Deutschen Weinbaukongressen standen seine Vorträge immer wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Alljährlich verbrachte er die Ferien mit seiner Familie in seinem Heimatdorf Tägerwilen oder in den Bündner Bergen.
Es war für ihn eine grosse Freude, als er 1890 dazu berufen wurde, im Auftrag eines Konkordates von 14 deutschschweizerischen Kantonen eine Schweizerische Versuchs- und Lehranstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau inklusive Produkteverwertung in Wädenswil (der heutigen Eidgenössischen Forschungsanstalt) aufzubauen.
Zum Abschied von Geisenheim ernannte ihn der Deutsche Weinbauverein zum Ehrenmitglied und überreichte ihm einen Ehrenpokal, der ein hervorragendes Meisterwerk der deutschen Goldschmiedekunst jener Zeit darstellt.
Die Gründung der Versuchs- und Lehranstalt Wädenswil erwies sich als dringend notwendig. Zu jener Zeit befand sich der schweizerische Obst-, Wein- und Gemüsebau in einer schwerwiegenden Krise. Während zahlreicher Jahre zuvor konnten zum Beispiel alljährlich grosse Obstmengen zu günstigen Preisen als Tafel- und Mostobst nach Frankreich und Deutschland exportiert werden. Mit dem stärkeren Aufkommen des internationalen Handels ergab sich ein massives, oft qualitativ besseres und preisgünstigeres Angebot, nicht nur von Kern- und Steinobst, sondern vor allem von tropischen und subtropischen Früchtearten aus dem Ausland. Die nicht mehr verkaufbaren Überschüsse landeten letztendlich im Brennhafen. Auch Pilzkrankheiten und Schädlinge traten epidemisch auf, gegen die noch keine Bekämpfungsmöglichkeiten bestanden. Die meisten Rebbestände waren infolge des massiven Einbruches der Reblaus, des Falschen Mehltaues, des Rotbrenners sowie verschiedener Schadinsekten und des Unvermögens, diese Krankheiten und Schädlinge zu bekämpfen, katastrophal geschädigt. Zudem waren die Weine und Obstweine durch Infektionen verschiedener Mikroben und fehlerhafte Kellerbehandlung von ungenügender Qualität, wodurch der Weinfälschung und Kunstweinherstellung Tür und Tor geöffnet waren.
Als Standort dieser aufbauenden Versuchs- und Lehranstalt wurde aus einer Anzahl vorgeschlagener Liegenschaften das kurze Zeit zuvor von privater Seite dem Kanton verkaufte ehemalige Landvogteischloss in Wädenswil samt dem dazugehörigen Landwirtschaftsbetrieb schenkungsweise zur Verfügung gestellt. Die Volksabstimmung hierüber erfolgte mit erstaunlich hoher Zustimmung. Als Müller-Thurgau und sein erster Mitarbeiter, Heinrich Schellenberg, im Frühjahr 1891 das Schloss bezogen, stellten sie fest, dass die Gebäude durch den jahrelangen Nichtgebrauch schwer gelitten hatten, und was nicht niet- und nagelfest war, durch nächtliche Besucher mitlaufen gelassen wurde. Der Bezug und die Anpassung der Räumlichkeiten an die ganz andersartige Verwendung und insbesondere die Ergänzung der mangelnden sanitären und technischen Einrichtungen gestalteten sich sehr schwierig.
Der goldene Ehrenpokal. Abschiedsgeschenk des Vorstandes des Deutschen Weinbauvereins, 1890.
So mussten sich zum Beispiel die Studierenden noch jahrelang, auch im Winter, am Brunnen im Schlosshof waschen, wobei der Klassenchef jeweils mit einem Hammer zum Einschlagen der Eisschicht im Brunnentrog ausgerüstet war.
