Hans Lips, Au

Bäcker/Konditor – Berufsfischer – Original (23.9.1912 bis 1.1.1997)

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1997 von Peter Weiss

Hans Lips erblickte am 23. September 1912 in Niederurdorf (ZH) das Licht der Welt, wo er mit seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Walter aufwuchs. Sein Vater, Johannes Lips, war ein tüchtiger, angesehener und frohmütiger Mann, hie und da gerne zu einem Spass bereit. Zusammen mit seinem Bruder Jakob betrieb er eine mechanische Werkstatt, in der Bäckereimaschinen hergestellt wurden. Er war Mitglied der Kirchenpflege Urdorf, einige Jahre deren Präsident. An Abendmahlssonntagen sei er jeweils im langen Frack und mit Zylinder zur Kirche gegangen.
Zu seinem Elternhaus in Niederurdorf gehörte ein grosser Baumgarten. Hansli, wie ihn seine Kameraden seines feinen Körperbaus wegen nannten, betätigte sich gerne als kleiner Händler. So zog er mit seinem Leiterwägelchen durchs Dorf und verkaufte Äpfel, Zwetschgen und Berikerbirnen. Diese Früchte brachte er auch ins Gaswerk Schlieren, um sie dort dörren zu lassen. Daneben hatte er Kaninchen, für die er verantwortlich war, und half gerne bei benachbarten Bauern, sei es im Heuet oder wenn eine Kuh kalbte.
Zusammen mit einem Kameraden hütete er am Abhang gegen das Wäldchen auch Ziegen. Das Leittier der Herde war eine grossgewachsene Geiss mit ansehnlichen Hörnern. An einem heissen Sommertag nahm Hansli einen alten Strohhut mit und drückte ihn der Ziege über die Hörner. Sie trug ihn während des ganzen Tages. Das war natürlich ein Riesenspass, und Hans Lips meinte: «Lueg wie die froh isch, dass ere d Sunne nüd e so fescht uf de Schädel brännt!»
Gerne fuhr er mit seinem Freund Jakob Ryser und dessen Grosseltern nach Zürich auf den Markt, der damals noch auf der Bahnhofstrasse stattfand. Morgens um halb sechs Uhr brach man auf. Ein Pferd zog den mit Feldfrüchten und Obst beladenen Wagen, auf dem Bock die Grosseltern, hinter ihnen auf einem kleinen Bänklein die beiden Buben. Jeder hielt einen Wasserkessel zwischen seinen Knien, gefüllt mit Blumensträussen oder Zweigen von Sträuchern mit roten Beeren, die sie tags zuvor in den Wiesen und Wäldern gepflückt und gebrochen hatten. Ihr Standplatz war die Hausecke des PKZ-Gebäudes. Als das Söhnchen einer vornehmen Dame aus besserem Haus die beiden Buben barfuss dastehen und ihre Blumen feilbieten sah, sagte es zur Mutter: «Lueg, die arme Buebe müend go Blueme verchauffe.» Aus Erbarmen streckte es Hans seinen Süssholzstengel hin, doch dieser sagte: «Gib en miim Kolleg!» Der zögerte eine Weile, doch als die vornehme Kundschaft sich entfernt hatte, nahm er ihn in den Mund, spuckte ihn aber gleich wieder aus – und die beiden krümmten sich vor Lachen. Immerhin, der Blumenverkauf lohnte sich, trug doch jeder abends 7 bis 8 Franken Taschengeld nach Hause.

