ZEUGHEER, LEONHARD (1812−1866)

Quelle: Architektenlexikon der Schweiz 19./20. Jahrhundert (Isabelle Rucki und Dorothee Huber (Hrsg.), im Birkhäuser Verlag Basel, 1998

* 10. Januar 1812 in Zürich, † 16. Dezember 1866 in Zürich, Architekt.
Nach der Schulzeit in Zürich begab sich der junge Zeugherr 1825 nach Neuenburg, wo er wohl das Lyzeum besuchte und eine Architektenlehre absolvierte. Es ist nicht auszuschliessen, dass der Solothurner Joseph Antoine Fröhlicher sein Lehrmeister war, der sich bereits 1809 in Paris etabliert hatte und 1828-35 den Neubau des Collège Latin in Neuenburg ausführte. Später soll sich Zeugherr in Paris weitergebildet haben (v. Ehrenberg), ein Aufenthalt, der durch keine Dokumente belegt ist.
1833 absolvierte Zeugherr in Liverpool beim bekannten Architekten Thomas Rickman ein Praktikum. Es ist wahrscheinlich, dass sein Bruder Jakob (1803-1865), der damals in Liverpool als Musiklehrer und Orchesterdirigent wirkte, ihm diese Stelle vermittelt hatte. Rickman war bekannt durch seine Schriften («An Attempt to Discriminate the Styles of English Architecture from the Conquest to the Reformation»), für seine Vorliebe für die Neugotik und für seine Affinität zu Gusseisenkonstruktionen selbst in Sakralgebäuden, welche Zeugheer in sein Schaffen aufnahm und nach Zürich brachte. Eine Anzahl Pläne klassizistischer und neugotischer Wohnhäuser (Aufnahmen oder Entwürfe) im Nachlass und Zeugheers Vorliebe für symmetrische, klassizistisch schlichte Baukörper zeugen vom englischen Einfluss.
Um 1835 nach Zürich zurückgekehrt, wurde ihm viel Sympathie entgegengebracht. Carl Ferdinand von Ehrenberg lobte in seiner «Zeitschrift über das gesamte Bauwesen» die Ausbildung Zeugheers, warnte aber vor zuviel Euphorie für die (im puritanischen Zürich) unangebrachte und viel zu aufwendige Neugotik. So wurde 1834 Zeugheers neugotisches Projekt für eine Neumünster-Kirche abgelehnt und erst ein englisch-strenger Entwurf für ein klassizistische Kirche ausgeführt. Auch von politischer Seite (insbesondere von Regierungsrat Alfred Escher) erlebte Zeugheer Wohlwollen, konnte er doch noch in den 30er Jahren zahlreiche öffentliche Bauten ausführen: 1835-37 errichtete er das neue Kantonsspital (mit Gustav Albert Wegmann), 1836/37 folgte die Blinden- und Taubstummenanstalt, 1837-42 die Knabenschule Winterthur und 1837-42 das Pfrundhaus in Zürich. Alle Bauten ist eine strenge Symmetrie, eine Gliederung mit Mittel- und Eckrisaliten sowie ein sparsamer Einsatz klassizistischer Architekturdetails gemeinsam.
Zürich, Neumünsterkirche, 1834-39.
 