Trotz dieser Schwierigkeiten machte das junge Institut rasch Fortschritte und spielte bald in der Obst-, Wein- und Gemüsewirtschaft sowohl als Stätte grundlegender, aber praktisch ausgerichteter Forschung sowie auch als Fachschule eine wesentliche Rolle. Müller-Thurgau verstand es auch, mit der Zeit einen Stab hervorragender Mitarbeiter zu berufen, um nur einige der Ersten zu nennen: Heinrich Schellenberg, Dres. Achilles und Theodor Zschokke, Dr. Wilhelm Baragiola, Dr. Wilhelm Kehlhofer, Dr. Adolf Osterwalder, Prof. Dr. Otto Schneider-Orelli und in den allerletzten Jahren seiner Tätigkeit Dr. Fritz Kobel, späterer Direktor der Versuchsanstalt und Professor der ETH.
Gleich nach der Gründung der Versuchsanstalt übernahm Hermann Müller-Thurgau die Redaktion der damals schon bekannten Schweizerischen Zeitschrift für Obst- und Weinbau, die noch heute eine weitverbreitete Fachzeitschrift ist. 1901 wurde er am Polytechnikum (der heutigen Eidgenössisch Technischen Hochschule) zusätzlich mit den Vorlesungen der beiden plötzlich verstorbenen Professoren Krämer und Schulze betraut. Den Ruf, sich definitiv als ordentlicher Professor hauptamtlich an die Hochschule wählen zu lassen, lehnte er ab, weil er die sich in rascher Entwicklung befindende Versuchsanstalt nicht verlassen wollte und insbesondere die laufenden schwierigen Verhandlungen über die Übernahme der Anstalt Wädenswil von den 14 Konkordats-Kantonen durch die Eidgenossenschaft zum Erfolg bringen wollte. So war es für ihn sowie für alle Mitarbeiter eine grosse Freude, als im Herbst 1902 die Anstalt tatsächlich an den Bund überging. Der Fachschulteil konnte dagegen nicht übernommen werden, weil die Eidgenossenschaft entsprechend der Verfassung keine Schule ausser der Eidgenössisch Technischen Hochschule führen darf. Die Schule wurde vorerst vom Konkordat mit Erfolg weitergeführt, musste dann aber 1914 eingestellt werden. Sie wurde 1942 wieder als Konkordat der deutschschweizerischen Kantone und später des Fürstentums Liechtenstein neu gegründet und zur jetzigen Fachhochschule entwickelt. An der Versuchsanstalt wurde mit dem Wechsel ein wesentlicher Ausbau eingeleitet. So wurde bald ein grosszügig konzipiertes Laboratoriums-Gebäude erstellt. Die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Bereich der Verwertung der Produkte wurden wesentlich ausgebaut.
Die grundlegenden Forschungsarbeiten Müller-Thurgaus und seiner Mitarbeiter fanden im In- und Ausland grosse Anerkennung und vermochten die Produktion, die Verwertung der Produkte und die Qualität wesentlich zu verbessern. Seine über 500 zum grössten Teil grundlegenden wissenschaftlichen Publikationen belegen seinen Forschergeist, seine Weitsicht, seinen Blick für die Praxis sowie seine sehr grosse Arbeitskraft und Einsatzfreudigkeit. Er war auch ein hervorragender Referent und Lehrer, der es verstand, komplizierte Zusammenhänge klar und verständlich darzulegen und mit erstaunlich guten und instruktiven Zeichnungen zu verdeutlichen.
Hermann Müller-Thurgau wurde von seiner Umgebung als liebenswürdiger Mensch empfunden, der aber vor allem an sich, aber auch an seine Mitarbeiter sehr hohe Anforderungen stellte, grossen Arbeitseinsatz und Disziplin verlangte. Sehr gerne diskutierte er mit den Landwirten über deren Erfolge und Nöte. Vorgesetzte Behörden und Organisationen schätzten ihn als klaren und ruhigen Verhandlungspartner, der aber sehr fordernd und hart auftrat, wenn es um den Ausbau der Versuchsanstalt ging.
