SCHIMPFT NICHT, SONDERN MISCHT EUCH EIN

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2006 von Willy Rüegg

Für ein Jahr höchster Wädenswiler Bürger zu sein, ist gleichermassen Würde wie Bürde. Soviel war mir von Anfang an klar. Ich beschloss deshalb, dieses Jahr auch die Ferien in Wädenswil zu verbringen und alle Anlässe zu besuchen, zu denen ich eingeladen würde. Dass mir dieses Amtsjahr aber so viele Menschen näher bringen und so viel Wohlwollen und Anerkennung zukommen lassen würde, das hätte ich nie erwartet. In den vielen Begegnungen mit Bürgerinnen und Bürgern erlebte ich eine grossartige Offenheit und Herzlichkeit unserer Bevölkerung.
Die erste Aufgabe der Präsidentin oder des Präsidenten ist es, die Sitzungen des Gemeinderats effizient, aber nicht zu straff zu führen. Parlamentarierinnen und Parlamentarier möchten sich im Rat äussern und ihre Vorstellung erklären können. Die Diskussion und das Gespräch sollen daher genügend Raum erhalten, damit die verschiedenen Argumente erwogen werden können. Es geht schlussendlich darum, möglichst mehrheitsfähige und gute Lösungen für die Probleme der Öffentlichkeit zu finden und umzusetzen. Deshalb ist ein Klima des gegenseitigen Respekts und der Offenheit zu pflegen, welches den Dialog über die Grenzen der Fraktionen und Parteien hinweg unterstützt.

Willy Rüegg, Gemeinderats-präsident 2005/06.

POLITIK ALS BÜRGERPFLICHT

Politische Auseinandersetzungen sind wichtig in unserer Gesellschaft. Der Wettbewerb der Ideen und der Argumente führt im Idealfall zur besten Lösung, oft einfach zu einem mehrheitlich akzeptierten, gangbaren Weg. Diskussionen braucht es dazu, Wahlen, Abstimmungen und die Bereinigung von Interessen. Stets jedoch soll die Achtung vor den politischen Gegnern vorausgesetzt werden können, das Wissen um die Legitimität des Andersdenkens und die Einsicht in die Position der anderen.
Dieser Dialog ist für die demokratische politische Kultur grundlegend. Diese Kultur gilt es wieder vermehrt zu pflegen. Die Parteien sind dafür gefordert, die Medien und auch die einfachen Leute von der Strasse. Nicht Klagen und Kopfschütteln sind gefragt, sondern ein aktives Mitdenken und Sich-Einmischen in die Politik. Möglichst mit Sachverstand, unbedingt aber mit Anstand und Umsicht. Je lauter nämlich gepoltert und je populistischer aufgetreten wird, desto eher gerät die Achtung vor den Mitbürgerinnen und Mitbürgern anderer Meinung unter die Räder.
Als politischer Mensch fällt es mir schwer zu akzeptieren, wenn Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte und Pflichten nicht wahrnehmen wollen. Wenn sie Stimmabstinenz halten, kein Interesse zeigen oder gar die Politik «schlechtreden». Ich bin der Meinung, dass der Wohlstand und die Freiheiten der Schweiz nur so lange erhalten werden können, als sich die Menschen tatkräftig engagieren, im Verein, in der Politik, in der Öffentlichkeit. Nur zu schimpfen oder – was heute auch immer mehr einreisst – nur Rechtsmittel einzusetzen, scheint mir nicht der richtige Weg zu sein. Meinen Appell an die Einwohnerinnen und Einwohner Wädenswils wiederholte ich daher in meinem Präsidialjahr bei jeder Gelegenheit: «Schimpft nicht auf die Politik, sondern tut etwas. Mischt euch ein, sprecht die Entscheidungsträger an und verlangt Auskunft. Erwartet nicht, dass sich alle Welt für euer ganz persönliches Anliegen interessiert, aber greift ein, wenn es um ein Anliegen Vieler geht. Euer Einsatz ist wichtig, auch in der Politik.»