In den 1840er Jahren konnte Zeugheer für die Zürcher und Winterthurer Oberschicht eine Reihe von Villenbauten realisieren, die seinen Ruf als Schöpfer luxuriöser Landhäuser begründete. Bauten in seiner Heimatstadt folgten solche in der ganzen Schweiz und auch im Ausland (Bonn, Augsburg, Mailand). Zeugheers Bauherren waren vor allem Kaufleute, Banquiers, Industrielle und Ärzte wie Heinrich Hüni-Stettler (Horgen), Johann Ulrich Egger-Greuter (Winterthur), Heinrich Bodmer-Stockar (Zürich), Jakob Ziegler-Pellis (Winterthur), Otto Wesendonck (Zürich), Salomon Volkart (Winterthur), August Riedinger (Augsburg), aber auch Künstler wie Gustav Ott und Richard Wagner liessen sich ihre Häuser von Zeugheer errichten oder umbauen.
Waren Zeugheers erste Landsitze, die Villa Rosenbühl in Zürich sowie die Villa Palme in Horgen noch klare, kaum gegliederte klassizistische Kuben, so begann er in den 40er Jahren plastischer zu gestalten. Die Villa Seeburg in Zürich erhielt auf ihrer repräsentativen Strassenseite ein mächtiges befahrbares Vorzeichen in der Art italienischer Renaissance-Loggien, die Gartenfassade mit einem Mittelrisalit hingegen blieb einfach. Bei der Villa Sonnenhof in Winterthur vertauschte Zeugheer die Anordnung.
Die Landsitze der 50er Jahre sind noch vielfältiger. Nach und nach brachte der Architekt den Stil der Neurenaissance in die Architektur ein, gliederte differenzierter. In der Villa Wesendonck in Zürich durchdringen ein repräsentatives Loggienmotiv und ein Quergiebel den Hauptbau im rechten Winkel, in den Villen Neues Schloss in Teufen, Riedinger in Augsburg und Mylius in Mailand verbinden kleine Trakte zwei parallel gestellte Hauptflügel. Erst in den 60er Jahren verliess Zeugheer die Symmetrie seiner Bauten und schuf mit den Villen Buchenhof und Bellaria in Zürich sowie Villette Cham Landhäuser mit L-förmigen Grundriss.
Zürich, Villa Wesendonck, 1853-57.

Zeugheers Repertoire beschränkte sich nicht nur auf Villen und öffentliche Bauten, seine Stärke lag ebensosehr in der Bewältigung vielfältiger Bauaufgaben: Mühlen, Fabriken, Arbeiterhäuser, Zürichs erste Miethäuser (Escherhäuser), eine Brauerei, ein Kunsthaus, Casinos, Kaufbuden, Schulhäuser, Armen- und Strafanstalten, Wintergärten, Pavillons, ja sogar Taufstein entstanden auf seinem Reissbrett; allen Projektplänen gemeinsam, dass sie sehr sorgfältig geplant, in feinsten Strichen aufgezeichnet und meist koloriert sind. Projekte, die ihm wichtig erschienen, stellte er perspektivisch mit allen Details dar und kolorierte die Ansichten naturalistisch.
Ende der 1840er Jahre gingen die Aufträge an Zeugheer zurück. Im Streit verliess er die Sektion Zürich des SIA, gesundheitliche und familiäre Probleme belasteten ihn. Seine beiden Ehen mit Elisa Tremplier und Bertha Guyer blieben kinderlos. In Gottfried Semper erwuchs ihm eine Konkurrenz, der Flüchtling der 48er Revolution und seine Schüler mieden Zeugheer. Wohl bildete sich der Architekt stets weiter, unternahm Reisen nach Dresden und Berlin, nach Belgien und erneut nach England, allein sein Stern war am Sinken. Als er 1866 an den Folgen eines Herzinfarktes starb, fand es die Neue Zürcher Zeitung nicht einmal nötig, ihm einen Nachruf zu widmen.
Zeugheer hat das Bild seiner Vaterstadt des mittleren 19. Jh. ganz entscheidend mitgeprägt. In Zahl und Erscheinung nehmen Zeugheers Bauten eine Schlüsselstellung ein, ein beachtlicher Teil der neuen öffentlichen Bauten – Ausdruck des neu definierten Staatssystems – stammen von ihm. Auch die Stadt Winterthur und der Kanton Zürich sind durch Zeugheers feingestatete Bauten geprägt. Die Zürcherische Freitagszeitung würdigte den Architekten im Nachruf wie folgt: «Der Verstorbene gehörte zu unseren ersten Architekten; viele der schönsten und grössten Bauten sind ganz oder theilweise sein Werk, oder nach seinen Ideen ausgeführt. Neben feinem Geschmack für äussere Form verstand er es vornehmlich, das Innere seiner Gebäude mit äusserstem Komfort und Luxus einzurichten.» Deutlich ist in seinem Werk der englische Einfluss spürbar, der in der feindetaillierten Architektur seiner klaren, klassizistischen Kuben, in der Zurückhaltung seiner neugotischen Bauten seinen Ausdruck findet. Auch sein Neurenaissancestil ist verhalten, in feinster Art dekoriert, keinesfalls opulent. Das Innere insbesondere der Villenbauten gestaltete er selber bis ins Detail, achtete auf Vornehmheit und Eleganz und bezog die Ausstattung nicht selten aus Paris. Aufgrund seiner typologischen Vielfalt, des Interesses für alles Neue, insbesondere in den Bereichen Baumaterial, Wohnhygiene und Technik (er verwendete neue Heizsysteme) und des Bedürfnisses nach steter Weiterbildung kann Zeugheer als moderner Architekt bezeichnet werden. Die Lage seiner Bauten in den Grüngürteln unserer Städte haben bewirkt, dass ein grosser Teil der Bauten abgerissen wurde und viele noch heute bedroht sind.