Er pflegte guten Kontakt mit der Wädenswiler Bevölkerung. So war er während mehrerer Jahre Mitglied der Schulpflege und 1891 Gründungsmitglied der Sektion Hoher Rohn des Schweizer Alpen-Clubs. Er beteiligte sich an vielen Klubtouren. Besondere Freundschaften verbanden ihn mit dem Polytechnikum-Professor Dr. Walter Wyssling (1862–1945), dem grossen Pionier auf dem Gebiet der Elektrizität, und dem legendären Arzt Dr. Florian Felix (1858–1931). Er hatte auch gute Bekanntschaften mit verschiedenen Wädenswiler Familien sowie mit zahlreichen Landwirten. Dies besonders mit Heinrich Zuppinger-Schwarzenbach (1846–1915), dessen Landwirtschaftsbetrieb Rötiboden damals schon auf niederstämmigen Obstbäumen qualitativ hochstehende Früchte produzierte, die zum Teil nach Paris exportiert wurden.
An seinem 70. Geburtstag wurde Hermann Müller-Thurgau mit vielen Ehrungen bedacht. So ernannte ihn die Universität Bern zum Ehrendoktor, und zahlreiche landwirtschaftliche Organisationen des In- und Auslandes nominierten ihn zum Ehrenmitglied.
Weil die vorgesetzten Behörden sich nicht auf einen Nachfolger einigen konnten, war er gezwungen, die Versuchsanstalt bis zu seinem 73. Altersjahr zu leiten. Mit 77 Jahren, 1927, verstarb er nach kurzer Krankheit.
Auch an seinem 100. Geburtstag wurde er mit der Benennung von Strassen mit «Müller-Thurgau» in Wädenswil, Tägerwilen und Geisenheim geehrt. Der Verein der Absolventen der Fachhochschule in Geisenheim stiftete einen Müller-Thurgau-Preis für hervorragende Förderungsleistungen in der Weinwirtschaft, der anlässlich des 100-jährigen Bestehens der dortigen Forschungsanstalt und Fachhochschule das erste Mal verliehen wurde.

Seit 1950 erinnert in Wädenswil eine Strasse an den erste Direktor der Forschungsanstalt.

ÜBERSICHT ÜBER DIE FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSARBEITEN

In dieser kurzen Abhandlung können nur einige Beispiele von Hermann Müller-Thurgaus Tätigkeit dargestellt werden. Es ist erstaunlich, wie er in mehreren Fachbereichen forschend tätig war und bahnbrechende Resultate erzielte. Er griff gravierende Schwierigkeiten auf, welche die Landwirte und die Produkteverwerter stark belasteten, und versuchte sie durch grundlegende, aber praxisnahe Forschung zu beheben.
Nachfolgend werden nur Arbeiten erwähnt, die Müller-Thurgau allein oder zum grössten Teil selbst durchgeführt hat. Daneben sind natürlich an der Versuchsanstalt Wädenswil zur gleichen Zeit viele weitere grundlegende und sehr erfolgreiche Resultate von anderen Mitarbeitern erzielt worden.
 
Aufbau der Reben und Obstbäume und die Lebens- und Stoffwechselvorgänge in denselben
Müller-Thurgau legte besonders Gewicht auf die bisher kaum betriebene genaue Erforschung des Baues, der Funktionen deren Organe und der Stoffwechselvorgänge des Rebstockes und der Obstbäume. So klärte er zum Beispiel den Bau und die Zusammensetzung der Assimilationsprodukte wie Zucker, Stärke, Säuren, Zellulose usw. ab und verfolgte die Wanderung dieser Stoffe in der Pflanze, deren Verwendung und die Bedeutung für die verschiedenen Pflanzenorgane. Er wies beispielsweise nach, dass bei der Rebe das Abfallen der Kleinstbeeren nach dem Verblühen (VerrieseIn), das zu groben Mindererträgen führt, in vielen Fällen durch ein Unfruchtbarwerden der Eizellen infolge zu geringer Kohlenhydratversorgung hervorgerufen wird. Er untersuchte auch eingehend, welche Blätter am Rebstock den Traubenbeeren in den verschiedenen Entwicklungsstadien am meisten Zucker liefern sowie die Entwicklung der verschiedenen Säuren und Aromastoffe in denselben. Diese Forschungsergebnisse ermöglichten, einen zweckmässigeren Aufbau des Weinstockes und eine die Qualität fördernde Laubarbeit zu entwickeln. Er wies sodann nach, dass nur die Entwicklung aller Samen in der Traubenbeere, dem Apfel oder der Birne zu einer vollwertigen Frucht führt. Das Studium der Struktur der Rebwurzeln, die Wurzelentwicklung während des Jahresablaufes und die Aufnahme des Wassers und der Nährstoffe waren weitere Pionierarbeiten. Mit diesen neuen Erkenntnissen konnten Störungen in den Rebbergen, wie zum Beispiel Chlorose, oder verursacht durch ungünstige Bodenstruktur usw., eher abgeklärt werden.