STEUERN UND REPRÄSENTIEREN

Wer ins Präsidium des Gemeinderats gewählt wird, erhält Einfluss auf die politische Agenda. Das Büro des Gemeinderats weist die einzelnen Geschäfte den Kommissionen des Gemeinderats zur Vorbehandlung zu und legt fest, wann sie traktandiert und im Gemeinderat behandelt werden. Somit wirkt das Präsidium an der Steuerung des politischen Prozesses mit, bis hin zu den Volksabstimmungen. Die übrige Zeit jedoch ist den Repräsentationsaufgaben gewidmet, also öffentlichen Auftritten an Anlässen, denen die Referenz des Gemeinderats zu erweisen ist. Dem Jubiläum des Verkehrsvereins, jenem des Gemeinschaftszentrums Untermosen oder des Theaters Ticino, dem Turner-Chränzli oder dem Velorennen auf der Beichlen, dem Volkstheater oder dem Kammerorchester, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Der Höhepunkt meines Amtsjahrs war in dieser Beziehung sicher die glanzvolle Eröffnung der Dreifachturnhalle Glärnisch im Januar 2006. Fast greifbar war der Stolz, der die Hunderte von Besucherinnen und Besuchern des ersten Wettkampfwochenendes erfüllte. Ich bin sicher, dass sich diese Investition auszahlen wird, materiell wie ideell. Die Bedürfnisse der Vereine und der Schule waren klar ausgewiesen und trotzdem war die Wartezeit recht lang. Doch nun, da die Halle zur Verfügung steht, können regionale, aber auch kantonale und sogar nationale Turniere und Wettkämpfe durchgeführt werden. Das Ansehen der Stadt Wädenswil wird sicher davon profitieren und der gute Ruf wird noch weitere Veranstaltungen anziehen.

WAHLHEIMAT WÄDENSWIL

Am 18. März wurde ich mit 31 von 34 möglichen Stimmen ins Präsidium gewählt. Für mich kam dieses gute Resultat unerwartet, bin ich doch ein zugewanderter Wädenswiler und gehöre als Sozialdemokrat nicht zu den traditionellen Zirkeln Wädenswils. Allerdings habe ich – anders als die «Eingeborenen» – meine Wohngemeinde frei gewählt. Ich glaube deshalb, dass ich die vielen Vorzüge Wädenswils besser zu schätzen weiss als andere. Ich bin froh, dass meine Kinder in Wädenswil aufwachsen dürfen. Meine Familie fühlt sich hier wohl, ist gut verwurzelt und geniesst seit vielen Jahren auch das Wädenswiler Bürgerrecht.
Besonders am Herzen liegen mir die Lesegesellschaft 1790 mit ihrer Bibliothek, das Gemeinschaftszentrum Untermosen, der Quartierverein Au, der Verkehrsverein, die Volkshausgenossenschaft sowie das Theater Ticino mit seinen bezaubernden Vorstellungen. Die Teilnahme an den Anlässen dieser Vereinigungen gehörten deshalb zu den schönsten Momenten meines Präsidialjahres.
Doch mein Dank geht an alle Vereine, auch jene, die nicht erwähnt worden sind. Sie verdienen unsere Anerkennung, denn sie tragen Wesentliches zur Bereicherung des Lebens in Wädenswil bei. Sie führen Menschen zusammen und verhelfen ihnen dazu, schöpferisch tätig zu sein und Kultur zu schaffen. Kultur und Sport scheinen mir in einer Gesellschaft, in der die einzelnen Menschen immer mehr auf sich selber zurückgeworfen werden, besonders wichtig. Mitten im Unterhaltungslärm unserer Konsumgesellschaft fällt die Wortlosigkeit mancher Menschen noch viel stärker auf.

VON DER SCHULPOLITIK…

Zur Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme braucht es Geld, aber vor allem Einsatz, Wille und Solidarität. Solidarität im Sinne von Geben und Nehmen, denn Solidarität ist gegenseitig verpflichtend. Heute ist sie deshalb besonders wichtig, weil nur eine solidarische Gesellschaft sich aktiv wandeln, innovativ und zuversichtlich sein kann – ohne dass sie Verlierer produziert, die an den Rand der Gesellschaft geraten. Nur Menschen, die auf Solidarität bauen können, haben keine Angst zu verlieren. Sie gehen leichter Risiken ein und stellen sich positiver zu Veränderungen, als es Menschen tun, die sich allein gelassen fühlen.
Junge Familien mit Kindern brauchen heute unsere Unterstützung und Zuwendung. Junge Menschen, die ins Erwerbsleben einsteigen wollen und alte Menschen, die mit dem hektischen Tempo nicht mehr mithalten können, behinderte Menschen. Die Lausbuben auf der anderen Seite müssen Härte spüren. Sie brauchen unser Eingreifen, unsere Forderung nach Eingliederung und unser absolutes Gebot, Recht, Sicherheit und öffentliches Eigentum zu respektieren. Wir alle sind gefordert einzugreifen, wenn wir unrechtes Verhalten beobachten, denn mehr Polizei alleine kann nicht mehr Sicherheit schaffen.
Mein grösster Ärger im letzten Jahr war, als ich eines Morgens im Bahnhof Au sämtliche vier Bahnhofsuhren mutwillig zerschlagen und das Wartehäuschen verwüstet fand: Das Resultat der sinnlosen Zerstörungswut einiger Nachtbuben. Wer so mit unserem gemeinsamen, öffentlichen Gut umgeht, weiss offensichtlich nicht, dass das Geld nicht vom Himmel fällt. Vandalismus finde ich inakzeptabel und er muss geahndet werden.
Wir brauchen auch keine Abzocker, die auf raschen Gewinn aus sind, und dann wieder verschwinden. Auch das ist eine Art von Vandalismus. Ein Vandalismus, der Anstand und Rechtschaffenheit beeinträchtigt und die Solidarität verhöhnt. Vielmehr sind der persönliche Einsatz und die Selbstverantwortung jedes einzelnen Mitglieds unserer Gesellschaft nötig, damit wir gemeinsam weiter kommen. In der Wirtschaft, in der Ökologie, im Sozialen und in der Politik. Wir brauchen also Leute, die sich langfristig und ernsthaft einsetzen wollen, im Kleinen wie im Grossen. Sei es in einem der zahlreichen Ehrenämter oder in einer freiwilligen Funktion der Stadt, sei es in einem Verein, in der Jugend- oder Sozialarbeit.
 

