Der Brückenbaupionier und seine Decken

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2018 von Michael D. Schmid

Robert Maillarts frühe Industriebauten in Wädenswil

Die UNESCO hat den renommierten Titel «Weltkulturerbe» bereits an neun Stätten in der Schweiz vergeben. Auf der tentative list (Bewerberliste) befindet sich als Anwärterin auf das zehnte Weltkulturerbe eine Brücke bei Schuders im Prättigau. Die 133 Meter lange Brücke über das fast 90 Meter tiefe Salginatobel wurde 1929 bis 1930 erbaut und gilt vielen als Krönungswerk des Oeuvres von Robert Maillart (1872–1940). Der Berner Bauingenieur ist ausserhalb von Fachkreisen kaum bekannt, obwohl er aufgrund seiner technischen Innovationen in den Bereichen der Industriearchitektur und des Brückenbaus ohne Übertreibung zu den bedeutendsten Ingenieuren des 20. Jahrhunderts gezählt werden kann. Mit seinen technischen und ästhetischen Leistungen kann er auch zu den Pionieren der «funktionalistischen Wende» im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gezählt werden – der Abkehr von historisierenden und regionalisierenden Formen hin zu einer international gültigen funktionalen Ästhetik. Zum Frühwerk Maillarts gehören auch drei Fabrikbauten in Wädenswil. Dieser Artikel will einen Überblick über Maillarts Oeuvre verschaffen und seine Wädenswiler Bauten darin einordnen.

Robert Maillard, Ingenieur und Architekt, um 1925.

Ein Mann im Zeichen des Betons

Wer war der Mann, dessen statisches Know-how nicht nur in Hinterfultigen und Gündlischwand, sondern auch in Barcelona, Venedig und St. Petersburg1 gefragt war? Robert Maillart kam 1872 in Bern zur Welt und begab sich 1890 nach Zürich, wo er während vier Jahren an der ETH Zürich Ingenieurwesen studierte und in diesem Fach diplomierte. Einer seiner Lehrer war der Ingenieur Wilhelm Ritter (1847-1906), der mit seiner Lehre der Konstruktion und der statischen Kalkulation von Tragwerken massgeblichen Einfluss auf den jungen Maillart ausübte.2 Neben Ritters Konstruktionslehre war die Entwicklung des Eisenbetons durch Joseph Monier, dessen erste Betonbrücke 1875 entstanden sein soll, für Maillart entscheidend.3 Seine erste Erfolgsphase begann 1902 mit der Gründung seines eigenen Unternehmens Maillart & Cie. Ingenieurbureau und Bauunternehmung in Zürich, das auf Eisenbeton spezialisiert war.
Nach erfolgreicher Tätigkeit als planender und ausführender Ingenieur bedeutete ein Ferienaufenthalt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Riga 1914 das jähe Ende seiner ersten Erfolgsphase. Er wurde vom Ersten Weltkrieg überrascht und floh nach St. Petersburg und später nach Charkiw, wo seine Frau verstarb. Während er sich in Russland mit einzelnen Ingenieurarbeiten durchschlug, wurde seine Schweizer Unternehmung liquidiert. Erst 1919 konnte er nach erneuter Flucht – diesmal infolge der Russischen Revolution – in die Schweiz zurückkehren. Bis zu seinem Tod 1940 war er vor allem als Theoretiker und planender Ingenieur tätig. Seit 1920 besass er wieder ein eigenes Planungsbüro und gelangte ab Mitte der 1920er-Jahre erneut in den Ruf eines bemerkenswerten Ingenieurs.4 In seiner über 40-jährigen Karriere war Maillart an mehreren hundert Bauten beteiligt, an vielen davon als federführender Planer.5
 