Weitere Forschungsarbeiten galten der Blütenknospenbildung, den Befruchtungsvorgängen und der Fruchtentwicklung bei den Obstbäumen. Er befasste sich auch schon damals mit dem wirtschaftlich schwerwiegenden Problem, dass viele Obstbäume nur alle zwei Jahre eine Vollernte hervorbringen (Alternanz). Das führte ihn zur genaueren Erforschung der Bedingungen, die Voraussetzung zur Bildung von Blütenknospen sind. Neben der Einwirkung von Phytohormonen wies er nach, dass die Blütenknospenbildung vor allem von der Zuckerkonzentration in den knospennahen Geweben abhängt. Er verfolgte zudem die verschiedenen Entwicklungsstadien der Früchte in Abhängigkeit der Tätigkeit der Blätter und der Umweltfaktoren sowie Fragen der Reife und Überreife der Früchte. Eingehend wurden auch die Vorgänge in den Geweben der Reben, der Obstbäume und der Kartoffel bei Einwirkung von Kälte während der Vegetationszeit sowie bei der Lagerung der Produkte studiert.
Müller-Thurgau beschäftigte sich auch mit der damals noch in den allerersten Anfängen liegenden Vererbungslehre bei Pflanzen. So vertiefte er sich in die damals in Vergessenheit geratene Pionierarbeit des Pastors Gregor Mendel (1822–1884). Schon 1877 kreuzte er gezielt verschiedene Typen amerikanischer Reben und prüfte die damit erhaltenen Sämlinge auf ihre Widerstandsfähigkeit gegen Pilzkrankheiten. Hierauf kreuzte er die Spitzensorte Riesling, die für verschiedene Weinbaugebiete zu spät reift, mit den Sorten Sylvaner, Gutedel und weiteren unbekannten, um Nachkommen zu erhalten, deren Trauben früh reifen, gute Qualität und gute Stockeigenschaften besitzen. Die Auswahl aussichtsreicher Kreuzungspartner setzt eingehende Beobachtungs- und Prüfungsarbeiten voraus. Da er als Erster bei Reben verschiedene Sorten kreuzte, musste auch ein zweckmässiges Vorgehen entwickelt werden, wie zum Beispiel Entfernen der Staubgefässe an den Blüten der Muttersorte, Gewinnung von Blütenstaub der Vatersorte, Übertragung der Pollenkörner auf die Narbe der Muttersorte genau im richtigen Zeitpunkt, Schutz vor Fremdbefruchtung, Gewinnung der Samen und Selektion der heranwachsenden Sämlinge während Jahren. Auf diesem Wege gewann Müller-Thurgau eine grosse Anzahl von Sämlingen. Als er 1891 als Direktor der neugegründeten Versuchs- und Lehranstalt Wädenswil in die Schweiz zurückkehrte, wurden ihm einige Monate später die 150 der wertvollsten Zuchtpflanzen von einem Gärtner der Forschungsanstalt Geisenheim überbracht. Zusammen mit seinem Mitarbeiter auf dem Gebiet des Weinbaues, Heinrich Schellenberg, wurden diese Züchtungspflanzen weiter selektioniert und die Besten ungeschlechtlich durch Steckhölzer vermehrt, in Gruppen gepflanzt und während zirka zehn Jahren auf Stockeigenschaften, Ertrag und Weinqualität geprüft. Nach dieser Auslese verblieben noch zwei Zuchtnummern, wobei die Nummer 59 besonders viel versprach. Diese wurde weitervermehrt, so dass grössere Weinquantitäten gewonnen und in einem grösseren Kreis von Fachleuten beurteilt werden konnten. Der Wein wurde als blumig und mit neuartigem Muskatbouquet empfunden. An der Landesausstellung 1914 standen erstmals mehrere Jahrgänge der neuen Sorte zur Prämierung bereit. Sie wurde dann in verschiedenen mikroklimatisch unterschiedlichen Rebbergen angebaut und weiter geprüft. Nach und nach erhielt die erste durch systematische Züchtung erzielte Sorte in der Schweiz, Deutschland, Österreich, Ungarn und weiteren Ländern unter dem Sortennamen «Müller-Thurgau» und in der Schweiz «Riesling x Sylvaner» grosse Verbreitung.
