Schuhmacher Fischer – 72 Jahre bei seinen Leisten

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2007 von E. Magdalena Preisig

Walter Fischer.

Schuhmacher Fischer hat sich anders besonnen. Als 90-Jähriger liess er sich am 26. Januar 2004 in der «Zürichsee-Zeitung» zitieren: «Ich werde arbeiten, bis ich umfalle. Dann ists fertig.» Er hat es sich doch anders überlegt, hat seinen Schuhmacherbetrieb an der Rosenbergstrasse 6 am 1. September 2006 einem Nachfolger übergeben. Seinen Besuch bittet er ins Büro, mit Blick auf die Terrasse. Er erzählt. 72 Jahre habe er geschustert und schon als 14-Jähriger zu arbeiten begonnen. Somit erstrecke sich sein Erwerbsleben über 78 Jahre seines Lebens. Das geruhsame Leben habe ihn anfänglich aus dem Rhythmus gebracht, gibt er zu. Die gewonnene Ruhe tue ihm aber gut. «Ich habe es ja schön», sagt er zufrieden. Er schlafe länger, gehe spazieren, und am Nachmittag werde gejasst. «Das ist unser Hobby», sagt er mit Blick auf seine Lebenspartnerin, Marie Burger. Sie lebt bei ihm, seit er nicht mehr mit dem Auto zu ihr fahren kann. Mit 93 Jahren hat er seinen Fahrausweis abgegeben. Auch Handorgel könne er nicht mehr spielen, sagt er, und deutet auf den braunen Kasten unter seinem Eichenpult. Die Finger seien zwar noch gelenkig, «aber das da oben schaltet wahrscheinlich nicht mehr gut», meint er lakonisch und zeigt mit der Hand auf seinen Kopf. Er klagt nicht, er stellt fest. Auch mit den gelegentlichen Gleichgewichtsstörungen werde er leben müssen, fügt er bei. Obwohl er seine Ruhe geniesst, möchte er fit bleiben. Er wollte in einem Fitnesscenter trainieren, doch der Arzt riet ihm davon ab. Eine einfache Übung reiche aus: Halten Sie sich an einer Türklinke fest und gehen Sie langsam in die Knie.

EIN DICKER BUB KOMMT ZUR WELT

Walter Fischer wurde am 23. September 1914 im aargauischen Hegglingen geboren. Er war das dritte von fünf Kindern von August und Lina Fischer, geborene Koller. Als die Mutter den Neugeborenen sah, habe sie ausgerufen, einen so dicken Buben habe sie noch nie gehabt, der sei sicher verwechselt worden. Sie hatte bereits die Kinder Karl und Lina geboren und bekam nach Walter noch das Mädchen Berta und den Nachzügler Josef. Die Familie zu ernähren, war nicht leicht, zumal der Vater Alkoholiker war. Seine zeitweilige Arbeitsunfähigkeit glich die Mutter als Schneiderin aus. Oft bezahlten die Kunden mit Esswaren. «Das ehemals dicke Baby war ein schlechter Schüler», schreibt Walter Fischer in seiner Biografie. Und deshalb habe ihn die Lehrerin drei statt zwei Jahre «behalten». Zu seinen Klassenkameraden in der Gesamtschule Hegglingen zählten die Geschwister Schmid, die später als Volksmusikformation «s Guggerziitli» lancierten und berühmt wurden. Ausserhalb der Schulzeit weilten die Kinder im Wald, sie spielten Fussball, «Versteckis» oder «Schiitliverbannis». Langweilig sei es ihnen trotz fehlendem Spielzeug nicht gewesen, erinnert sich der Senior.