…ZUR WELTPOLITIK

Die Eidgenossenschaft hat schon immer und mit Erfolg auf Selbstverantwortung und Solidarität gebaut. Die Schweiz ist in mancher Hinsicht und nicht zuletzt auch deshalb ein Erfolgsmodell geworden. Erinnert die Geschichte der Schweiz nicht auch an Europa, an das Entstehen der Europäischen Union? Auch Europa ist ein Friedensprojekt wie die Schweiz. Die EU ist beseelt vom Wunsch der Völker, in guter Nachbarschaft und in gemeinsamem Wohlstand mit einander zu leben. Solidarisch und in gegenseitiger Verpflichtung wohl bemerkt, nicht unverbindlich neben einander. Denn ein solches Nebeneinander gibt es heute nicht mehr, ist unsere Welt doch eng vernetzt.
Menschen und Informationen, Güter und Geld bewegen sich hin und her in alle Richtungen. Globalisierung ist dazu das Stichwort. Die Luftverschmutzung macht nicht Halt an der Schweizer Grenze. Die Kriminalität auch nicht und die wirtschaftliche Konjunktur erst recht nicht. Und wer so alt ist wie ich, der weiss, dass auch der radioaktive Niederschlag aus Tschernobyl keine Grenzen kannte. Er ging über uns alle nieder und vergiftete auch die Böden und Gewässer in der Schweiz. Unsere Pilze, die Fische und das Wild waren eine Zeit lang verseucht und durften nicht mehr gegessen werden. Auch wir waren direkt betroffen, wenn auch glücklicherweise nur gering.

SOMMERFERIEN IN WÄDENSWIL

Dem Präsidenten des Gemeinderats kommt jeweils die Ehre zu, am 1. August die offizielle Festrede an der Bundesfeier zu halten. Eine tolle Herausforderung für mich und eine grosse Freude noch dazu. Anlass genug auf jeden Fall, nicht ans Meer und in fremde Länder zu schweifen, sondern die Sommerferien in Wädenswil zu planen.
Wie man das anpackt? Jedes Familienmitglied bringt seine Vorlieben ein, denn am schönsten ist es doch, wenn man gemeinsam und in Ruhe etwas unternehmen kann. Hier ein Abstecher nach Frankreich. Dort eine Wanderung in die Berge und ein Abend am Filmfestival von Locarno. Besuche bei Freunden und Verwandten, eine Schifffahrt über den See und eine Velotour am Ufer entlang. Und schon bald stellt sie sich ein, die innere Ruhe und die Gewissheit: Wir leben auf einem wunderschönen Fleck Erde!
Wädenswil bietet eine enorm hohe Lebensqualität. Das stellt der «einheimische Tourist» noch rascher fest als der verwöhnte «Alltags-Einwohner». Attraktive Geschäfte und ein lebendiger Wochenmarkt, ja sogar ein Flohmarkt und mehrere Brockenhäuser laden zum Stöbern und entdecken ein. Die vielfältigen Filmnächte in der Rosenmatt trösten über die Theaterpause des Ticino hinweg und verführen zu poetischen Streifzügen in die weite Kino-Welt. Strandbad, Brättlibadi und Seeufer locken zum Verweilen. Ein dichtes Netz von Wanderwegen öffnet uns die Welt. Man könnte zu Fuss bis nach Santiago und noch weiter gelangen.
Dies alles bedeutet mir viel, ist Lebensqualität. Bald wird auch die erste Etappe des neuen Seeuferwegs gebaut werden und ich freue mich schon jetzt darauf. Und wenn ich – wie im Märchen – bei einer gütigen Fee einen Wunsch frei hätte, so wünschte ich mir für Wädenswil eine gedeckte Jugendstil-Markthalle im Zentrum, wie es sie in den meisten französischen Kleinstädten gibt. Ein lebendiges Zentrum voller Marktleben, mit Strassencafés und schattigen Bänken...
Eine schöne Vorstellung zwar, aber vielleicht doch nicht ganz mehrheitsfähig. Also kein Fall für die pragmatische Wädenswiler Gemeindepolitik.



Willy Rüegg, Gemeinderatspräsident 2005/2006