 
Erforschung der Biologie von Krankheiten und Schädlingen an den Reben und Obstbäumen und deren Bekämpfung
Vor Hermann Müller-Thurgaus Amtsantritt an der Forschungsanstalt Geisenheim 1876 erlitt der Rebbau in ganz Europa schwere Schicksalsschläge. So brach der Echte Mehltau bei den Reben epidemisch über Europa herein und verursachte immer grössere Verluste. Für die sachgerechte Verstäubung des wirksamen Schwefels fehlten Geräte, und es mangelte auch an geeignetem Schwefel. Der damals nicht bekämpfbare Falsche Mehltau war von Frankreich in Deutschland und in die Schweiz eingedrungen. Die Reblaus hatte schon grosse Rebflächen in Frankreich vernichtet und setzte die Zerstörung der Reben in Deutschland und in der Schweiz fort. Eine Bekämpfung dieses Schädlings war damals völlig unmöglich. Müller-Thurgau klärte als Erster den Lebenslauf (Biologie) des Erregers des Falschen Mehltaues ab. Er stellte fest, dass die ausschwärmenden Sporen dieses Pilzes, die auf der Blattunterseite abgesetzt werden, Keimschläuche durch die Spaltöffnungen treiben, so ins Blattinnere eindringen und das Blatt zerstören. Diese Abklärungen des Infektionsvorganges bildeten den Ausgangspunkt für die Entwicklung wirksamer Mittel zur Bekämpfung dieser Pilzkrankheit. Besonders bekannt geworden sind seine Untersuchungen über die gefährliche Rebkrankheit «Rotbrenner», die bisher ungünstigen Witterungsabläufen und gestörten Bodenverhältnissen zugeschrieben wurde. Müller-Thurgau fand nach langdauernden mikroskopischen Arbeiten als Verursacher dieser Krankheit den Pilz Pseudopeziza tracheiphila, der in den Blattnerven wuchert und so den Wasser- und Nährstofftransport unterbindet. Die Ergebnisse wurden in einer Arbeit mit einem Aquarell von befallenen Blättern publiziert, die ein Zeugnis von Müller-Thurgaus grossem Zeichentalent ablegen. Aufgrund dieser Ergebnisse konnte die wirksame Bekämpfung dieser Krankheit mit Bordeauxbrühe im richtigen Zeitpunkt entwickelt werden. Auch die Publikation der erforschten Biologie des Potrytis-Pilzes und über sein Verhalten als Fäulniserreger in unreifen Traubenbeeren und als Verursacher von Edelfäulnis in reifen Beeren ist mit einem berühmt gewordenen Aquarell und mit Zeichnungen von Präparaten unter dem Mikroskop bereichert. Von grosser Bedeutung für den Weinbau war auch die Entdeckung der Kräuselmilbe, des Verursachers der Kräuselkrankheit, gegen die er mit dem Bestreichen der Stöcke mit Schwefelpräparaten vor dem Austrieb eine wirksame Bekämpfungsmethode entwickelte.