ERSTES GELD VERDIENEN

Walter und seine jüngere Schwester gingen oft miteinander einkaufen, häufig ohne Geld, sodass der Betrag ins Konsumbüchlein eingeschrieben werden musste. Für die Fischerkinder war es ein Glück, wenn in der Kirche eine Abdankung stattfand. Da gab es unentgeltlich Brot, je nach den finanziellen Verhältnissen der Trauerfamilie bis zu drei Zainen voll. «Spend» hiess dieser Brauch, den Walter Fischer heute als lebensnotwendig bezeichnet. Schon als Fünftklässler begann er Geld zu verdienen. Er trug den «Tages-Anzeiger» und Zeitschriften aus. Bundweise holte er diese ab im vier Kilometer entfernten Dottikon: vier Kilometer hin und zurück zu Fuss, jeden Werktag. Das entspricht der Bahnstrecke Wädenswil−Richterswil. Später, mit dem Fahrrad, war er schneller. Auch den Abonnementpreis von 2.80 Franken pro Monat musste er einziehen, 40 Rappen davon waren sein Verdienst.

Der Schuster bei seinen Leisten.

DEM SCHLÄGER ENTRINNEN

Die Familie zog nach Wohlen, wo der Vater in einer Werkstatt aus alten Pneus Türvorlagen herstellte und diese auf dem Markt verkaufte. Dank des Umzugs konnte Walter dem Lehrer entrinnen, den er «einen richtigen Schläger» nennt. «Glücklicherweise ist das heute verboten!», kommentiert er. Sein Vater hatte ihn aus der Schule nehmen wollen, doch die ältere Schwester Lina wehrte sich für ihn: «Das fehlte noch, wenn derjenige, der die Schule am nötigsten hat, nicht mehr hingehen könnte.» Ein Glück für Walter, denn ein junger Aushilfslehrer half ihm, seine Defizite auszugleichen. Von da an war die Schule für Walter ein Vergnügen. Schon als 14-Jähriger stieg er ins Erwerbsleben ein. Für die Herofabrik in Lenzburg pflückte er mit seinen Geschwistern Johannisbeeren. Abends, wenn es dunkel wurde, stopften sie Laubblätter in die Körbe, damit diese schneller voll waren. Und freuten sich, weil sie keinen Abzug bekamen. Weniger gut ging es bei Erdarbeiten. Täglich hatte der Jüngling Nasenbluten. Er war zu schwach für diese Arbeit. Als Gipser hingegen war er mit seiner Körperlänge von 1,83 Meter zu gross. «Du machst mir immer Löcher in die Decke», klagte der Chef und nahm ihn nicht als Lehrling an. In der im Aargau heimischen Strohindustrie hingegen konnte man ihn brauchen.

Unbehandelter und behandelter Schuh.

KLÄNGE ERHEITERN UND VERBINDEN

Freude und Freunde brachte den heranwachsenden Brüdern die Musik. Walter lernte Handharmonika spielen, Karl Klavier. Sie gründeten die Kapelle «Apollo» mit fünf Mann und traten während fünf Jahren auf. – Die Familie wohnte mittlerweile in Waltenschwil, als für Walter die Zeit der Rekrutenschule (RS) näher kam. Er besuchte einen Sanitätskurs, um einen Dienst ohne Gewehr absolvieren zu können. In der RS nahm er abends sein Instrument hervor und kam auf diese Weise gratis zu Tranksame, wobei er sich an Mineralwasser hielt. Für die letzten drei Wochen der RS wurden sie von Airolo nach Lugano verlegt. Dort kaufte er sich jeden Tag Trauben für 25 Rappen das Kilogramm.
 

