Fanny Rusterholz – die unvergessliche Klavierlehrerin

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1988 von Peter Weiss
 
«De schönschti Pruef – i säg es frei, dass daas halt eifach MYNE sei. Ich has nüd z tue mit tote Sache. Bi mir gits z lobe, z schimpfe, z lache. Ganz je nachdem eis siini Sache häd prepariert, wird im s Eint oder s Anderi serviert. Doch isch emaal de Pfusch und d Fuulheit überwunde, erläbed mir im «Sunneblick» di schönschte Stunde.
Und öppe tüemer – das isch au na z sääge, näbet der Musig Fründschaft pflääge. Ganz bsunders bi den eitere Chunde bringed mers ring uf 120 minüütigi Stunde.»
Mit diesen Worten stellte sich Fanny Rusterholz in einer Schnitzelbank selber vor. Wir spüren darin etwas vom Geist und der Begeisterung, die ihr jahrzehntelanges Wirken als Klavierlehrerin belebt und durchdrungen haben.
 

FANNY RUSTERHOLZ

wurde in Wädenswil am 8. Mai 1901 in der «Akazie», in der ihr Onkel Robert Schärer eine Bäckerei und Conditorei betrieb, geboren. Später führten ihre Eltern für einige Jahre das benachbarte Restaurant «Bellevue» und zogen dann ins Haus «Linde» an die Zugerstrasse.

Fanny Rusterholz, April 1909.

Fanny Rusterholz erhielt ihre ersten Klavierstunden bei der schon recht betagten Jungfer Hottinger. 1916 starb Vater Julius Rusterholz. Am Palmsonntag 1917 wurde Fanny in der Kirche Wädenswil konfirmiert. Obwohl die Mutter für sie eine Lehre als Schneiderin vorgesehen hatte, besuchte Fanny von 1917 bis 1920 das Konservatorium in Zürich. Im Abgangszeugnis, das von Volkmar Andreae unterzeichnet ist, lesen wir, sie sei «eine überaus fleissige, gewissenhafte und pünktliche Schülerin gewesen, besitze ein gutes musikalisches Empfinden und ein zuverlässiges Gedächtnis.»
Schon als Musikstudentin erteilte Fanny Rusterholz eifrig Klavierunterricht, was die Mitbewohner der «Linde» zunehmend störte. So zog sie mit ihrer Mutter für kürzere Zeit in den «Oberen Lehmhof» und anschliessend zu Buchbinder Theilers. Am 29. Juli 1922 erstanden die beiden das recht verwahrloste Haus Schönenbergstrasse 1 aus einer Gant, liessen es ausbessern, versahen es mit einem Balkon und gaben ihm den Namen «Sunneblick».

«BI ÖISERER TANTE FANNY IM SUNNEBLICK»

In diesem originellen, von Efeu und Glyzinien umrankten Haus unterrichtete sie in den kommenden Jahren unzählige Wädenswiler Kinder in einer frohmütigen, aber doch bestimmten Art im Klavierspiel. Da bei ihr zeitweise in der Woche mehr als sechzig Schüler ein und aus gingen, begann sie schon morgens um sieben Uhr.
Ihr wohl bekanntester Schüler ist der Kabarettist Max Rüeger, der ihr jeweils Gedichte schrieb, aber auch von Cornel Fürst und dem Liedermacher Christian Kägi und seinen Brüdern sowie von vielen anderen mehr wusste sie Löbliches und Heiteres zu berichten. Ihr lustigster Schüler sei der Landwirt Adrian Waldmeier gewesen. Er habe ihr einmal das Monatsgeld für den Unterricht zum Fenster hinausgeworfen, so dass sie ihren Lohn auf der Strasse zusammensuchen musste.
Fannys Geburtshaus «Akazie» erhob sich am Standort der heutigen Bäckerei/Conditorei Brändli beim Bahnhof.

«EN GANZ GFREUTE TAG»

Sehr beliebt waren ihre Musiknachmittage, die Vortragsübungen ihrer Schüler, die sie zu festlichen Anlässen gestaltete. Sie schrieb dazu Lebensbilder von Komponisten in Versform, wie zum Beispiel von Franz Schubert, Carl Maria von Weber und anderen, die von ihren Schülerinnen und Schülern vorgetragen und mit den entsprechenden Musikstücken illustriert wurden. Ein anderes Mal ordnete sie Text und Musik nach den vier Jahreszeiten. Ein besonderer Tag war jeweils auch die letzte Klavierstunde vor Weihnachten: Jedes Kind durfte auf dem Gabentisch seinen «Rugel» holen – ein eingerolltes, liebevoll verpacktes Notenblatt mit einem Musikstück, das seinen Fähigkeiten entsprach.

