Demokratie im Spannungsfeld der Globalisierung

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1998 von Isidor Stirnimann

Ist die Demokratie ein Prozess oder ein Zustand? Es ist nachvollziehbar, dass wir mit der jetzt gelebten Demokratie an Grenzen stossen. Niemand aber wird ernsthaft bestreiten, dass die direkte Demokratie die richtige Form für Liberalismus ist.
Viele Fragen beschäftigen uns heute: Gross und Klein, Jung und Alt. Wo ist unsere einst so ausgeprägte Festfreude geblieben? Was hat uns der so hochgelobte Shareholder value bis jetzt gebracht? Auf was waren wir alle bis vor kurzem so stolz? Wo ist die vielgepriesene und auch anerkannte Dynamik in der Volkswirtschaft, ja der Schweiz geblieben? Wer oder was hat uns die so angenehmen und selbstverständlichen Eigenschaften weggenommen?
Warum werden Standortbestimmungen in letzter Zeit meistens auf negativen Kritiken abgestützt? Warum verharrt die Arbeitslosigkeit so hartnäckig auf einem hohen Niveau? Dies alles muss doch Gründe haben.
Vieles hat sich in unserer Umgebung, in unserem Land, sehr rasch und unfreundlich verändert.
In der Welt werden rasch neue Positionen bezogen, und wir beobachten aus sicherer Distanz Veränderungen in fast allen Bereichen des Zusammenlebens. Wir und unser Land haben Mühe mit dem raschen Wandel der Zeit! Vielfach sind wir gefangen in einem Netz von selbstgeschaffenen Zwängen und bremsen damit die so dringend erforderliche Neuorientierung.
Referenden und Initiativen in grosser Zahl verteuern und verlangsamen diesen Prozess noch zusätzlich. Gesetzt werden täglich laufend aus- anstatt auf ein vernünftiges Mass abgebaut! Ein Beispiel zum Thema direkte Referendumsdemokratie: Die überzeugende Mehrheit des Wädenswiler Gemeinderates hat den privaten Eigentümern der Villa Flora ermöglicht, einen Neubau zu erstellen. Prompt wurde das Referendum ergriffen. Das Resultat kennen wir. Die ganze Angelegenheit kostet heute über 2 Millionen Franken. Aber weder der Eigentümer noch die Gemeinde haben etwas brauchbares Neues. Verzögerungen und Verhinderungen sind so aber völlig legitim. Aber machen sie auch Sinn?
Wie heisst es doch? Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Als Staatsbürger haben wir auch ein Problem mit der immer neu aufflammenden Auseinandersetzung über die Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg. Wir sind mit unbequemen und ernsthaften Fragen konfrontiert. Wir haben das Ausmass der «Altlasten» sicher allgemein unterschätzt. Dass die Diskussion über diese Themen nicht früher einsetzte, ist zurückzuführen auf den an den Krieg anschliessenden intensiven Ost-Westkonflikt. Während Jahrzehnten hat dieser Konflikt die Weltaufmerksamkeit auf sich gezogen und dominiert. Wer kann sich aber heute eine Vorstellung über die grossen Sorgen eines Schweizer Politikers um 1943 machen? Einen Politiker in jener Zeit könnte man vergleichen mit einem Feuerwehrkommandanten, der auf dem Brandplatz kommt und sehr schnell entscheiden muss, wie er vorgehen will, um zu retten, was noch zu retten ist. Keine leichte Aufgabe! Wir können und müssen uns aber bemühen, ohne Präjudiz und Empfindlichkeiten die Geschichtsbücher kritisch zu prüfen und zur Kenntnis zu nehmen.
Aber sollten wir uns nicht endlich versuchen zu lösen von den täglichen einzigen Themen: Banken, Amerika, Vergangenheit und Zweitem Weltkrieg. Versuchen wir uns zu lösen, trotz oder gerade wegen den täglichen Negativmeldungen in den Medien.