ERST KANALISATION GRABEN

Stellenlos kam Walter Fischer aus der RS zurück nach Waltenschwil. Aus einem Inserat in der «Zofinger Zeitung» erfuhr er, dass ein Schuhmacher in Bruggen (SG) einen Lehrling suchte. Schuhmacher zu sein, konnte der Bursche sich vorstellen, denn dem Schuster gegenüber hatte er oft beim Arbeiten zugeschaut. Zusammen mit seinem Bruder Karl fuhr er hin. Der Schuhmacher fand allerdings, er sei mit 20 Jahren schon fast zu alt. Da er jedoch eher wie ein 17-Jähriger aussah und von tüchtigem Schaffen erzählen konnte, bekam er die Lehrstelle. Der Lehrmeister liess ihn jedoch die ersten drei Wochen die Gräben für die Kanalisation buddeln. Dafür erliess er ihm das geforderte Lehrgeld von 600 Franken, bei freier Kost und Logis. Pro Woche erhielt der Lehrling Sackgeld. Im ersten Jahr einen, im zweiten Jahr zwei und im dritten Jahren drei Franken. Oft musste er den Meister stupfen, dass er seine «Fränkli» wirklich bekam. Auch das Essen war so knapp, dass der junge Mann oft in der Bäckerei gegenüber ein «Bürli» kaufte, damit er beim Arbeiten nicht vom Stuhl falle.

Beim Bedienen einer Kundin.

DER GRIFF IN DIE KASSE

Fachlich überzeugte der Meister den Lehrling nicht. Gewerbeschule und Fachbücher waren dem Lernenden die besseren Lehrquellen. Walter Fischer begriff schnell und konnte den Betrieb schon im zweiten Lehrjahr zeitweise allein führen. Wie wenig der Meister sein Geschäft im Griff hatte, zeigt folgende Episode: Walter Fischer brauchte im dritten Lehrjahr dringend eine neue Kleidung. Er liess sich vom Onkel, dem er früher Geld geliehen hatte, die nötigen 200 Franken schicken und kaufte sich einen Veston mit zwei Paar Hosen. Diesen Anzug trug er später bei der Hochzeit. Dem Lehrmeister kam es seltsam vor, dass sein Lehrling sich bei drei Franken Sackgeld pro Woche eine solche Ausgabe leisten konnte. Er tönte an, der Lehrling könnte Geld aus seiner Kasse genommen haben. Doch der Verdächtigte wies ihm die Überweisung des Onkels vor und bemerkte, er solle lieber seine Frau fragen, diese bediene sich manchmal aus der Kasse. «Da war bei den beiden Feuer im Dach», erinnert er sich.

EINE LEHRABSCHLUSSFEIER MIT MUSIK

Im St. Gallischen plagte das Heimweh den Aargauer. Er suchte über ein Inserat einen Musiker und fand Viktor Jann, einen virtuosen Spieler, mit dem er nach einem halben Jahr Üben in Restaurants auftreten konnte und somit wieder zu bezahlter Tranksame kam. Auch Zigaretten erhielten die beiden, obwohl sie nicht rauchten. Als Abschlussarbeit fertigte der Prüfling ein Paar rahmengenähter Schuhe für seinen jüngsten Bruder Josef an. Den gelungenen Lehrabschluss wollten die beiden Musikanten mit zwei Konzerten auf der Terrasse eines Ausflugsrestaurants feiern. Sie verkauften selber Billette. Doch im Nachhinein wollte der Wirt von den Eintrittsgeldern mitprofitieren und verlangte nach dem ersten Konzert Geld ab. Die Musikanten gaben ihm einen Teil, beschlossen jedoch, nicht mehr dort aufzutreten. Der Sohn des Wirtes hintertrieb den Vater: Er gab ihnen das Geld zurück, und sie spielten zum zweiten Mal auf. Das erhaltene Münz zählten sie in der Schuhmacherei: 70 Franken 35 Rappen. Dem ehemaligen Meister, der ihnen dabei zusah, gaben sie die 35 Rappen – «für die Korpus-Abnützung», wie der eben Ausgelernte hämisch sagte.

