Pflöcke setzen, Querleisten nageln und den Durchblick bewahren

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1987 von Brigitte Poltera
 
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
 
Ein Architekt der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
 
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute daraus ein grosses Haus.
 
Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum.
 
Ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
 
Der Architekt jedoch entfloh
Nach Ari- od – Ameriko.
Zaun im Ober Oedischwend.

Christian Morgenstern widmete dieses hintergründige Wortspiel seiner bewegten Zeit, deren feindlichem Moment nur Humor entgegenzustellen sei – das war um die letzte Jahrhundertwende.
Unsinn – glauben Sie nicht, ich wolle Sie darüber meditieren lassen, ob, warum und wohin unsere Zwischenräume verschwinden. Unverhältnismässig wäre es, dem Architekten die Schuld anzulasten, ohne gleichzeitig unseren eigenen Egoismus zu nennen, welcher die Zwischenräume besitzen oder auch einfach zugenagelt haben möchte.
Der Lattenzaun gefällt mir als Symbol für unser Gemeindeleben. Ich bin glücklich, dass die Pflöcke und Querleisten in diesem Jahr gut gehalten haben, und dass es in Wädenswil nicht gar so schlecht bestellt ist um die Zwischenräume. Für die Gemeinde und für viele von uns persönlich war das vergangene Jahr ein gutes Jahr: auf gesicherten materiellen Grundlagen konnten wir zusammen arbeiten, voneinander lernen und uns einsetzen für unsere Lebensgemeinschaft. Ich habe Verständnis gespürt für Sorgen und Nöte und Solidarität und Freundschaft erfahren.
Jubiläen, wie 100 Jahre Spital Wädenswil, 150 Jahre Oberstufe, die Wädenswil feiern konnte, haben bewiesen, dass Menschen immer wieder auch uneigennützig, verantwortungsbewusst und solidarisch gehandelt haben und Lösungen durchzuziehen und der heutigen Zeit anzupassen vermochten. Solche Rückblicke geben uns die Hoffnung, dass wir auch imstande sein werden, unsere gegenwärtigen Probleme zu lösen und langfristig in den richtigen Rahmen zu setzen.
 

Pflöcke setzen

Das Geschäftsjahr des Parlamentes wurde geprägt durch Neuwahlen in allen Behörden. Vier Stadträte und neun Gemeinderäte haben ihr Amt neu angetreten. Nach der Wahl des Stadtpräsidenten hatten sich sechs Stadträte in ein neues Ressort einzuarbeiten.
Das Gemeindeparlament versammelte sich zu 13 Sitzungen. Die Verhandlungen waren geprägt von Einsatzbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein und von gegenseitigem Verständnis. Fachwissen und Sachkenntnis werden über Parteigrenzen hinaus anerkannt. Im Rat wurden neben Rechnung, Geschäftsbericht, Budget und Finanzplan 14 Sachgeschäfte und 30 persönliche Vorstösse beraten.  Die Weisungen betrafen zu einem Drittel (mit über 80 Prozent der bewilligten Kredite) Renovationen von Gebäuden und Anlagen. Wädenswil hat einen grossen Nachholbedarf bei der Sanierung von Altliegenschaften. Die Stimmbürger bewilligten die Renovationen der Alterssiedlung «Bin Rääbe» von «Sonne», Steinacher I und Glärnischhalle.
Mit der Zustimmung zur Erweiterung des Kehrichtwerkes Horgen und zum Abschluss eines neuen Zweckverbandsvertrages haben wir zusammen mit unseren Nachbargemeinden einen Schritt für eine zweckmässigere Abfallverwertung getan. Die Gemeinden können nun ihre eigenen Verordnungen überprüfen, um die Abfallmenge zu reduzieren und die Wiederverwertung zu fördern.
In den Diskussionen rund um eine Neugestaltung des Bahnhofplatzes und um die Renovation des Engelsaals oder die Projektierung eines neuen Gemeindesaals spürte man die Sehnsucht nach umweltfreundlicher, gemeinschaftsfördernder baulicher Gestaltung und nach Aufwertung von Begegnungsmöglichkeiten. Bedenken, ob wir wirklich nur noch Bestehendes erhalten oder sanieren und nichts Neues mehr gestalten dürfen, mischen sich immer mehr in die Ratsdiskussionen. Diesen Wünschen steht rasch die Frage gegenüber, welche Aufgaben von der Gemeinde und welche in eigener Verantwortung oder privatwirtschaftlich zu lösen seien. Immer mehr Aufgaben können wir nur noch gemeinsam lösen. Es gilt, das Ganze zu sehen und uns auch dann dafür einzusetzen, wenn uns persönlich kein Vorteil daraus erwächst.
 