Die Brücken-Revolution

1896 trat Maillart eine Stelle beim Tiefbauamt der Stadt Zürich an. Hier entwarf er sein erstes Brückenprojekt: Die bis heute erhaltene Stauffacherbrücke in Zürich. Die dem Zeitgeschmack entsprechende Natursteinverkleidung von Stadtbaumeister Gustav Gull verbirgt die bemerkenswerte Eisenbetonkonstruktion Maillarts. Die Brücke wurde 1899 vollendet. Sein erstes selbstständiges Projekt war die Innbrücke bei Zuoz von 1901. Maillart verband hier die Fahrbahnplatte mit dem Brückenbogen und den Längswänden zu einer Einheit und schuf so die erste Hohlkastenträger-Brücke aus Eisenbeton überhaupt. Dieses System verhindert ein Verbiegen der Fahrbahnplatte bei einseitiger Belastung. Auch sein nächstes Brückenprojekt in Graubünden war ästhetisch und konstruktiv bemerkenswert: Die Tavanasa-Brücke bei Breil, erbaut 1905. Durch die Weglassung von für Risse anfälligen Teilen der Längswände erzielte Maillart eine statisch stabile und ästhetisch elegante Form.6
Seine Meisterwerke im Brückenbau entstanden freilich erst zwei Jahrzehnte später, nach seiner Rückkehr aus Russland. Maillart entwickelte das System der Stabbogenbrücke mit hohlkastenversteifter Fahrbahn – ein System, das hohe Stabilität mit geringem Materialaufwand (und somit geringen Baukosten) und optischer Leichtigkeit und Eleganz verband. 1923 fand das überzeugende und nach Maillarts Methode auch leicht zu berechnende System bei einer Brücke im Wägital erstmals praktische Anwendung. Mit der 1925 errichteten Val-Tschiel-Brücke bei Donat, die mit einem für damalige Zeiten revolutionär dünnen Stabbogensystem 43 Meter überspannt, konnte die Funktionalität des Tagwerksystems bewiesen werden.7 Vielen gilt die beeindruckende Salginatobel-Brücke bei Schuders, ein Bauwerk vom Typus der Dreigelenkbogenbrücke, als sein Meisterwerk. 90 Meter der 133 Meter Gesamtlänge werden durch den ebenso monumentalen wie filigranen Stabbogen überspannt. Durch die mit der Fahrbahnplatte verbundenen Bogenkonstruktions- und Fahrbahnwände konnte eine hohe Stabilität zu geringen Kosten erzielt werden. Als Maillarts herausragendstes Werk gilt seinem Biographen David P. Billington dessen Arve-Brücke bei Vessey von 1936. Durch eine Knickung des Brückenbogens am Scheitelpunkt hat er hier – konstruktiv, wie ästhetisch – den letzten Schritt zur Perfektionierung seines Brückenbaus vollzogen.8

Brückenschlag zwischen raffinierter Ästhetik und technisch-finanzieller Effizienz. Die Salginatobel-Brücke bei Schuders GR, 1930.