ARZTDIAGNOSE: UNTERERNÄHRT

Seine Wanderjahre begann der frisch ausgebildete Schuster in Wattwil. Dort arbeitete er sechs Tage pro Woche und erhielt dafür 15 Franken, plus Kost und Logis. Einmal verliess er seinen Arbeitsplatz schon um Samstagmittag, um seine Freundin und zukünftige Frau, Pia Trüby von Münchwilen, zu besuchen. Prompt zog ihm der Meister 1.50 Franken vom Lohn ab. Die Kost an dieser Stelle war reichlich, – doch der junge Mann fühlte sich krank. Er hatte Mühe beim Atmen. Der Lungenspezialist in St. Gallen diagnostizierte Narben einer früheren Brustfellentzündung, aber sonst eine gesunde Lunge. Hingegen sei er unterernährt. Diesen Bericht leitete Walter Fischer weiter an seinen ehemaligen Gewerbelehrer. Im zweiten Lehrjahr hatte ihn dieser ermutigt, die Lehre trotz der miesen und kärglichen Kost nicht abzubrechen. Der belastende Arztbericht hatte ein Nachspiel: Fischers Lehrmeister durfte keine Lehrlinge mehr in seinem Haus aufnehmen, konnte also keine mehr ausbilden. In guter Erinnerung blieb Walter Fischer die Stelle in Burgdorf: «Dort gab es Kaffee und Rösti am Morgen.» Weitere Stationen waren Gebenstorf und Villmergen.

DER SANITÄTER SCHUSTERT

Eine Woche vor der Mobilmachung vom 1. September 1939 trat Walter Fischer eine Stelle in Zofingen an. Seinen einjährigen Aktivdienst leistete er im nahen Wohlenschwil. Obwohl er Sanitäter war, behandelte er nicht nur verletzte Kameraden, sondern auch die lädierten Schuhe der Kompanie. Einer der Zofinger Schuhmacher war ebenfalls im Dienst. In dessen verwaisten Werkstatt konnte Walter Fischer hantieren.
Eine «Mahlzeit» unter freiem Himmel gab Walter Fischer Gelegenheit, seine Schlauheit zu beweisen. «An einem Sonntag ohne Ausgang gingen wir zu fünft in die Kirschen. Als ein Offizier unter den Bäumen auftauchte, waren meine Kameraden verduftet. Nur ich war noch auf dem Baum, wurde herunter gerufen und erhielt eine Strafe aufgebrummt: ‹Drüü Taag Liechte.› Das bedeutete, jeweils nachts eingesperrt zu sein. Das hatte immerhin den Vorteil, dass ich auf einer Matratze statt auf Stroh schlafen konnte. Abends brachten mir die Kollegen unter dem Fenster ein Ständchen. Später stellte ich ein Urlaubsgesuch. Da fragte der Kadi nach den Namen meiner vier Kameraden. Statt sie zu verraten, sagte ich: ‹Die Strafe hat für alle fünf gereicht.› Er schien beeindruckt. Auf jeden Fall ermöglichte er mir, gleichzeitig für die Kompanie und für Kunden zu arbeiten. So hatte ich Sold und Lohn zugleich.»

An der Ausputzmaschine.

WOCHENLOHN STEIGT, MUSIKERLOHN SCHENKT EIN

Zurück aus dem Militärdienst fand Walter Fischer eine Stelle bei einem gehbehinderten Meister in Gebenstorf. Der Wochenlohn betrug hier gut doppelt soviel: 35 Franken, plus Kost und Logis. Wieder ein Jahr später, an einer Stelle in Villmergen, besuchte Walter Fischer einen Meisterbildungskurs und lernte orthopädische Schuhe und Fussstützen herzustellen. Und immer wieder machte er Musik mit der Kapelle Apollo. Pro Nacht verdiente er damit fast soviel, wie in einer Woche in seinem Beruf: 30 Franken. Der Hobbymusiker konnte Geld auf die Bank bringen: «Ohne die Musik wäre ich finanziell nicht über die Runden gekommen. Auch für mein Gemüt brauchte ich sie», sagt er rückblickend.
 

