Wädenswil um 1875

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1975 von Peter Ziegler

Die 1870er Jahre waren für die Gemeinde Wädenswil, die damals rund 6000 Einwohner zählte, eine Epoche des Aufschwungs und der Neuerungen. Die Entwicklung auf den Gebieten des Verkehrs und der Technik wandelten gerade in jenen Jahren das Bauerndorf zur Industriegemeinde, die sich auch für soziale Probleme aufgeschlossen zeigte.
Während Jahrzehnten hatten Marktschiffe, Dampfboote und Postkutschen die Verbindung mit den Seegemeinden und der Stadt Zürich hergestellt. Nun baute Wädenswil das Verkehrsnetz aus. Ab 1. Juni 1867 fuhr die Staatspost nach dem Wallfahrts- und Marktort Einsiedeln, und als weitere Linie folgte auf den 1. Juni 1871 der Postwagenkurs Wädenswil-Schönenberg, der dann 1872 bis Hütten ausgedehnt wurde.
Entschlossen kämpften Wädenswiler Industrielle in den 1860er Jahren gegen das Projekt einer Reppischtalbahn und setzten, um den Bau einer linksufrigen Eisenbahnlinie zu fördern, erhebliche Mittel ein. Nach einer Zeit der Schwierigkeiten wurde 1873 mit dem Bau begonnen. In Wädenswil musste die Nordostbahngesellschaft verschiedene Häuser abtragen und mehrere Haaben mit Steinen und Schutt auffüllen lassen, ehe man das Geleise verlegen konnte. Der Güterschuppen kam ins Areal des eingedeckten Hafens bei der Sust zu liegen; der Bahnhof schloss unmittelbar nordwestlich an. Er lag also direkt vor dem heutigen «Du Lac». Nach knapp dreijähriger Bauzeit konnte die linksufrige Bahn am 18. September 1875 feierlich eröffnet und zwei Tage später dem Betrieb übergeben werden.
Noch während den Vorstudien für die linksufrige Linie konstituierte sich 1870 in Wädenswil ein Komitee zum Bau einer Bahn nach Einsiedeln. Der Verwaltungsrat der Aktiengesellschaft und die beiden Gemeinden Wädenswil und Einsiedeln hatten anfänglich mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen: das Trasse war mangelhaft vermessen, dann kam der Konkurs der Baufirma Kuchen & Napier. Gegensätze zwischen Persönlichkeiten, auf die man angewiesen war, verschlimmerten die Lage. Es folgte ein Streit um das von Ingenieur Kaspar Wetli erfundene Traktionssystem und schliesslich am 30. November 1876 ein durch verschiedene Missverständnisse heraufbeschworenes Unglück, das einige Menschenleben kostete und beinahe zum finanziellen Ruin des Unternehmens führte. Nachdem man im März 1877 mit der Nordostbahn einerseits und der Uetlibergbahn andererseits Mietverträge über Roll- und Traktionsmaterial hatte eingehen können, war die Wädenswil-Einsiedeln-Bahn am 3. Mai 1877 endlich in der Lage, den fahrplanmässigen Betrieb aufzunehmen.

  Ein Plakätchen der Südostbahn. Zürcher Kalender 1893.

  Verschiedene Typen von Lokomotiven und Waggons aus Geschäftsberichten der Nordostbahn.
Verschiedene öffentliche Dienste, an deren Vorhandensein wir uns längst gewöhnt haben, nahmen in den 1870er Jahren teils auf private Initiative hin, teils auf genossenschaftlicher Basis ihren Anfang. Am 15. Januar 1871 beschloss die Gemeindeversammlung die Übernahme der bis anhin privat betriebenen Strassenbeleuchtung. Wenn sich die Gemeinde nicht zum Erwerb des Netzes mit den 27 öffentlichen Oel-Laternen hätte entschliessen können, hätte man die Beleuchtung der hohen Kosten wegen ganz einstellen müssen.
Am Kirchweihmontag 1871 konnten in Wädenswil die ersten fünf Hydranten in Betrieb genommen werden. Sie waren auf Initiative der Seidenindustriellen Zinggeler erstellt worden. Die einarmigen Hydranten standen bei der «Krone», beim «Hirschen», bei der «Sonne», bei der Kirche und auf dem Leihof. Sie waren an die Wasserleitung einer privaten Gesellschaft angeschlossen.
Am 29. Juli 1873 konstituierte sich die private Gasbeleuchtungsgesellschaft Wädenswil. Als Präsident amtete Walter Hauser, der spätere Bundesrat, als Quästor Gemeinderat Blattmann zum Seehof. Die Sparkasse und die Leihkasse übernahmen ein Obligationenkapital von 70 000 Franken. Private zeichneten ein Aktienkapital von 60 000 Franken. Noch im Jahre 1873 lief eine provisorische Subskription für Gasflammen an. Im Januar 1874 schrieb der Verwaltungsrat der Gasbeleuchtungsgesellschaft die Maurer- und Zimmermannsarbeiten für die Gebäulichkeiten der «Gasanstalt» (auf dem heutigen «Gasiplatz») und für den Bau des «Gasometerbassins» aus. Im April wurden die Erdarbeiten für rund 6 Kilometer Gasleitungen vergeben. Anfang Juni wurden die Gebäude der Gasfabrik unter Dach gebracht, und bis Mitte Monat war auch die Gasometergrube erstellt. Die Oefen und die Rohrleitungen lieferten die Gebrüder Sulzer in Winterthur. Am 13. September 1874, einem Sonntag, wurde das Gaswerk eröffnet. Im ersten Betriebsjahr zählte man 1076 Flammen, die 76 privaten Gaskonsumenten gehörten. Dazu kam die Strassenbeleuchtung, die mit der Eröffnung des Gaswerkes ebenfalls auf Gasbetrieb umgestellt worden war. Im Jahre 1874 gab es in Wädenswil 72 Strassenlampen, davon allein 32 an der Seestrasse.
Da beinahe die Hälfte aller Brunnen im Dorf verunreinigtes Trinkwasser lieferte, drängte sich für die wachsende Siedlung eine umfassende Versorgung mit Quellwasser auf. Am 19. Januar 1872 beschloss die Sparkassagesellschaft Wädenswil, ein «Unternehmen für die Versorgung des Dorfes mit Trinkwasser» zu gründen und setzte für die Vorarbeiten einen Kredit aus.