LEHR- UND WANDERJAHRE

Hans war ein fröhlicher, neugieriger und lebhafter Bursche, mit sich und der Welt zufrieden tind bei jung und alt beliebt. Nach Abschluss der zweiten Sekundarklasse zog er ins Welschland. Ein Jahr verbrachte er auf einem Bauernhof auf dem Chaumont ob Neuenburg. Dort musste er hart arbeiten. Im Winter fror er oft, im Sommer litten sie unter Wassermangel. Vom Challmont aus musste Hans wöchentlich zu Fuss nach Neuenburg in den Konfirmandenunterricht und in den Gottesdienst. Je nach Jahreszeit trug er ganze Bündel von Sträussen aus wilden Narzissen mit sich oder Morcheln, die er auf den Jurahöhen gesammelt hatte, und verkaufte sie in der Stadt.
Am 27. August 1928 begann er in der Bäckerei Arnold im Kreis 4 in Zürich eine dreijährige Bäcker- und Konditorlehre, und am Palmsonntag 1929 wurde er in der Kirche Urdorf konfirmiert. Pfarrer Ganz gab ihm den Spruch: «Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, zum Heil einem jeden, der daran glaubt» (Römerbrief 1,16) mit auf seinen Lebensweg.
Nach der Lehrabschlussprüfung 1931 arbeitete Hans Lips bis Mai 1932 in der Boulangerie-Patisserie Scheidegger in La Tour-de-Peilz. Werktags wie sonntags musste er morgens um ein Uhr aufstehen und an die Arbeit, und dies für einen Monatslohn von 90 Franken!
Danach war er in Zürich im Cafe von Paul Bertschi als Konditor tätig und anschliessend in der Bäckerei-Konditorei Haas an der Neustadtgasse. Im Abgangszeugnis von Egon Haas vom Mai 1934 lesen wir: «Er hat sich während dieser Zeit als sehr treu, fleissig, dienstfertig, ehrlich und flink erwiesen, so dass ich diesen strebsamen Burschen meinen verehrten Kollegen aufs beste empfehlen kann.» Seinen Militärdienst absolvierte er bei einer Flabkompanie als Küchengehilfe.

UMZUG IN DIE AU

Am 6. Juni 1934 erwarb Vater Lips das Wohn- und Wirtshaus «Zum Bahnhof» in der Au samt zugehöriger Bäckerei mit Ladenlokal. Dazu gehörte die gegen das Bahnhofgebäude gelegene gemütliche Gartenwirtschaft mit den geköpften, schattenspendenden Kastanienbäumen. Am 1. Juli nahm Familie Lips in der Au Wohnsitz. Alle setzten sich voll und ganz ein: Vater Lips als Wirt, Hans als Bäcker und Konditor, vor allem aber war es Mutter Luise, eine geborene Boesch, die das Szepter führte und «de Chaare gschleikt hed». Die Serviertöchter und Küchenmädchen waren ihr unterstellt, und auch im Laden musste sie zum Rechten sehen. Sie war eine überaus tüchtige Frau und verstand es, die andern mitzuziehen. «Chum cho luege, mer händ di schliessli nüd für de Gstaad!», mit diesen Worten rief sie Hans jeweils zur Arbeit, oder: «Tue nu schaffe, denn vergönd der d Flause!», worauf ihr Hans entgegnete: «Aber Muetter, es isch doch au schön, na e paar Flause z haa.»

HANS LIPS ALS BÄCKER UND KONDITOR

Hans Lips war ein tüchtiger Bäcker, der sein Handwerk ausgezeichnet verstand. «Am Morge früe hed mer de Ofe mit Burdene iigheizt, denn d Gluese mit der Chrucke hindere gschobe, der Ofe mit eme nasse Lumpe anere Stange ghudlet und denn s Broot iigschosse. Ja, das isch na Broot gsii, e so richtig chreftig und knuschprig und hed mängsmal au na en Chropf ghaa.» Am Sonntagmorgen musste jeweils zuerst die Wetterlage studiert werden, denn je nachdem benötigte das Hotel Au mehr oder weniger Brötchen, Weggli oder Nussgipfel. Oft klingelte das Telefon auch am Sonntagmittag: «Du mer händ zwenig, machsch namal en Schuss.» Nicht nur das Hotel, auch private Kunden, wie die Familie von Schulthess oder die Familie Weber von der Brauerei, wurden sonntags mit frischen Backwaren beliefert.
Bekannt war Hans Lips für seine feinen Cremeschnitten und Mohrenköpfe wie auch für seine Kastanientörtchen, heute Vermicelles genannt. Die Kastanien mussten von Hand eingeschnitten, dann gebraten, aus der Schale gelöst, durch die Mühle gedreht und zu einer feinen Masse verarbeitet werden. Ähnlich arbeitsintensiv war die Herstellung von Marzipan, indem man die Mandeln erst sieden, dann häuten und anschliessend mahlen musste.
Auf Geburtstagsfeste konnte er hie und da eine seiner begehrten Erdbeer- oder Ananastorten anfertigen, für Namenstage einen Hefekranz, und auf die Festtage hin wurden Zöpfe gebacken und Pralinen hergestellt. Alles, was missriet oder zerbrach, «hed mer i d Schraps-Büchs ine taa», dann den Inhalt durch die Mühle gedreht und davon «Zähnerstückli» oder eben «Schrapsguezli» hergestellt.
Für viele Bauernfamilien hat Hans Lips regelmässig Wähen gebacken. Am Morgen brachten die Angehörigen in Körben die Zutaten: Kirschen, Zwetschgen, Aprikosen, Apfelschnitze usw., dazu den Guss in einem Krug oder Kesselehen. «Was wänd er, Broot- oder Weggliteig?» Mittags um Viertel vor zwölf konnten die fertigen Wähen in den grossen runden Blechen abgeholt werden. Der Guss, den die Leute gebracht haben, sei manchmal alles andere als appetitlich gewesen, vor allem wenn sie dazu alten, bereits übel riechenden Rahm verwendet hätten. Diese Art Wähen seien jeweils aus dem Backofen direkt ins Freie gewandert!
Als die Kinder vom Haldenhof eines Tages ihre Wähe nach Hause trugen, ging beim Brunnenhof Ernst Huber senior auf sie zu, zückte sein Taschenmesser und sagte zu ihnen: «Jetzt wott i grad es Stuck usehaue.» Die Kinder bekamen fürchterlich Angst, begannen zu weinen und rannten auf dem kürzesten Weg heimwärts.