SOLVENTER VERHANDLUNGSPARTNER

Walter Fischer liebäugelte mit dem Gedanken, sich selbständig zu machen. Mitten in der Kriegszeit war die Schuhmacherei von Ed. Kleiner im Haus «Scharfeck» an der Seestrasse 109 in Wädenswil zu vermieten. Dessen Besitzer suchte einen solventen Mieter. Walter Fischer war von den 15 Bewerbern der Einzige, der diese Vorgabe erfüllte, weshalb der Hausbesitzer dem Interessenten entgegenkam. Er vermietete die Werkstatt zu einem Monatszins von 100 Franken und ein Zimmer für 20 Franken. Das Haus hatte kein Bad und nur ein einziges WC. Dank seinen guten Zeugnissen erhielt Walter Fischer die staatliche Genehmigung zum Führen der Schusterwerkstatt problemlos. Im Februar 1943 eröffnete er sein Geschäft und gewann bald einen grossen Kundenkreis. Über Mittag verpflegte er sich im Restaurant Eintracht und bezahlte dafür 2.50 Franken.
Von 1943 bis 1958 führte Walter Fischer sein Schuhmachergeschäft im Haus «Scharfeck», das im Jahre 1960 abgerissen wurde. Es stand auf dem Platz östlich der Unterführung, die von der Gerbestrasse zum Bahnhofplatz führt.

SCHAFFE, SCHAFFE – ZU ZWEIT UND MEHR

Kurz darauf, am 12. Juni 1943, heiratete Walter Fischer seine vier Jahre jüngere Freundin Pia Trüby von Münchwilen. Die Frischvermählten verbrachten vier Flittertage in einem Hotel in Engelberg. Pia Fischer war Podologin, konnte allerdings aus Platzmangel im «Scharfeck» ihrem Beruf nicht nachgehen. Stattdessen half sie ihrem Mann tüchtig beim Versand bestellter Waren. Darüber war der junge Schuhmachermeister froh, weil er dabei mit der Frau zusammen war. Realistisch sagt er im Nachhinein: «Da blieb eigentlich nur Raum für meine Arbeit.» Das Paar hatte drei Kinder: Edith (*1946), Werner (*1948) und Margrit (*1950). Von den Kindern sagt er: «Sie mussten oder durften in der Stanzerei mithelfen.» Später, als die Familie in Wädenswil heimisch geworden war, erwarb der gebürtige Dottikoner zusammen mit seiner Frau und seiner unmündigen, jüngsten Tochter im Jahre 1976 das Wädenswiler Bürgerrecht.
 

KEIN KREDIT, NUR SPESEN

Der aufstrebende Schuhmacher wollte rationell arbeiten. Er bestellte eine Ausputzmaschine, mit der er die Schnittkanten der Sohlen und Absätze in Minutenschnelle versäubern konnte. Einer seiner Onkel war bereit, für den Bankkredit zu bürgen. Auf den Bescheid der Volksbank wartete der junge Geschäftsinhaber noch, als von der Lieferfirma die Meldung kam, die bestellte Maschine sei irrtümlich ohne Vorauszahlung abgeschickt worden. «Das ist gut so», antwortete der Schuhmacher. Ohne die Hilfe der Bank, zahlte er die Maschine in einem halben Jahr ab. Als die Bank sich meldete, brauchte er den Kredit nicht mehr. Für die Umtriebe erhielt er eine Rechnung über 7.50 Franken.
 

AUCH DER BRUDER WIRBT

Das Geschäft lief dermassen gut, dass Fischer einen Arbeiter einstellte und später einen Lehrling ausbildete. In den besten Zeiten waren sie zu fünft in der Werkstatt. Fischer entwickelte ein Einziehfutter für Schuhe, das zu weite Einschlupfstellen enger machte. Er erwarb sich für das «Fersenhalt- und Einziehfutter für Halbschuhe» beim Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum den Patentschutz für zwanzig Jahre. Für dieses Produkt liess er eine Stanz-, Schürf- und Schneidemaschine herstellen. An der Fachausstellung in St. Gallen im Jahre 1949 führte er seine Erfindung vor. Auch der Bruder Karl machte die Schuhmacher mit dem neuen Produkt bekannt. Dieser verkaufte seinen Kunden Schürzen und nahm bei den Schuhmachern gleichzeitig Bestellungen für das neue Patentfutter auf, 200 an der Zahl, wie der Tüftler betont.
 