Querleisten nageln

Ausführlich haben wir im Rat auch diskutiert über soziale Fragen, wie Suchtmittelwerbung und Drogenmissbrauch. Altersleitbild und Seniorenberater. Die Zahl der Senioren wird auch in unserer Gemeinde zunehmen. Die Sozialbehörde hat dem Rat ein Altersleitbild für Wädenswil vorgelegt. Eine umfassende Diskussion ausgelöst hat die gleichzeitig vorgeschlagene, versuchsweise Anstellung eines Seniorenberaters, die denn auch in einer mit Referendum verlangten Volksabstimmung abgelehnt worden ist.
Unsere Jungen hören von Wädenswiler Restaurants über alle Ebenen bis zur Zürcher Universität immer wieder, sie würden nicht gebraucht. Sie erfahren kaum, dass in ihnen unsere Zukunft liegt, dass wir Hoffnung auf sie setzen. Mit jedem Jahr geben wir unsere Welt ein Stück weiter an unsere Jungen ab. Müsste uns ihre Ausbildung und ihre menschliche Entwicklung nicht auch darum ganz besonders am Herzen liegen, weil unser Volk zusammen mit allen Industrienationen rasch überaltert?
Clever seine Fähigkeiten einzusetzen, sei heute wichtiger als Bildung und Wissen, war kürzlich in einer Tageszeitung zu lesen. Damit laufen wir hinein in eine Wettbewerbsgesellschaft, die immer mehr Menschen ausschliesst aus ihrer Gemeinschaft. Dieser Tendenz sollten wir uns entgegensetzen, damit unsere Gesellschaft nicht verarmt. Einsamkeit, Not und Aggression wenden sich in Egoismus, Streit oder Krankheit. Unsere Welt aber ist sehr störungsanfällig geworden. Als Gemeinschaft sind wir nur so stark wie unsere schwächsten Glieder.

Zwischenräume bewahren

Wie ein Wetterleuchten flimmern Warnungen vor ökologischen Krisen, vor Krankheit, Krieg und Hunger in unser Bewusstsein. Menschen sind heute weltweit voneinander abhängig und haben eine Zukunft nur gemeinsam mit anderen Völkern. Wie sich Restrisiko auf unser Lebenssystem auswirken kann, haben wir mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl und dem Chemieunfall in Basel recht deutlich erfahren.
Sollen wir vor den Nachrichten fliehen, uns von der Gemeinschaft isolieren und uns nur noch für uns selbst einsetzen? Oder sind vielleicht Erschütterungen an unserem Weltbild von Zeit zu Zeit nötig, damit daraus etwas Neues wachsen kann?
Wir müssen den Durchblick bewahren und dürfen unsere Zwischenräume nicht mit Vorurteilen vernageln. Vielleicht findet sich Halt und Hoffnung im Boden, in welchem dieser Lattenzaun steht? Bonhoeffer hat mitten im Zweiten Weltkrieg im Vertrauen auf Gott zur Treue zur Welt aufgerufen.
Mit dem Jahresende lassen wir das alte Jahr los – mit allem, was wir getan und versäumt haben. Loslassen braucht Vertrauen. Loslassen könnte heissen, auch einem anderen Menschen etwas zutrauen, ein Vorurteil aufgeben, Not mitteilen. Wen wir dadurch frei und offen werden für etwas Neues, so wird das neue Jahr für uns zur spannenden Herausforderung.
 



Brigitte Poltera
Gemeinderatspräsidentin 1986/87