Werkauswahl

Zürich, Neumünsterkirche (1834-39); Kaufbuden am Hechtplatz (1835); Krankenhaus (1835-42, mit Gustav Albert Wegmann); Blinden- und Taubstummenanstalt (1836/37); Escherhäuser (136-40); Winterthur, Knabenschule (1837-42); Zürich, Villa Rosenbühl (1837); Pfrundhaus (1837-42); Horgen, Villa Zur Palme (1839/40); Hausen a.A., Wasserheilanstalt Albisbrunn (1839-42); Liegenschaft Zürrer (1840); Horgen, Wohn- und Fabrikgebäude Hüni (1840-42); Wohn- und Gewerbehaus Keller (1841-42); Winterthur, Brauerei Haldengut (1841); Kappel a.A., Umbau Pfisterei (1841); Winterthur, Villa Sonnenhof (1841-43); Zürich, Kollermühle (1842); Villa Seeburg (1843-47); Chur, Hotel Steinbock (um 1850); Teufen ZH, Neues Schloss (1850-56); Zug, Villa Unterer Frauenstein (1851ff); Bonn, Projekt Villa Joest (um 1851); Zürich, Bezirksgebäude Selnau (1853-59); Villa Wesendonck (1853-57); Hotel Bellevue (1855-63); Winterthur, Villa Wehntal (1857-60); Wohn- und Geschäftshaus Warteck (1857-61); Zürich, Projekt für ein Stadthaus (1858); Augsburg (D), Villenprojekt für A. Riedinger (1858); Zürich, Villa von Muralt (1859/60); Villa Buchenhof (1859/60); Villa Bodmer-Stockar (1860-63); Winterthur, Projekt für ein Casino (1861/62); Zürich, Projekt für den NOB-Bahnhof (1861); Projekt für ein Casino (1862); Wädenswil, Villa Bürgli (1862-64, mit Johann Jakob Breitinger); Zürich, Gesellschaftshaus Zum Schneggen (1863/64, mit Georg Lasius und Adolph Brunner); Cham, Villa Villette (1864-66); Kuchen (D), Bad- und Waschanstalt Staub (1864); Zürich Villenprojekt für A. Rieter (1864); Mailand, Villa Mylius (1864-66); Gailingen (D), Villa Rheinburg (1866); Zürich, Villa Bellaria (1866).

Lit. [Auswahl]

HBLS 7; SKL 3, 4; Thieme-Becker 36; Zürcherische Freitagszeitung, 21.12.1866 [Nekrolog]; Hoffmann, Hans: Die klassizistische Baukunst in Zürich, in: Mitteilungen der Antiquar. Gesellschaft in Zürich 31/2, Zürich 1933; Gantner/Reinle 1962; Carl 1963, 92f.; Zürcher Chronik 4 (1966), 94-96; NZZ, Nr. 5485/5486, 17.12.1966; ZAK 29 (1972), 22 ff.; Festschrift Villette Cham, Cham 1988; ZSK 50 (1993), 65-74.

Nachlass

BAZ.

[hans peter mathis]