FLECK MIT GARANTIE

Immer aufs Sparen bedacht, entwickelte Walter Fischer zusammen mit einem Gummiproduzenten einen Absatzbelag. Testen liess er den «WF-Sparfleck» vom Briefträger Emil Gantner. Rund sieben Stunden war der heute 85-Jährige an Werktagen zu Fuss unterwegs. Als die «Neue Zürcher Zeitung» noch dreimal täglich erschien, hatte er jeden Werktag drei Touren zu bewältigen. Der Absatz bewährte sich. Am 21. Januar 1957 erwarb der Findige für den «WF-Sparfleck» den Musterschutz und hatte ihn bis im Jahr 1967 inne. Der Fleck war nicht nur speziell langlebig, er konnte auch gut ersetzt werden, wenn er doch einmal abgelaufen war.
 

SEIN IMAGE PFLEGEN

Zum 10-Jahr-Jubiläum verteilte der innovative Schuhmacher Schlüsseletuis aus Leder. Den «WF-Sparfleck» bot er fünf Jahre später gratis an. Zum 25-Jahr-Jubiläum verschenkte er Polierlappen mit Firmenaufdruck. Der findige Schuhmacher inserierte stets fleissig, in der Kriegszeit etwa für Tessiner Zoccoli. Sie seien ein Beweis «guter Handarbeit und südlicher Grazie» und brauchten keine Schuhpunkte, was wegen der Rationierung günstig war. Walter Fischer pries auch das Färben von Schuhen an, nachdem er in Deutschland eine entsprechende Ausbildung absolviert hatte. Im Anfang seiner Geschäftszeit machte er Notizen: Vom Inserat zum Besohlen von Schneeschuhen im Januar 1944 etwa: «Mit diesem Inserat, das ich 15 Mal in Abständen laufen liess, hatten wir grossen Erfolg. 350 Paar hatten wir bis Ende März repariert.» In den späteren Jahrzehnten war sein Slogan: «Es gibt ihn immer noch!» So mit einem Stand an der Gewerbeausstellung 1980 in Wädenswil. Ein ansprechendes Schaufenster war ihm wichtig. Generationen kennen die Figur, die er immer wieder ausstellte. Realitätsgetreu hatte ein Grafiker den Schuhmacher – eine Schuhsohle nähend – auf eine Pavatexplatte gezeichnet. Der Faden, vom Schuster «Draht» genannt, ist echt. Er führt vom Werkstück zu beiden Händen, weil Schuhmacher mit beiden Enden des Fadens und mit zwei Nadeln nähen. Wie sein ehemaliger Meister in Brugg bot Walter Fischer einen Abhol- und Zustellservice an. Über die Nummer 956 137 konnte er telefonisch bestellt werden. Wer ihn benützte, wurde möglicherweise vom späteren Lehrer Hans Scheidegger bedient. Selbst im Schlosskino Wädenswil war lange Jahre seine Reklame zu sehen.
Seine Reisen unternahm der Geschäftsmann mit der Vespa, einem Motorroller. Im Winter 1954 verunfallte er wegen einer Eisscholle auf der Strasse, war gelähmt, erholte sich jedoch schnell wieder. Der Arzt sprach ihm ins Gewissen. Nur einer von Tausend käme so glimpflich davon. «Kaufen sie ein Auto!», riet er. Was Walter Fischer ein Jahr später tat.
«Fleck» und «Patentfutter», zwei von Walter Fischers patentierten Erfindungen.