Die Hallen-Revolution

Das Überspannen weiter Distanzen ist nicht nur im Brückenbau, sondern auch im Bau grosser Saal- und Hallenbauten gefragt. Auch in diesen Bereichen erwies sich Maillart als bahnbrechender Ingenieur. Zum einen experimentierte er mit dünnwandigen Betonschalenbauten. Sein erstes Projekt auf diesem Gebiet waren die beiden weltgrössten Gasbehälter aus armiertem Beton in St. Gallen, die er 1902 plante und ausführte.9 Auch die noch erhaltenen Musikpavillons am Bürkliplatz (1908) und am Sihlhölzli (1933) in Zürich und der temporäre Pavillon der Zementbauer an der Schweizerischen Landesausstellung 1939 bezeugen seine Leistungen im Bereich Betonschalenbau.10
Tragfähigere Räume waren für Fabrikations-, Lager- und Dienstleistungsgebäude gefragt. Seine ersten Projekte dieser Art waren die Tuchfabrik Pfenninger in Wädenswil (1904–1906) und ein Sanatorium in Davos (1905) – beides Skelettbauten mit einem Tragwerk aus armiertem Beton. Um grössere Distanzen kosten- und materialsparend überwinden zu können, tüftelte Maillart um 1908 an einem System für unterzugslose Decken, das er 1909 patentieren liess.11 In traditionellen Tragwerksystemen stabilisieren Unterzüge (eine Art Balken) die Decke auf den darunterliegenden Stützen und sorgen für eine gleichmässige Lastenverteilung. Bei Pilzdecken fallen diese material- und kostenintensiven Unterzüge weg. Die Säulen sind direkt mit den darüber liegenden Platten verbunden, wobei eine konische Übergangszone und sich im Auflagebereich der Decke verdichtende Armierung die Biege- und Schubspannung reduziert und die statische Stabilität des Eisenbetonverbundes sicherstellt.12
Durch Fensterachsen rhytmisierte Baukörper: Die Pfenninger-Fabrikationsgebäude von Maillart 1905 (Mittelgrund) und Kölla & Roth, 1921 (Vordergrund) in Wädenswil.

Optisch erinnern die pilzförmigen Säulen an dorische Kapitelle, bei denen zwischen Säulenschaft und Deckplatte (Abakus) ein konisches Zwischenstück (Echinus) eingefügt ist. Wie das dorische Kapitell, schafft auch die Pilzsäule durch einen konischen Säulenabschluss eine bessere Lastenverteilung. Bahnbrechend an Maillarts unterzugslosen Pilzdecken war jedoch die Verbindung von Säule und Deckplatte zu einem Verbund und die Verwendung einer ausgeklügelten Armierungsstruktur. Das Resultat ist eine stabile Konstruktion mit flachen Decken, die eine optimale Raumübersicht gewähren. In einer Werbeschrift nennt Maillart acht Vorteile dieser unterzugslosen Konstruktionsweise: Beste Ausnutzung der Bauhöhe, gute Raumdurchlüftung, vorzügliche Helligkeit, gute Bedingungen zum Durchführen von Leitungen an der Decke, Feuersicherheit, Widerstandsfähigkeit gegen Einzellasten und stossweise Belastungen, billiger Preis und Raschheit der Bauausführung.13
Erstmals zur Anwendung kam das System bei Maillarts 1910 erbautem Belmag-Lagerhaus in Zürich-Giesshübel.14 Die im selben Jahr begonnene Hutfabrik Felber in Wädenswil ist das zweite Bauwerk, bei dem Maillart seine unterzugslosen Pilzdecken realisierte. Die bisherige Forschungsmeinung, wonach das System zum zweiten Mal bei der Universität Zürich und zum dritten Mal beim Sackmagazin des eidgenössischen Getreidelagers in Altdorf (1912–1913) zur Anwendung kam15, ist somit zu revidieren.

Belastungstest der unterzugslosen Pilzdecken auf Maillarts Werkareal in Zürich-Oerlikon, 1908.

Die ersten Pilzdecken Europas. Maillarts Lagerhaus Zürich-Giesshübel, 1910.

Auch bei vielen von Maillarts späteren Projekten kamen Pilzdecken zur Anwendung, so bei zwei städtebaulich relevanten Zürcher Grossprojekten am Beginn der Moderne. Bei der 1927 bis 1930 von Adolf und Heinrich Bräm entworfenen Sihlpost war Maillart für die Berechnung und Planung von Tragwerk und Betonarmierungen zuständig. Weniger die Monumentalität des 120 Meter langen und inklusive Keller 7 Stockwerke hohen Sihlpostgebäudes war hier die Herausforderung, als die notwendigerweise unregelmässigen Abstände der Säulen, die es konstruktiv zu kompensieren galt.16 Auch bei der von Stadtbaumeister Hermann Herter entworfenen Doppelturnhalle im Sihlhölzli fungierte Maillart als Ingenieur. Für die Turnhallen selber kam das Pilzdeckensystem nicht in Frage, weshalb es nur im Kellergeschoss zur Anwendung kam. Die stützenfreien Turnhallen sind dagegen als Skelettbau mit einer Art Konsolen zur Überleitung zwischen den Stützen und den 19 Meter überspannenden Dachbinder ausgeführt.17 Die zeitlose Eleganz der sichtbaren Konstruktion ist ein weiteres Zeugnis für Maillarts ästhetisches Gespür.