Als weitere Forschungsarbeiten seien nur noch diejenigen über die Monilia-Blüten und Zweigdürre bei Apfelbäumen und eine Gleosporium-Krankheit bei Zyklamen erwähnt.

Verbesserung der Qualität des Weines und des Gärmostes
Bald nach seinem Eintritt in die Forschungsanstalt Geisenheim befasste sich Müller-Thurgau mit dem Einfluss von Hefen, Pilzen und Bakterien auf den Wein während der Kelterung und Lagerung. Solche Forschungsarbeiten waren damals erst in den Anfängen. Das Studium dieser Mikroorganismen war vorher praktisch unmöglich, da das erste, für diese Forschungsarbeit unumgängliche Mikroskop erst ganz Ende des 17. Jahrhunderts konstruiert wurde, aber noch sehr wenig vergrösserte und nur ein schlechtes Auflösungsvermögen aufwies. Er konnte auf die ersten Erkenntnisse von Louis Pasteur (1822–1895) und F. Appert über die alkoholische Gärung aufbauen. Er klärte den genauen Vergärungsvorgang im Traubenmost ab, um Möglichkeiten zu finden, denselben zur Verbesserung der Weinqualität zu beeinflussen und zu steuern, um Fehlgärung zu verhindern. So konnte er schon 1882 am Deutschen Weinbaukongress den grossen Einfluss der Temperatur auf den Ablauf des Gärungsprozesses nachweisen und der Praxis Empfehlungen über die Beeinflussung des Temperaturverlaufes und die Weiterbehandlung der Weine nach zu rascher Gärung bei zu hoher Temperatur sowie bei verzögerter oder stockender Gärung bei zu tiefer Temperatur erteilen.
Vor allem interessierte ihn auch, welche Mikroorganismen die verschiedenen Arten von Fehlgärungen und Qualitätsminderungen im Wein und im Obstgärmost hervorrufen. So wies er zum Beispiel nach, lass die als Mannitgärung bezeichnete Störung durch die Tätigkeit besonders des Milchsäurebakteriums hervorgerufen wird. Intensiv verfolgte er zusammen mit Dr. Osterwalder den biologischen Säureabbau, das heisst den durch Bakterien in Weinen und Obstweinen verursachten Abbau von Apfelsäure zu Milchsäure und Kohlensäure, der bei der Entwicklung von Weinen von grosser Bedeutung ist. Er erforschte noch weitere durch Organismen hervorgerufene qualitätsmindernde Veränderungen des Weines wie beispielsweise das Lindwerden, das Schwarzwerden, die Zerlegung des Glyzerins sowie die Abnahme des Säuregehaltes im lagernden Wein. Dabei ruhte er nicht, bis es ihm gelang, die einzelnen Krankheitserreger rein zu züchten und mit denselben die entsprechenden Störungen zu reproduzieren.
Hermann Müller-Thurgau , ein hervorragender Beobachter und Zeichner.

Müller-Thurgau wies auch nach, dass die Vergärung des Traubenmostes, das heisst die Umsetzung des Zuckers zu Alkohol und Kohlensäure, nicht nur durch einen Hefestamm, sondern durch verschiedene geschieht und dieselben die Weinqualität unterschiedlich beeinflussen. Er trennte die Stämme und vermehrte die einzelnen rein. Sie wurden dann getrennt in gleichartigen Traubenmosten unter einheitlichen Bedingungen eingesetzt, um ihren spezifischen Einfluss auf den Wein abzuklären. So gelang es ihm, Hefestämme mit besonderen Eigenschaften zu selektionieren, die zum Beispiel bei tiefen Kellertemperaturen noch aktionsfähig waren oder sich als widerstandsfähig gegen schweflige Säure erwiesen. In zahlreichen vergleichenden Versuchen in verschiedenen Kellereien konnte bewiesen werden, dass durch Beigabe eines angemessenen Quantums von Reinhefe einer bestimmten passenden Rasse im Traubenmost eine reinere Vergärung erreicht und damit die Weinqualität wesentlich gesteigert werden konnte. Die Vermehrungstechnik verschiedener Heferassen wurde von Mitarbeitern der Versuchsanstalt immer mehr rationalisiert so dass die rasch steigende Nachfrage seitens der Praxis erfüllt werden konnte. Ferner wies Müller-Thurgau nach, dass Gärhemmungen in Kernobstsäften oft auftreten, weil in Folge eines zu niedrigen Stickstoffgehaltes die Hefen unterernährt und deshalb in ihrer Entwicklung gehemmt waren. Durch Beigabe bestimmter harmloser Stickstoffverbindungen in kleinsten Mengen konnte diese Schwierigkeit überwunden werden.