Restaurant Bahnhof mit Bäckerei-Conditorei und Laden (unter der Terrasse) sowie Gartenwirtschaft mit Kastanienbäumen. Im Hintergrund das Hotel Au. Aufnahme von 1934.

AUF DER BROTTOUR

Wenn die Arbeit in der Backstube beendet war, musste Hans Lips das Brot und die Backwaren der Kundschaft bringen. «Mängi Chrääze voll hed er dur d Au-Stääge uuf is Hotel ue treit.» Oft war er auch mit dem Wägelchen, das sein Berner Sennenhund «Bäri» zog, unterwegs oder suchte auf seinem Militärvelo mit einer vollbepackten «Hutte» am Rücken die einzelnen Bauernhöfe auf. Ein dunkles Pfünderli kostete damals 28 Rappen, ein Vierpfünder 95 Rappen.
Natürlich spielte man ihm auf seiner Brottour hie und da auch Streiche:
«D Wirtstöchtere vom Meilibach», so erzählte er, «das sind psunderi Luuscheibe gsii.» Einmal zogen sie seine «Hutte» das Wiesenbord hinauf und versteckten sie hinter dem Schöpfchen. «Für daas sinds de nüd z foul gsii.» Ein andermal klemmten sie ihm ein frisches Trester-Zigerli unter den Sattel. Als er sich aufs Fahrrad schwang und in die Pedalen trat, wurde sein Hinterteil immer feuchter und begann übel zu riechen. Zu Hause angekommen fragte ihn seine Mutter: «Was isch au loos, häsch i d Hose gsch ... ?»
Die grosse Brottour nach Wädenswil, in die Kniebreche, Riedwies, Gottshalde und nach Käpfnach besorgte Vater Lips zusammen mit dem Küchenmädchen in seinem alten Citroen.
Am 1. März 1946 starb Vater Lips in seinem 67. Lebensjahr, und eine grosse Trauergemeinde nahm in der Kirche Wädenswil von ihm Abschied. Sohn Hans führte den Betrieb zusammen mit seiner Mutter und einem ausgezeichneten Angestellten, Fritz llli, der bei ihnen seit 1944 tätig war, weiter.