«SI HÄTS GMERKT»

Wer in die Klavierstunde kam, ohne geübt zu haben, wurde ganz ordentlich in die Kur genommen. Im Wiederholungsfall wurde ihm ein Heft in die Hand gedrückt, in welches er bis zur nächsten Stunde einen Aufsatz zu schreiben hatte. Diese Aufsätze, oft mit humorvollkritischen Bemerkungen gegen die Klavierlehrerin gewürzt, geben ein köstliches Bild von ihrer überaus wohlwollenden und liebevollen Beziehung zu den Kindern. So lesen wir als Überschriften über den Strafaufgaben etwa: «Ich has chönne diheim», «Si häts gmerkt», «Die Chilbi und ihre Folgen», «Ich bessere mich», «Leider wieder etwas rückfällig geworden», «Böse Zeiten», «Die ungewaschenen Hände», «Jetzt hat's mich doch erwischt», «D Hitz isch gschuld», «D Zyt gaat au ume, wämmer nüt tuet».
Wie es einer Schülerin erging, die sich nach diesem letztgenannten Motto verhielt, hören wir jetzt von ihr selbst:

Restaurant Bellevue. Davor stehen von links nach rechts: Julie und Emilie Rusterholz-Schärer mit Fanny.

«EINE KLAVIERSTUNDE»

«Am Mittwochnachmittag ging ich wie gewohnt in die Klavierstunde. Mit einem schlechten Gewissen, weil ich nicht geübt hatte, sprang ich die Treppe zur Haustüre empor. Mit einem freundlichen Lächeln öffnete mir Fräulein Rusterholz die Türe. Ich dachte: Wenn sie wüsste, wie wenig ich geübt hatte, dann würde sie nicht mehr lachen. Ich setzte mich auf das Ofenbänkchen, wo ich, nicht lange blieb, denn nun kam ich an die Reihe.
Schon nach der Tonleiter betrübte sich das Gesicht der sonst immer fröhlichen Klavierlehrerin. Ich musste eingestehen, dass es furchtbar tönte. Bei der nächsten Etüde tanzte das berühmte «Stäckchen» schon ganz vergnügt auf meinen Fingern herum, was nicht sehr angenehm war. Aber einmal war es genug. Ich bemühte mich, keine Fehler mehr zu machen. Bisweilen war das «Stäckchen» auch ein wenig müde geworden, aber um so mehr ertönte das Kosewort «Zwätschgechopf». Dieses bereitete mir nicht viel Kummer, denn es schmerzte ja nicht. Kaum waren einige Minuten vergangen, befand sich das unangenehme Ding schon wieder auf meinen Fingern. «Au» – war meine Reaktion. Als es an der Kirche halb drei Uhr schlug, atmete ich auf. Nun war ich erlöst – und trotz alledem freute ich mich auf die nächste Klavierstunde.»
 
Unterwegs zum «Sunneblick», zur Klavierstunde bei Fanny Rusterholz.

«WER KÄNNT SI NÖD»

Fanny Rusterholz verstand es ausserordentlich, Gemeinschaft zu schaffen und zu entfalten. Der «Sunneblick» war ein offenes und gastfreundliches Haus, in dem man jederzeit willkommen war. Das galt für den Kirchenchor und seine Dirigenten Heinrich Funk und Rudolf Sidler, die Fannys klare und sichere Sopranstimme wie auch ihren heiteren Sinn sehr schätzten. Wie oft traf man sich nach der Probe noch im «Sunneblick» zu einer «Fideelisuppe» oder «Bölewääe» und spielte Canasta bis zum Morgengrauen.
Zu einem besonderen Mittelpunkt wurde ihr Haus noch durch die Eröffnung der Altersstube am 6. Mai 1971. Zu überaus günstigen Bedingungen stellte sie der reformierten Kirchgemeinde das untere Stockwerk im «Sunneblick» als Treffpunkt und Ort der Begegnung für ältere Gemeindeglieder zur Verfügung. «Mer cha doch au luschtig sii, wänn mer alt isch», meinte sie und freute sich gemeinsam mit den betagten Gästen.
Erstaunlich war auch ihre Offenheit und ihre Zivilcourage. Sie konnte sehr resolut sein, nahm kein Blatt vor den Mund und wagte, den Leuten geradeheraus ihre Meinung zu sagen. Doch wer hätte ihr etwas nachtragen können, wenn sie am Ende einer solchen Auseinandersetzung mit strahlenden Augen und einem gewinnenden Lächeln hinzufügte: «Aber gälled Si: Die Liebe bleibt.»
Fanny Rusterholz war eine begabte Erzählerin und verstand es, zu unterhalten. Ihr Sinn für komische Situationen, ihr verschmitztes Lächeln, ihr Augenspiel, ihre Schlagfertigkeit und ihre vielen Schlaumeiereien schufen eine Atmosphäre voll Fröhlichkeit, Kurzweil und Gemütlichkeit. Nicht zufällig lautete eines ihrer Gebete: «Liebe Gott, ich tanke Dir, dass Du mir e sones glöölets Gmüet gää häsch.»
Meisterhaft konnte sie andere in ihrer Art und ihrem Dialekt nachahmen, selbstverfasste Schnitzelbänke und Gedichte vortragen oder eigene Erlebnisse, wie zum Beispiel ihren Auftritt vor dem Territorialgericht, zum besten geben. So wurde sie zu vielen Hochzeiten und Familienfesten geladen, rezitierte und spielte auf dem Klavier – ich erinnere nur an das berühmte «Sächsfamiliehuus» – und verbreitete viel Heiterkeit. Ich selber habe in Wädenswil noch in keinem Haus so viel gelacht wie bei Fanny Rusterholz im «Sunneblick».
 