 
Grundlagen für die Herstellung alkoholfreier Getränke
Müller-Thurgau brauchte zur genauen Erforschung der Vorgänge bei der alkoholischen Gärung, für die Reinhefezucht und bei der Reinzucht der Erreger von Störungen im Wein jeweils frischen, unveränderten Traubensaft, der nur im Herbst während der Traubenreife zur Verfügung stand. Um aber seine Versuche ganzjährig durchführen zu können, versuchte er 1871 in Geisenheim durch Erwärmen des frischen Traubensaftes die Pilze und Bakterien zu inaktivieren und denselben damit haltbar zu machen. Dazu füllte er den Traubensaft in Flaschen, verkorkte sie, stellte sie in mit Wasser aufgefüllte Gefässe und erwärmte damit deren Inhalt bei verschiedenen Temperaturen und unterschiedlich lang, um herauszufinden, bei welcher Temperaturgrenze die Mikroorganismen gerade noch abgetötet wurden, die Traubensäfte aber noch weitgehend unverändert blieben. Damals gab es noch keine alkoholfreien Fruchtsäfte auf dem Markt. Ab 1891 in Wädenswil, dehnte er seine Pasteurisationsversuche auf Obstsäfte aus und erzielte vorzügliche, vollmundige und arttypische alkoholfreie Getränke. Seine ersten diesbezüglichen Veröffentlichungen fanden grosse Beachtung bei den im Aufbau stehenden Abstinenzbewegungen. Mit Unterstützung des Arztes und Psychiaters Prof. Dr. August Forel (1848–1931), einem Mitbegründer der Abstinenzorganisationen, legte er Grossversuche an mit dem Ziel, Methoden zur gewerblichen Gewinnung alkoholfreier Obst- und Traubensäfte zu entwickeln. Seine Veröffentlichung 1896 «Die Herstellung unvergorener und alkoholfreier Obst- und Traubensäfte» verbreitete sich sehr rasch. Professor Forel und Frau Susanna von Orelli-Rinderknecht (1845–1939), Begründerin der ersten alkoholfreien Speiserestaurants in Zürich, versuchten vergeblich, Müller-Thurgau als Zugpferd für die Abstinenzbewegung zu gewinnen. Seine Begründung für seine Ablehnung war: «Der Wein ist ein grosses Kulturgut und ist der Gesundheit bei mässigem Genuss durchaus zuträglich. Alkoholfreie Fruchtsäfte sind notwendig für Menschen, die dem Wein nicht zugeneigt sind, ihn aus gesundheitlichen Gründen meiden müssen und vor allem für Jugendliche. Alkoholfreie Fruchtsäfte sind bekömmlich, weisen einen hohen Nährwert auf und ergeben einen zusätzlichen Absatz für die Wein- und Obstbauern.»
In weiteren, ausgedehnten Versuchen klärte er genau ab, welche Mindesttemperatur der Fruchtsäfte in Gewerbebetrieben notwendig ist, um die einzelnen Mikroorganismen wie zum Beispiel Weinhefe, zugespitzte Hefe, grüner Pinselschimmel, Traubenschimmel usw. abzutöten. So kam er zu einer gesicherten Mindesttemperatur, die eine Qualitätsverminderung der Fruchtsäfte oder sogar Kochgeschmack verhinderte.