GROSSE PLÄNE

Gegen Ende der dreissiger Jahre weilte sein Cousin Georg Boesch jedes Wochenende bei Familie Lips in der Au. Mit ihm zusammen verbrachte Hans Lips manch frohe und heitere Stunde. Die beiden waren unternehmungslustig und schmiedeten grosse Pläne: Sie wollten miteinander nach Kapstadt in Südafrika auswandern und sich dort als Grossfarmer betätigen. Ihre Fantasie kannte keine Grenzen. So verkündeten sie, sie müssten noch ein Boot kaufen, um damit jeweils am Morgen die Milch abzurahmen. Auch müssten sie noch nach Niederweningen zu Bucher-Gujer fahren und eine moderne Mähmaschine kaufen, um für ihre zahlreichen Angestellten das Suppengrün schneiden zu können. Natürlich lösten sol­che Reden jeweils heiteres Gelächter aus. Vater Lips hingegen erzürnte darob und sagte: «Jetzt hau i dän jedem linggs und rächts eis a d Oore ane, wenn er nüd äntli uufhöred.»
In jener Zeit war Hans Lips auch verlobt, bis sich herausstellte, dass er sich für eine Ehe nicht eignete.

SÄNGER UND SCHAUSPIELER IM MÄNNERCHOR ORT

Hans Lips sang mit seiner hellen Tenorstimme im Männerchor Ort und nahm auch lebhaft an den Vereinsanlässen und Sängerfesten teil. Jedes Jahr im Januar oder Februar fand an einem Samstagabend im Hotel Engel in Wädenswil das «Örtler­Chränzli» statt. Es war für die Bewohner der Au das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis im Jahreslauf, zu dem die Herren entsprechend herausgeputzt und die Damen in langen Röcken erschienen. Der Männerchor und der Töchterchor Ort trugen Lieder vor, und anschliessend wurden die Gäste mit einem Theaterstück unterhalten, deren Rollen Wochen voraus bei den einzelnen Schauspielern zuhause einstudiert wurden. Dieses Theater bildete einen besonderen Höhepunkt, besonders wenn sich Hans Lips von seinem Temperament mitreissen liess, in eigener Regie über seine Rolle hinaus spielte, und die andern schauen mussten, wie sie mit ihrem Text wieder zurecht kamen. Am Sonntagnachmittag nach dem «Chränzli» war im Hotel Au ab 15 Uhr Tanz, und die Wirtin, Frau Imboden – eine richtige Helvetia – sorgte mit ihren beiden Töchtern für das leibliche Wohl der Gäste.
Aber damit noch nicht genug. In der folgenden Woche wurde noch die «Theater Beerdigung» gefeiert. Alle Schauspieler kamen nochmals zusammen, um ihre künstlerische Leistung gebührend zu begiessen. «Fröi di Gurgeli, es chunnt es Gwitter», sagte Hans Lips und dann ist wieder ein Glas geleert worden.

Hans Lips mit Hund «Bäri» und Wägelchen auf der Brottour.

Männerchor Ort am Verbandssängerfest Horgen, 1950. Von rechts nach links und von vorn nach hinten: Jakob Hauser, Werni Brändli (Fähnrich), Paul Ehrsam, Hans Lips; Ernst Landolt (mit Schleife), Hans Hausamann, Willi Bär; Alwin Zollinger, Ernst Huber, Hans Hesse; Ernst Signer, Ruedi Landis, Albert Streuli, Walter Isler.
 

«SAMICHLAUS» UND FASNÄCHTLER

Besonders begehrt war Hans Lips als Sankt Nikolaus. Während über 25 Jahren besuchte er die Kinder des Kinderheims «Grünau» als Samichlaus und brachte jedem einen von seiner Mutter gebackenen «Gritibänz». Mit viel Einfühlungsvermögen und Humor redete er den Kindern aus seinem grossen Buch heraus zu. An drei weiteren Abenden war er jeweils in der Au als «Chlaus» unterwegs. In einer Familie mit vier Töchtern wollte die zweitälteste ihr Verslein nicht sagen. Da meinte Hans Lips: «Jä wenn du diis Versli nüd uufseisch, so bliib ich eifach da.» Da gibt die Jüngste ihrer Schwester einen Tritt ans Schienbein und befiehlt ihr: «Sägs äntli, so gaad er!»
Hans Lips war ein begeisterter «Fasnächtler». Einmal trat er als Kartenleger auf, um den Leuten die Zukunft vorauszusagen, ein andermal als Scheich, meistens aber als «uuftunnereti Jumpfere» mit viel Schmuck und Gepränge. Da er sehr viele Leute kannte und über sie entsprechend viel wusste, vermochte er mit seinen Andeutungen und Sprüchen manche in Verlegenheit zu bringen. Grass war natürlich seine Freude, wenn sein Kostüm prämiert oder gar mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde.