Bogenlampe und Glühlampe verdrängten mehr und mehr die Gasbeleuchtung.

Der Zürcher Ingenieur Burkhard untersuchte im Frühsommer 1872 die Quellenverhältnisse in der Umgebung des Dorfes und riet schliesslich der aus zwei Mitgliedern der Sparkasse und aus zwei Wädenswiler Gemeinderäten zusammengesetzten Kommission, sie solle die im Gemeindegebiet von Richterswil gelegenen Mülenen-Quellen erwerben. Zwar musste man dann auf den Vorteil des natürlichen Druckes verzichten; dafür erhielt man eine auf lange Zeit genügende Menge trefflichen Trinkwassers. Zu Beginn des Jahres 1876 waren nach zähen Verhandlungen die letzten Verträge unterzeichnet.

Das Baukapital wurde auf 220 000 Franken veranschlagt. Es sollte durch 600 Aktien zu je 200 Franken und durch 100 000 Franken in Obligationen gedeckt werden. Die Geldbeschaffung fiel in eine ungünstige Zeit. Der Zinsfuss stand sehr hoch. Und eben hatte die Wädenswil-Einsiedeln-Bahn, für deren Bau viele Wädenswiler Aktien gezeichnet hatten, wieder einen Schlag erlitten, und nun stand man allen neuen technischen Plänen skeptisch gegenüber. Mit knapper Not konnten 146 Aktionäre gewonnen werden, welche das zur Einrichtung der Wasserversorgung nötige Kapital von 120 000 Franken zeichneten. Im Verlaufe des Jahres 1876 schritt das Werk rüstig voran. In Mülenen entstanden die Quellfassung und das Pumpenhaus, im Dorfgebiet wuchs das Leitungsnetz, und auf dem Bühl ob Wädenswil gingen die beiden Reservoire, die zusammen 328 Kubikmeter Überschusswasser speichern konnten, der Vollendung entgegen. Für das Feuerlöschwesen wurden 68 Hydranten an die Leitung angeschlossen, und auf dem Weinrebeplatz, wo das Leitungsnetz ausgespült werden konnte, errichtete man einen provisorischen Springbrunnen, der den Einwohnern bald so gefiel, dass man ihn beibehielt. Am 1. Februar 1878 nahm die als Privatunternehmen organisierte «Quellwasserversorgungsgesellschaft Wädenswil» die neue, leistungsfähige Druckwasserversorgung in Betrieb.

Sodbrunnen im Keller des Restaurants zum Höfli. Die Seitenwände sind sorgfältig aus Kalksteinen aufgeschichtet.