DOCH KREDITWÜRDIG

Dass die Schuster bei den Banken nicht kreditwürdig waren, hatte Walter Fischer erlebt. Dass es ihm bei der Wädenswiler Bank besser erging, führt er auf die räumliche Nähe zurück. «Sicher hat der Bankdirektor Décoppet gesehen, dass bei uns oft bis spät nachts Licht brannte.» Zudem wisse er, dass seine Bekannte, die Fabrikantenfrau Schnyder im Morgenstern, ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte. 1952 konnte Walter Fischer für 85000 Franken die Liegenschaft an der Rosenbergstrasse 6 kaufen. Im Erdgeschoss befand sich eine öffentliche Badeanstalt. Die Gemeinde betrieb sie. Sie wurde jedoch immer weniger genutzt, weil die neuen Wohnungen durchwegs mit Badezimmer ausgestattet wurden. Wo einst Badewannen standen, baute der Hausbesitzer seine Maschinen auf und bezog die neue Werkstatt im Jahre 1958. Mit der Mister-Minit-Filiale, die am 5. September 1977 im nahen Migros-Markt eröffnet wurde, erhielt er Konkurrenz der neuen Art. Diese Ladenkette umfasst heute 104 Filialen in der Schweiz und bietet einen Schlüssel- und Schuhservice. Walter Fischer vermutet, dass die Bewilligungspflicht für Schuhgeschäfte in jener Zeit abgeschafft wurde. Mit dem Vermieten von Kühlfächern verschaffte er sich ein Nebeneinkommen. 1979 zügelte er die Werkstatt ins Hinterhaus und vermiete das freigewordene Ladenlokal. Je mehr Jubiläen der Schuhmachermeister feiern konnte, desto mehr nahm seine Werkstatt musealen Charakter an.

Die Figur des Schuhmachers Walter Fischer ist in die Jahre gekommen. Sie ist etwa ein halbes Jahrhundert alt und reparaturbedürftig.

Drei seiner Nähmaschinen stammen aus dem vorletzten Jahrhundert.

HAUPTPERSON UND PUBLIKUM BERÜHRT

Drei Generationen Kunden gingen bei ihm ein und aus. Die private Fernsehstation Tele-Züri war im Jahre 2005 zuvor auf den aussergewöhnlichen Schuster aufmerksam geworden und hatte einen Beitrag über ihn gezeigt. Im Frühjahr drauf luden die «Aktiven Senioren» Walter Fischer ein, aus seinem reichen Leben zu erzählen. Das Interesse an Fischers Lebensrückblick war gross, der Hauptperson jedoch fiel es offensichtlich schwer, im Mittelpunkt zu stehen und sein Leben Revue passieren zu lassen. Eine Woche vor seinem Auftritt hatte sich sein Gesundheitszustand dermassen verschlechtert, dass der Arzt ihm geraten hatte, den Vortrag abzusagen. Die jüngste Tochter, Magi Wolfangel-Fischer, rettete den Anlass. Sie erzählte anhand seines Manuskripts. Manchmal fügte er ihren Worten noch ein Detail hinzu. Am Schluss gestand die Tochter, dass sie selber Neues aus der Lebensgeschichte ihres Vaters erfahren habe. Sie widerspiegle ein Stück Zeitgeschichte.

WAHRSCHEINLICH DER ÄLTESTE

Obwohl der Pensionierte die Rente der AHV erhielt, wollte er weiter arbeiten, – bis drei Wochen vor seinem 93. Geburtstag. Immerhin hatte er sein Pensum reduziert. Am Montag, Mittwoch- und Samstagnachmittag blieb das Geschäft geschlossen, und 12 Wochen im Jahr machte er Ferien. Walter Fischer vermutet, dass er der älteste, noch tätige Schuhmacher der Schweiz war. Sein ehemaliger Lehrling, Emil Streuli, trat lange vor ihm in den Ruhestand.