Einige Örtler an der Wädenswiler Fasnacht 1947. Von links nach rechts: Hansruedi Isliker, Ernst Landolt, Hans Lips als «uuftunnereti Jumpfere». Rechts aussen Gottfried Hottinger.

AUF EIGENEN WEGEN

In seiner Freizeit fuhr er oft nach Zürich und traf sich dort mit Freunden und Bekannten. Seine Mutter, die er sehr verehrte, war eine recht gestrenge Frau und sagte ihm auch in späteren Jahren hie und da, wo's lang ging. Wenn sie ihn aber jeweils fragte: «Wo bisch wider gsii?», so gab er ihr zur Antwort: «Frög nüd, so wirsch ä nüd aaggloge.»
Als er sein Auto Marke Standard Vanguard einst am Rennweg in Zürich parkierte, fiel vom benachbarten Haus eine riesige Menge Schnee aufs Autodach und drückte es derart ein, dass es aussah wie eine Badewanne. Trotzdem konnte sich Hans noch hinters Steuer zwängen und fuhr direkt nach Wädenswil zu Schmied Wyss. Dieser kroch in den Wagen, machte einen Katzenbuckel und drückte mit seinem Rücken das Autodach nach oben. Plötzlich ein heftiger Knall und das Dach hatte wieder seine ursprüngliche Form.
Später fuhr Hans Lips einen DKW, «eine mit somene Chääferfüdli», wie er sagte, und unternahm verschiedene Reisen, zum Beispiel nach Venedig. Regelmässig half er auch seinem Freund Gusti Fasel, an der Basler Mustermesse die «Friburger­Stube» führen oder weilte mit seinem Freund Charly in Marokko, in Marakesch.

DIE WIRTSCHAFT «ZUM BAHNHOF»

Sie war ein begehrter und geschätzter Treffpunkt, nicht nur für die Einheimischen, auch angesehene Horgner samt ihrem Gemeindepräsidenten gingen dort ein und aus.
Jeden Samstagabend kam ein Coiffeur aus Wädenswil und schnitt von zirka 7 Uhr an im Nebenstübchen den Örtlern die Haare. Das war für die Männer überaus angenehm. Sie konnten in der Wirtsstube jassen. Wenn sie fürs Haareschneiden an der Reihe waren, sprang kurz ein anderer für sie ein. Ein Coiffeur, der nach getaner Arbeit gerne noch ein bisschen verweilte, wurde allerdings von seiner etwas bärbeissigen Frau oft zeitig nach Hause geholt: «So jetz chunsch hei, suscht erläbsch öppis!»
Weil die Männer in der Gaststube meistens jassten, was die Frauen überaus langweilte, kaufte Mutter Lips zu deren Unterhaltung einen Fernsehapparat. Dies war der erste Fernsehapparat, der in der Au installiert worden ist. Mühsam hingegen wurde das Wirten, wenn die «Höckler ums Guggers nüd händ welle uufstaa – mer hett omi chönne meine, es heig Harz uf de Stüel.» In solchen Situationen habe Frau Lips etwa gesagt: «Chömed, mer gönd is Bett, so chönd d Gescht hei.»
Hans war kein begeisterter Wirt: «Da muesch jede Aabig vo jedem Lööli alles ablose und dänn am andere Marge am zwei oder drüü wider go heble.»

HANS LIPS WIRD BERUFSFISCHER

Zur Entspannung fuhr Hans Lips mit Fischer Hugentobler von Naglikon hie und da auf den See und half ihm bei seiner Arbeit. Immer grösser wurde seine Freude an der Natur und an der Arbeit im Freien. Als Heinrich Hugentobler seinen Beruf altershalber aufgeben wollte, kam für Hans Lips die Gelegenheit zu einem Neuanfang. Sein Vorgänger führte ihn gründlich in die Kenntnisse der Fischerei ein und überschrieb ihm am 12. Mai 1955 Wohnhaus, Schopf und Schiffshütte in Naglikon. Die Bäckerei konnte er seinem langjährigen treuen Mitarbeiter Fritz Illi verpachten, die Wirtschaft Frau Schäppi. Er aber zog mit seiner Mutter vorübergehend nach Naglikon. Beim Restaurant Bahnhof liessen sie am Ort der Gartenwirtschaft mit den Kastanienbäumen einen Neubau errichten, in dessen oberste Wohnung sie 1958 miteinander zurückkehrten. Der Beruf des Fischers erfüllte Hans Lips mit grosser Befriedigung.