«S LOOSIGSBÜECHLI»

Fanny Rusterholz fühlte sich in einem fast kindlichen Glauben bei Gott geborgen, aufgehoben und mit ihm verbunden. Dies verlieh ihr eine grosse innere Kraft und Unabhängigkeit. Sie nahm Anteil und konnte trösten, mit Karten und Worten. «Das mues halt e so sii, es Abschiednää gits immer wider.»
In der Weihnachtszeit lag bei ihr jedes Jahr ein grosser Stapel Losungsbüchlein mit Bibelworten für jeden Tag bereit, die man gratis abholen konnte. Unter den Empfängern waren Freunde und Bekannte, ehemalige Schüler und Schülerinnen, Pfarrer und auch ein Pro­fessor.
Es war ihr – wie schon ihrer Mutter – ein Anliegen, gute christliche Literatur zu verbreiten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen. So stellten die beiden schon früh gegen ein kleines Entgelt das Untergeschoss ihres Hauses für einen christlichen Buchladen zur Verfügung. Damit dieser wertvolle Dienst am Wort weitergeführt werden kann, hat Fanny Rusterholz testamentarisch das Ladengeschoss der Christlichen Vereinsbuchhandlung geschenkweise als Stockwerkeigentum vermacht.

«FANNY RUSTERHOLZ-FONDS»

Überaus grosszügig sind auch ihre Vermächtnisse zugunsten der reformierten Kirchgemeinde. Fanny Rusterholz war zeit ihres Lebens eine stille Wohltäterin und unterstützte regelmässig Werke christlicher Liebestätigkeit. So erhält die reformierte Kirchgemeinde neben 100 000 Franken in bar das Sechsfamilienhaus «Nordheim» an der Neudorfstrasse 19 zu Eigentum und als Nachvermächtnis auch die Stockwerkeinheit vom Erd- bis zum Dachgeschoss des «Sunneblicks» zugesprochen. «Alle meine Zuwendungen an die ref. Kirchgemeinde Wädenswil sollen in einen Fonds zusammengefasst werden, dessen Reinertrag für gute Zwecke zu verwenden ist, Unterstützung von Bedürftigen in und ausserhalb der Gemeinde, Hungernde, Flüchtlinge usw.» Die Kirchenpflege erhält damit eine vornehme und verantwortungsvolle Aufgabe. Hoffen wir, dass sie sie auch im Sinn und Geist von Fanny Rusterholz wahrnimmt und weiterführt.

«ABSCHIED NÄÄ»

Bis in ihre letzten Lebensjahre erteilte Fanny Rusterholz Klavierunterricht. Sie freute sich so sehr auf ihre Schüler, dass sie das Ende der Schulferien jeweils kaum erwarten konnte. Als ihre Kräfte nachliessen, fanden sich manch gute Freundinnen und Bekannte, die ihr beistanden, sie etwa mit Obst versorgten oder auf eine Schiffahrt begleiteten. Ihre Nichte Milly Scherrer stand ihr gerne zur Verfügung, und Dr. Cornel Fürst schenkte ihr die nötige ärztliche Betreuung. Besonders dankbar war sie auch ihrem ehemaligen Schüler Bruno Rusterholz, der sich in vorbildlicher Weise um ihre Liegenschaften und finanziellen Angelegenheiten kümmerte. Ihre letzte Zeit verbrachte Fanny Rusterholz in einem privaten Pflegeheim in Richterswil, wo sie sich anfänglich noch öfter ans Klavier setzte und auswendig Kirchenlieder und Musikstücke wie den «Comersee», «Albumblatt für Elise» oder das Menuett ihres zeitlebens hoch verehrten Wädenswiler Musikdirektors und Organisten Fritz Stüssi spielte. Auch wenn ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten abnahmen, so blieb ihr doch ihr heiteres, kindlichgläubiges Gemüt erhalten, bis sie am 14. März 1988 heimgehen durfte.

 



Peter Weiss