Ein Postulat moderner Urbanität. Die Zürcher Sihlpost von Adolf Bräm, Heinrich Bräm und Robert Maillart, 1927-1930.

Zeitlose Eleganz: Die Turnhalle Sihlhölzli in Zürich von Hermann Herter und Robert Maillart. 1930/31.

Maillart war als Ingenieur an weiteren bedeutenden Bauprojekten in Zürich beteiligt: Er führte beispielsweise die Betonarbeiten bei Karl Mosers Kollegiengebäude der Universität (1911) aus18 und war als Planer am Bau der reformierten Pauluskirche Unterstrass (1932) beteiligt19, die zu den wichtigsten Sakralbauten des Neuen Bauens in der Schweiz gehört. Am augenfälligsten zeigt sich Maillarts Sinn für die Kombination von konstruktiven und ästhetischen Gestaltungsansprüchen wohl am 1924 erstellten Lagergebäude des Zollfreilagers Chiasso. Die gestalterisch einzigartige Aussenhalle – Max Bill verglich sie mit Architekturikonen des Jugendstils – wird von schwungvollen Beton-Fachwerkträgern überspannt, auf welchen das Dach ruht.20

Bauen für Wädenswiler Tücher

In Wädenswil durfte Robert Maillart drei Bauprojekte für die aufstrebende Industrie realisieren. Sein erstes Projekt – zugleich sein bedeutendstes in Wädenswil – war ein Fabrikationsgebäude für die Tuchfabrik Pfenninger & Cie. auf der Halbinsel Giessen, die (in Abgrenzung zur Tuchfabrik Hauser, Fleckenstein & Cie. am Reidbach)21 auch «Untere Tuchfabrik» genannt wurde. Das Unternehmen war um 1820 von Jean Louis Rentsch und Johann Isler gegründet worden und war anfänglich eine kleine Weberei mit lokalem Absatzmarkt, die auf den mächtigen Konkurrenten Fleckenstein, der über eine Spinnerei verfügte, angewiesen war. Die Produktionsstätte war zunächst ein Fabrikgebäude am Krähbach, doch bereits 1832 konnte eine eigene kleine Spinnerei in einer Liegenschaft auf der Giessen-Halbinsel eingerichtet werden. Dieser verkehrstechnisch günstige Standort wurde durch weitere Liegenschaftskäufe gestärkt, bis 1897 praktisch die ganze Halbinsel im Besitz des Unternehmens war, das seit 1887 als Kommanditgesellschaft Pfenninger & Cie. konstituiert war. Die Jahrhundertwendezeit war ein Höhepunkt der Firmengeschichte: Die zu einer der wichtigsten Tuchwebereien der Schweiz aufgestiegene Firma konnte sich mit dem Bau eines grossen neuen Fabrikgebäudes für die Weberei und Appretur eine grosse Investition leisten.22

Die Halbinsel Giessen mit dem Pfenninger-Fabrikationsgebäude von Maillart in den 1920er Jahren.

Der riesige Maschinensaal der Weberei im Pfenninger-Gebäude.

Zwischennutzung als Garage. Das Erdgeschoss des Pfenninger-Gebäudes heute.