«Die Frau Striebel müdem grossen Riebe!» beim Filetieren.
Der Reiher hat die ihm von Hans Lips zugeworfene Sehwale geschnappt …

Sonntags wie werktags legte er abends seine Netze aus, um sie am frühen Morgen wieder einzuholen. Felchen, Egli, Hechte und auch Seeforellen waren die begehrten Fischarten. Je nach Witterung hingen manchmal 10 bis 12 Kilo oder aber auch 60 bis 80 Kilo Fische in den Netzen. In seinem Schöpfchen ist noch eine Fotografie mit sechs über dreipfündigen Seeforellen zu sehen, die ihm an einem einzigen Tag ins Netz gingen. «Aber ä wänn mer emal fasch nüüt gfange händ, wäge dem hämmer nanig müesse de Kitt vo de Feischter ewägg frässe.»
Wer ihm half, die Fische ausweiden und filetieren, war Frieda Striebel, gebürtig von der Schwäbischen Alp. Sie verstand ihr Handwerk gut, arbeitete sie doch schon bei seinem Vorgänger und war dessen Haushälterin. Als jemand Hans Lips riet, Frau Striebel den Lohn etwas zu erhöhen, meinte er: «Nüt isch, en Föifliiber tuets dänk scho, die cha ja hocke bi der Arbet.»
Seine Fische verkaufte er an Privatkunden und Restaurants. Hatte er viele Felchen, lud er morgens um 9 Uhr zwei drei Kistchen auf dem Perron in der Au direkt in den Zug ein. In Zürich brachte sie der Kondukteur in den Schnellzug, und nachmittags um 2 Uhr waren sie bereits in Freiburg.
Die meisten Fische brachte er ins Hotel Au. Wenn dort Hochbetrieb herrschte, sagte der Wirt Fons Steinbrink: «Hans, deet isch d Schooss und d Bluuse, weisch was z tue häsch.» So habe er die mitgebrachten Fische gleich selber gebacken oder sich anderweitig nützlich gemacht.

FREUND DER GRAUREIHER UND DER TIERE

Jeden Morgen wartete ein Graureiher auf dem Dach des Bootshauses, setzte sich, wenn Hans losfuhr, vorne auf seinen Gransen und begleitete ihn auf der ganzen Fahrt. Wenn starker Wind war, duckte er sich und machte sich ganz klein. Wenn andere Reiher in die Nähe kamen, wurde er eifersüchtig. Ab und zu fütterte ihn Hans mit einer Sehwale. Aber da sei höchste Vorsicht geboten gewesen, denn sobald der Reiher den Fisch erblickt habe, sei sein spitzer Schnabel wie ein Pfeil nach vorne geschossen.
Im Sommer, wenn die Sehwalen dem Ufer entlang laichten und den Reihern fast in den Schnabel schwammen, sei Hans Lips nicht mehr gefragt gewesen. Aber im Herbst, wenn die Fische sich in die tieferen Schichten des Sees zurückzogen, da war er ihnen wieder recht. Zeitweise seien bis vier Reiher in seinem Boot mitgefahren.
Eine besondere Beziehung hatte er auch zu seinem Berner Sennenhund «Bäri», den er für seine Brottour vors Wägelchen spannte. Einst musste er am Schiffssteg in der Au ein Hundertliterfässchen Wein, das sie bei Zollikofers in Meilen bestellt hatten, abholen und mit Hund und Wägelchen über den Auhügel transportieren. Da die Fracht recht schwer war, habe «Bäri» immer wieder zurückgeschaut, ob Hans auch wirklich stosse. Da rief er ihm zu: «Zie nu Bäri, ich stoosse scho!» – und denn seig er omi wider greist.» Hans Lips hatte auch Kaninchen und Hühner, fütterte seine beiden Gänse «Tschimi» und «Immeli», dazu die verschiedensten Enten und Taucherli. «Ich han e ganzi Menagerie, die Viicher frässed mich emal na z arme Taage.» Im Winter streute er auf dem Weg vom Bahnhof nach Naglikon für Vögel und Eichhörnchen Nusskerne unter die Büsche.