Noch zu Beginn der 1870er Jahre gab es keine Kehrichtabfuhr. Wenn man den Abraum nicht hinter dem Haus kompostieren konnte, warf man ihn in einen der noch offen zum See fliessenden Dorfbäche, oder man brachte ihn selbst auf den Gemeindekehrichtplatz an der Stelle des heutigen Seeplatzes. Nur eines war verboten: die Schuttablagerung in den Dorfstrassen. Durch den Bahnbau wurde Wädenswil vom Seeufer abgeschnitten. Viele Bewohner konnten daher ihre Abfuhr nur auf grossen Umwegen zur Deponie am Seeplatz bringen. Aus diesem Grunde ordnete der Gemeinderat im Jahre 1876 an, dass jeden Samstag ein bis zwei von Pferden gezogene Kehrichtwagen das Dorf passieren und den Hauskehricht einsammeln sollten.
Schon 1839 versuchten einige Wädenswiler, eine öffentliche Badanstalt im See zu verwirklichen. Als 1856 wieder Klagen laut wurden über das widerwärtige öffentliche Baden der Jugend auf Haaben und Seeplätzen, schuf eine Kommission aus Vertretern des Gemeinderates, des Stillstandes (Kirchenpflege), der Dorfschulpflege und der Lehrerschaft eine Seebadanstalt vorhalb der Weinrebe. Sie wurde im Juli 1857 eröffnet und zu Beginn der 1860er Jahre erweitert. 1875 bewilligte die Gemeindeversammlung einen Kredit von 16 000 Franken für eine neue Badanstalt bei der Weinrebe mit je sechs verschliessbaren Zellen für Männer und für Frauen. Sie stand bis 1896 und wurde dann durch einen zweckmässigen Neubau ersetzt.
Für den Sport wurde in den 1870er Jahren in Wädenswil noch mehr getan. Am 12. März 1871 beschloss die Gemeindeversammlung den Bau eines Turnschopfes in der Eidmatt. Das 70 Schuh lange und 40 Schuh breite hölzerne Gebäude kam im August des gleichen Jahres unter Dach. Es diente Vereinen und Schulklassen bis 1962.
Auch auf sozialem Gebiet kam man in den 1870er Jahren in der Gemeinde einen Schritt weiter. 1870 erwarb der sozial denkende Weinbauer Julius Hauser auf einer öffentlichen Steigerung den Bauernhof «Bühl». Noch im selben Jahr wurde hier das «Asyl für schwachsinnige und kränkliche Kinder» eröffnet. Als Leiter amtete der in der Pflege Geisteskranker bewanderte Prediger Karl Melchert, der das Heim drei Jahre später zu Eigentum erhielt.

Idyll aus der Badi um die Jahrhundertwende.

Ausschnitt aus einer Swissair-Luftaufnahme von 1920. Man erkennt den alten Bahnhof, das Gaswerk, den Friedhof, den Turnschopf auf dem Eidmattareal.

Im Mai 1874 wurde im Schützenhaus am Rotweg die Freischule eröffnet. Träger der Schule war eine Genossenschaft von anfänglich vierzig Mitbürgern, die meist aus dem Bauernstand stammten. Das erste Schuljahr begann mit 55 Schülern in sechs Klassen. Wenige Jahre nach der Eröffnung verlegte man die Schule in die umgebaute Scheune des Weinbauern Julius Hauser ob der Kirche. Im Frühling 1910 musste die Freischule Wädenswil, die über eine Unter-, Mittel- und Oberstufe verfügte, mangels Finanzen geschlossen werden.
Auf Initiative von Fräulein Elisabeth Rellstab, die während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 in der Nähe von Paris als Krankenpflegerin gewirkt hatte, konstituierte sich in Wädenswil am 19. Januar 1877 ein Frauenkomitee zur Gründung einer Krankenanstalt. Obschon die Verhältnisse ungünstig waren und man auf die passendste Lokalität, das Schützenhaus am Rotweg, verzichten musste, liessen sich die sieben Wädenswilerinnen – Elisabeth Rellstab, Adelheid Pfister, Anna Schnyder-Blattmann, Henriette Baumann-Herdener, Susanne Eschmann-Fleckenstein, Albertine Hauser-Landis, Marie Zinggeler-Pfenninger – nicht abschrecken, den Plan zu verwirklichen. Dank dem Entgegenkommen der Armenpflege konnte man am 4. Juni 1877 in drei Zimmern des Armenhauses am Plätzli die erste Krankenstation der Gemeinde eröffnen. Sie verfügte über sieben Betten für Erwachsene und über drei Betten für Kinder. Schwester Johanna Bucher aus dem Diakonissenhaus Zürich-Neumünster übernahm – unterstützt vom Armenarzt – die Betreuung der Kranken. Als im Jahre 1873 die Lebensmittelpreise stiegen, schlug der Kaufmann Georg Jenny einigen Freunden die Gründung einer Aktiengesellschaft zum Zwecke des gemeinsamen Einkaufes von Waren vor. Im Dezember 1873 fand die konstituierende Versammlung statt. Sie wurde von 100 Teilnehmern besucht. Die Aktiengesellschaft, die sich «Einwohnerverein von Wädenswil» nannte, besass im ersten Jahr noch kein Verkaufslokal. Die Mitglieder mussten sich für den Bezug von Brot und Fleisch einschreiben lassen, worauf der Verwaltungsrat jeweils Offerten einholte, um mit den Fleisch- und Brotlieferanten einen günstigen Bezugspreis auszuhandeln. Im Jahre 1877 baute man eine eigene Bäckerei; zudem verfügte man damals bereits über drei Verkaufsläden.




Peter Ziegler