Warum tun wir uns aber so schwer mit dem Loslassen dieser Themen? Kann es sein, dass wir selber ein unscharfes Bild unserer Schweiz haben? Unweigerlich stellt sich uns da die Frage: Wie sieht uns die Welt? Wenn ein total manipuliertes Bild von unserem Land und von unserer Vergangenheit weltweit geglaubt wird, dann heisst das doch auch: Man kennt uns nicht! So ist es: die Schweiz ist unbekannt. Bekannt ist nur der Mythos Schweiz: vom Matterhorn über die Schokolade und die Uhren bis hin zum Bankgeheimnis. Jetzt kehrt sich der Mythos gegen die Schweiz.
Warum aber kennt die Welt die richtige Schweiz nicht? Wir haben es einfach nicht verstanden, die Schweiz jenseits des Mythos bekannt zu machen. Wir waren nicht anwesend, dort wo man sich kennenlernt. In den Nachbarländern, in Europa, in der Welt. Gegen das unschöne Bild, das von unserem Land verbreitet wird, hilft keine Propaganda, keine public Relation. Es hilft nur Politik: wir müssen unsere wirkliche Schweiz bekannt machen, und zwar dort, wo sich die Welt in gemeinsamer Arbeit kennenlernt!
Die Grenzen sind geographisch so offen wie noch nie. Nützen wir die Chance, schliessen wir uns nicht ängstlich und zum Teil mit politisch gemachtem Gepolter (dafür gibt es echte Spezialisten in der Schweiz) wieder ab. Weichen wir nicht aus! Nur wer wagt, gewinnt. Denn stehenbleiben heisst auch sitzenbleiben.
Wann wagen wir uns wieder? Wann machen wir vorwärts? Aber vorwärts mit was? Gehen wir doch endlich wieder auf unseren Partner zu; sei es der Nachbar, der Berufskollege, der Chef, der Politiker, die Nachbargemeinde, der Kanton, die Schweiz, Europa und die Welt.
Heute müssen wir wieder ernsthaft um unseren Platz in der Welt kämpfen, und Politik und Wirtschaft werden dafür viel Handlungsspielraum brauchen. Gerade aber diesen Handlungsspielraum müssen wir uns zuerst wieder zurückgewinnen. Unsere direkte Demokratie tut sich schwer in einem schwachen oder nur zögerlich wachsenden Markt. Wen die Demokratie durch Referenden und Initiativen zu einer Unberechenbarkeit führt, werden wir an den Verhandlungstischen immer wieder den Kürzeren ziehen. Hoffen wir, dass nicht erst ein noch grösserer Leidensdruck uns wieder zu vermehrtem pragmatischen Handeln führt.
Wagen wir, mit Behutsamkeit unsere Demokratie zu reformieren und den Erfordernissen der globalisierten Zeit anzupassen! Machen wir wieder Schritte in die Zukunft, wenn auch kleine, aber machen wir sie. Vergessen wir die Rufer aus Übersee und die selbsternannten rückwärtsorientierten Propheten im eigenen Land. Lassen wir unseren Stolz nicht brechen durch einzelne Interessenvertreter aus anderen Nationen. Brechen wir auf und stehen stolz zu unserer Vergangenheit mit allen ihren Fehlern.
Wir alle leben und arbeiten in einem wunderschönen Land. Werden wir uns dessen wieder vermehrt bewusst! Denn wir glauben doch an die Zukunft.




Isidor Stirnimann
Gemeinderatspräsident 1997/98


Stadtrat Wädenswil 1998. Vordere Reihe von links nach rechts: Stadtpräsident Ueli Fausch, Hanne Herzog, Vinzenz Bütler, Dr. Bruno Ern, Rolf Kurath.
Hintere Reihe von links nach rechts: Armand Erzinger, Markus Frauenfelder (Stellvertreter des Stadtschreibers), Paul Rota, Johannes Zollinger, Heinz Kundert (Stadtschreiber), Ernst Stocker.