… und würgt sie zu dessen grosser Freude hinunter. Aufnahme von 1984.

ES GIBT NICHTS GUTES, AUSSER MAN TUT ES

Hans Lips hatte einen gesunden und starken Glauben. Sein Leben stand auf gutem Grund. Als sein Vater anlässlich eines Pfarreinsatzes auf der Urdorfer Kanzel das Wort ergriffen habe, sei Hans, der mit der Mutter unten in der Bankreihe sass, von einem ehrfürchtigen Staunen ergriffen worden. Dieses Erlebnis weckte in ihm die Liebe zum christlichen Glauben und zur evangelisch-reformierten Kirche. Aber auch in der Natur und bei seiner Arbeit als Fischer durfte er etwas von dem grossen Geheimnis spüren, das hinter allem steht: «Weisch, wänn ich am Morge uf de See use gfaare bi, de Fischreiher vorne uf em Granse, und denn d Sunne uufggange isch, dänn isch für mich de Hirne! uf Erde gsi.»
Gerne half er auch und war glücklich, andern eine Freude zu bereiten. Schon seine Mutter legte einer armen Frau, wenn sie Brot kaufte, gerne noch einen Nussgipfel in den Korb oder gab ihr sonst etwas mit auf den Weg. Wenn einer in die Rekrutenschule einrücken musste, erhielt er zum Abschied eine doppelte Tafel Schokolade. Hans hat unzählige Wähen gebacken und sie Freunden verschenkt. War er irgendwo eingeladen, brachte er oft Fische mit und bereitete sie selber zu. Frau von Schulthess überreichte er zum achtzigsten Geburtstag ein Tablett mit einer zweikilönigen Seeforelle, der er ein Röslein ins Maul gesteckt hatte. Ihre Freude war so gross, dass sie ihm mehrmals dafür dankte.
Vielen half er im stillen, wobei seine Gutmütigkeit auch ausgenützt wurde. Wenn er es gewahrte, lachte er über sich selber und meinte nur: «Was wotsch? Tubels Elise Sohn.» Er machte Krankenbesuche und stellte sich, wo immer es nötig war, mit seinem Auto als Chauffeur zur Verfügung. Bei seinem verwitweten Hausgenossen Karl Bachmann guckte er oft herein und rief: «Kari, wie läpsch, zablisch na?»
Auch für die alleinstehende Marti Salzmann, die dringend eine Wohnung benötigte, setzte er sich ein. Er fragte bei seinen guten Freunden im Brunnenhof um ein Plätzchen. Als Frau Huber sagte, sie wolle es sich gerne überlegen, gab er ihr zur Antwort: «So Jeanette, mach kei Böge!», und Maiti erhielt sogleich ein wundervolles neues Zuhause.
Auch mit Kindern und Jugendlieben verstand sich Hans Lips ausgezeichnet. Sie spürten sein Wohlwollen, und seine humorvolle und liebenswürdige Ausstrahlung weckte Vertrauen.
Unsere beiden Buben dmften, als sie in der vielten und sechsten Klasse waren, mit Hans Lips einmal frühmorgens die Netze einholen gehen. Zur Sicherheit band er jeden mit einem Strick um den Bauch an einem Ring seines Gransens fest. Dann nahm er Netz um Netz auf. Als noch etwa hundert Meter Netz im Wasser lagen, sagte er zu ihnen: «Wänn jetzt namal e Seeforäll chunnt, de chönd er si mithei näh.» Wie Sperber blickten die beiden ins Wasser, und als tatsächlich noch eine Forelle auftauchte, rief unser Jüngster: «Ou, jetz hämmer aber scho na Schwein ghaa», worauf Hans von Herzen lachte und ihnen die prächtige Forelle mit nach Hause gab.
Wie manchen alten Freund und Schulkameraden, wie manchen alten Örtler begleitete er auf seinem letzten Gang. Hie und da kam er nach einer Abdankung zu mir und sagte: «Peter, hütt hesch dä de Vogel wider abgschosse.» Da wusste ich, Hans war heute mit seinem Pfarrer zufrieden.

Hans Lips beim Interview von Sabine Weiss, Frühjahr 1996.