BERUF IM WANDEL

Walter Fischer traf in Wädenswil auf 14 Konkurrenten. Am 11. Februar 1963 teilten in einem Inserat noch sechs Schuhmachermeister den Kunden mit, dass sie ihr Geschäft «der heutigen Zeit entsprechend» am Samstag um 12 Uhr schlössen. Als Walter Fischer sein Geschäft übergab, betrieb in Wädenswil ausser ihm nur noch Mister-Minit in der nahen Migros einen Schuhservice. Wie sehr sich die Branche gewandelt hat, zeigt auch Fischers Aussage: «Früher hatten die Leute zwei Paar Schuhe, heute jedoch zwanzig.» Von diesen sind viele nicht aus Leder und brauchen keinen Schuster. Als die «Zürichsee-Zeitung» im Frühjahr 2004 über ihn berichtete, hatte er keine Angst, danach mit Aufträgen überhäuft zu werden. Vielmehr sagte er: «Schauen Sie einmal, was die Leute tragen – Wegwerfware.» Diese Mentalität lag ihm fern. Er war der Bewahrer, zeigte an einem Beispiel augenfällig, wie ein Schuh aufgemöbelt werden kann. «Man muss den Beruf lieb haben wie eine Frau», war sein Credo. Ein gutes Stück weit nahm auch seine 1989 verstorbene Frau diesen Beruf an. Besonders geschickt war sie im Nähen. Sie war es, die Reissverschlüsse einnähte. An den Sektionstreffen der Schuhmacher konnte sie ihr Können den Schuhmachermeistern weitergeben.

Belkacem Memmou, Walter Fischers Nachfolger.

DER EFFOLGREICHE FERIENKÜNSTLER

Gefragt nach dem liebsten Schulfach, sagt der Senior spontan: «Ferien! Ich war ein Ferienkünstler!», und er lacht. Im Schulbetrieb waren ihm Turnen und Singen am liebsten. In Wädenswil war er 35 Jahre lang Mitglied im Handharmonikaklub und ging mit dem Klub auf Reisen, auch ins Ausland. Seine Lieblingsfächer haben rein gar nichts mit Betriebsführung zu tun. Und doch hat er in seinem langen Leben gut gerechnet. Getrieben hat ihn der Wunsch, ein Haus zu besitzen. «Das habe ich mir schon als Kind gewünscht», sagt er. Für dieses Ziel war er fleissig und sparsam. Und wie er sich vergegenwärtigt, dass er seit 55 Jahren im eigenen Haus und seit kurzem hypothekenfrei wohnt, fängt sein Gesicht an zu strahlen. Er freut sich herzlich über seinen Erfolg und lacht.

DAS LEBEN OHNE ARBEIT

An seinem 94. Geburtstag, am 23. September 2007, kann Walter Fischer feststellen, dass weder die knappe Ernährung noch der Motorradunfall, noch die eingeatmeten Lösungsmittel der Leime und Farben ihn Lebensjahre kosteten. Nicht die Schulschwierigkeiten, nicht die Erwerbsausfälle in der Kriegszeit konnten ihn daran hindern, seine Ziele zu verfolgen. Er mauserte sich vom Kind armer Leute zu einem solventen Geschäftsinhaber und Hausbesitzer. Er bereut es nicht, dass er – endlich – seine Schusterschürze an den Nagel gehängt hat. Ein Jahr nach der Geschäftsaufgabe weiss er es: Er kann auch ohne Arbeit glücklich sein.
Am 1. September 2006 übernahm Belkacem Memmou aus algerischer Handwerkerfamilie, der seit 1992 in der Schweiz lebt, Fischers Geschäft. Er erweiterte es um einen Schnell- und Schlüsselservice, beliess aber den namen Fischer.
Walter Fischer mit seinem Nachfolger Belkacem Memmou.




E. Magdalena Preisig




Quellen

Dokumentensammlung Walter Fischer,
Schweizerischer Mediendienst,
«Zürichsee-Zeitung»,
mündliche Recherchen.