Eingehend befasste er sich dann mit der Gewinnung alkoholfreier roter Traubensäfte. Bei der üblichen Rotweinbereitung werden die in den Traubenhäuten konzentrierten Farbstoffe durch den sich bei der Vergärung gebildeten Alkohol herausgelöst und damit der Saft rot gefärbt. Müller-Thurgau fand heraus, dass auch durch Erwärmen des frischen Traubensaftes auf zirka 50 °C die Farbstoffe ebenfalls herausgelöst werden. Nachdem er der Überzeugung war, sicher Grundlagen zur gewerblichen Gewinnung alkoholfreier Fruchtsäfte erarbeitet zu haben, veröffentlichte er 1898 eine zweite Arbeit über «Die Herstellung unvergorene und alkoholfreier Obst- und Traubensäfte. Dieses Büchlein erhielt noch eine viel grössere Verbreitung, musste doch schon nach zwei Jahren eine fünfte Auflage herausgegeben werden. Die Schrift wurde auch in mehrere Sprachen übersetzt. Darin legte er drei Möglichkeiten zur Herstellung alkoholfreie Fruchtsäfte dar. Die notwendigen Temperaturen zur sicheren Entkeimung bei den verschiedenen Vorgehen wird genau umschrieben. Sodann wird ein praktisches Vorgehe für gewerbliche Betriebe, auf dem Bauernhof und bei Süssmostaktionen dargelegt. Zudem werden die notwendigen Behälter, Filter, Pasteurisationsapparate, Flaschenverschlüsse usw. beschrieben.
Schon 1896 wurde die erste schweizerische Aktiengesellschaft zur Herstellung unvergorener und alkoholfreier Trauben- und Obstsäfte mit Sitz in Bern gegründet. Als Zweck der Gesellschaft wurde die «Errichtung und der Betrieb einer Fabrik für die Herstellung unvergorener und alkoholfreier Obstsäfte nach dem Verfahren von Prof. Dr. Hermann Müller-Thurgau, Direktor in Wädenswil» im Handelsregister eingetragen. Müller-Thurgau gehörte dem Verwaltungsrat als wissenschaftlicher Berater, nicht als Teilhaber, an. Die Berner Fabrikanlage stellte bald pro Jahr zwischen 500‘000 und 600‘000 Liter Trauben- und Obstsäfte her.
Die 1897 erbaute Fabrik für alkoholfreie Weine in Meilen. Aufnahme um 1900.

Im März 1897 entschloss sich der Verwaltungsrat, einer Filialfabrik in Meilen, mitten in einem Weinbaugebiet, aufzubauen, die schon im selben Herbst den Betrieb aufnahm. Die Leitung wurde Hermann Schwarzenbach (1864–1926) – Bauernsohn, Geisenheimer-Schüler von Müller-Thurgau und bisher Verwalter der Obst- und Weinbaugenossenschaft Wädenswil übertragen. Landwirtschaftliche Genossenschaften oder neu gegründete Firmen bauten in verschiedenen Obst- und Weinbaugebieten bald grosse Süssmostereibetriebe auf, welche die Techniken rasch weiterentwickelten. Auch der zweite Weg, den Müller-Thurgau in seiner Publikation vorschlug, die Herstellung von Süssmost auf den Bauernbetrieben, gewann rasch an Boden, und zahlreiche Berufsbaumwärter wurden zusätzlich Kundensüssmoster. Aber auch die Abstinenzorganisationen wurden sehr aktiv und organisierten Süssmostaktionen. An diesen wurde in Dörfern an einem zentralen Ort mit transportabeln Apparaten Obstsäfte pasteurisiert und den Einwohnern in mitgebrachte Flaschen keimfrei abgefüllt.
In dieser Publikation können die vielen Pioniere, die Müller-Thurgaus erarbeiteten Grundlagen weiterentwickelt haben, leider nicht einzeln erwähnt werden.
Eine Seite aus dem Kollegienheft des ETH Studenten Hermann Müller.




Prof. Dr. Robert Fritzsche
(Enkel von Hermann Müller Thurgau)