Mit seinem Nachbarn Dölf Haltmeier unter dem Vordach des Schöpfchens, Sommer 1996.

UNTER DEM VORDACH SEINES SCHÖPFCHENS

Im Jahre 1962 verkaufte Hans Lips das alte Wohnhaus mit Wirtschaft und Bäckerei beim Bahnhof, und am 3. August 1970 verstarb Mutter Lips im 85. Lebensjahr und wurde auf dem Friedhof Wädenswil zur Ruhe gebettet.
Auch nachdem Hans am 30. April 1990 in seinem 78. Lebensjahr seinen Beruf aufgegeben hatte, ging er jeden Tag nach Naglikon, seine Tiere füttern. Viel und gerne sass er unter dem wetterfesten Vordach seines Schöpfchens. Dieser traute Winkel ist durch einen Stapel Holzkistchen, in denen früher Fische transportiert wurden, vom Nordwestwind abgeschirmt. Zahlreich waren die Besucherinnen und Besucher von nah und fern, mit denen er über Gott und die Welt diskutierte und sich mit ihnen aufs beste unterhielt. Erstaunlich, wie viele Leute er kannte und wie genau er über die Geschichten der Familien aus der Au Bescheid wusste. Einmal machte sogar eine Frau aus Chur in der Au Zwischenhalt, um den Mann kennenzulernen, den sie täglich vom Schnellzug aus unter seinem Vordach sitzen sah.
Hans Lips schöpfte aus einer reichen Lebenserfahrung und gab seine Kenntnisse auf originelle und unvergessliche Weise weiter. Misslang ihm etwas oder musste er eine Niederlage einstecken, so sagte er: «Ja, da wird der dänn de Gibel scho wider gchriesnet.» War er müde und erschöpft von seiner Arbeit, habe die Mutter jeweils zu ihm gesagt: «Jetz chasch ja is Bett und morn luegsch de Hirne! wider andersch aa.» Briefe, bei denen er vermutete, sie brächten ihm Ärger, warf er gleich ungeöffnet in den Papierkorb. Wollte er einen vor einem zweifelhaften Gesellen warnen, so sagte er: «Pass uuf, dä isch faltsch wie Galgeholz.»
Er hatte ein weites Herz und viel Verständnis für alles Menschliche: «Weisch, de Hergott hed halt verschideni Choschtgänger, hasligi und buechigi.» Nur eines erboste ihn: Die Ausländer, die in die Schweiz kamen, um sich kriminell zu betätigen und die Gutmütigkeit der Schweizer auszunutzen: «Mir sind vil z larsch gäge die Hundwaar, wo da ine chund.»
Aber auch gegen Schweizer, die nie zufrieden waren, konnte er sich ereifern: «Dene Stänkerer sett mer e Rageete in Hinder stecke und si uf Moskau schüüsse.» Er liebte seine Heimat, ganz besonders die Au, und war stolz, ein Schweizer zu sein.
Unter dem Vordach seines Schöpfchens empfing er auch die Schülerinnen und Schüler, die ihn jedes Jahr einzeln oder gruppenweise interviewten und sich nach seinen Erlebnissen, Erfahrungen und Ansichten und den vergangenen Zeiten erkundigten. Er bewirtete sie grosszügig, und sie waren begeistert von seiner lebhaften Erzählweise und seinem Humor. Schon wie er sich ihnen vorstellte, war einmalig: «Ich bi de Hans Lips, hesch voorigs Gält, so gib's!» Als er sich verabschiedete, meinte er: «So, jetzt mues i na de Hüener go d Schwänz uebinde, dass wider brav legged.» Während des Winters 1996 sagte Hans öfter: «Mini Pumpi wott eifach nümme so rächt» und zeigte auf sein Herz, «uf eimal nimmt's di halt um der Egge, da chasch nüüt mache.»
Am Silvesterabend erkundigte sich eine Vertraute, die sich jahrelang liebevoll um ihn gekümmert hatte, nach seinem Ergehen. «Weisch, ich früüre e so. Ich bi ganz eläi. Ich ga früe is Bett.»
Am Neujahrmorgen 1997 lag er auf seinem Kissen, die Arme übereinander gelegt, das Gesicht etwas zur Seite – und ein tiefer Friede war über ihm.



Peter Weiss