Das noch junge Ingenieur- und Bauunternehmen Maillart & Cie. wurde 1904 mit der Planung und Ausführung des neuen Fabrikationsgebäudes beauftragt. Bereits 1906 konnten sie in Betrieb genommen werden. Es handelt sich um einen der ersten Industriebauten aus mit Eisen armiertem Beton in der Schweiz.23 Ausserdem war es das erste Fabrikgebäude, bei dem Maillart als Architekt, Ingenieur und Bauunternehmer fungierte24, und nimmt daher eine besondere Stellung in dessen Oeuvre ein. Nachdem das Fabrikareal 1921 um eine weitere architektonisch hochkarätige Produktionshalle erweitert worden war25, stellte die Firma Pfenninger zwischen 1971 und 1976 den Fabrikbetrieb schrittweise ein.26 Drei Jahre später war das Werkareal bereits auf 25 Mietparteien aufgeteilt.27 Die heutige Eigentümerin, die Peach Property Group, plant das Giessen-Areal mit einer Nutzungsdiversifizierung neu zu beleben. Zu Ehren seines Erbauers wird das alte Pfenninger-Hauptgebäude in der Visualisierung «Maillart» genannt.28
Maillarts Fabrikationsgebäude ist ein fast 75 Meter langes, vierstöckiges und mit einem 36 Meter hohen Hochkamin versehenes Monument. Entsprechend prägt das Gebäude das Wädenswiler Ortsbild trotz seiner peripheren Lage mit – gerade vom See aus betrachtet. Die Fabrik ist als Skelettbau konzipiert: Die Fassaden wurden mit Sichtbackstein-Mauerwerk ausgeführt, wobei die hauptsächlich tragenden Elemente die dahinter verborgenen Eisenbetonpfeiler sind. Das Gebäude weist einen trapezförmigen Grundriss auf und umfasst vier Stockwerke und ein Dachgeschoss.
Die Grundrisse der sich ursprünglich je ohne Zwischenwände über ein gesamtes Stockwerk erstreckenden Fabrikationsräume sind rechteckig, während die Treppenhäuser und Nebenräume in den dreieckigen Seiten des Bauwerks untergebracht wurden. Das Erdgeschoss und das erste Stockwerk nahmen ursprünglich die Appretur-Werkstätten (Textilveredelung) auf.
Im zweiten Obergeschoss befand sich die Weberei, und im dritten Obergeschoss waren die Zwirnerei und Spuhlerei eingerichtet. Die Spinnerei war in einem Gebäude jenseits der Bahn untergebracht.29
Von dort kommend durchliefen die Garne also von oben nach unten jedes Stockwerk des Maillartbaus bis zum fertigen Tuch. Das Kesselhaus mit Hochkamin, das auf der Seeseite an den Maillartbau anschliesst, entstand ebenfalls 1905 und ist vermutlich ebenfalls von Maillart konzipiert. Die Korrespondenz deutet aber darauf hin, dass es nicht von Beginn an geplant war.30
Mit seinen konsequent angewandten Segmentbogenfenstern und dem durchgehenden Satteldach wirkt das Bauwerk feingliedrig und monolithisch zugleich. Wie die Aufrisse zeigen, war das Gebäude ursprünglich auf der Seeseite mit Zwerchgiebeln versehen.31 Diese wurden bereits 1916 im Zusammenhang mit dem vollständigen Ersatz des dritten Stockwerks und des Dachstuhls wieder entfernt. Zeitgleich erhielt das Gebäude seinen charakteristischen gedrungenen Dachreiter mit Walmdach, der die Mechanik eines Warenaufzugs aufnahm.32 In die riesigen Produktionshallen wurden infolge veränderter Nutzungsansprüche Zwischenwände eingezogen. Ausserdem wurde das Dach mit Flachfenstern versehen. Maillarts erstes Fabrikgebäude erscheint für seine Zeit monumental und modern. Als erstes in Eigenregie realisiertes Industriegebäude nimmt die Tuchfabrik Pfenninger eine bedeutende Stellung im Werk Maillarts ein.

Der 1916 verschwundene Mittelgiebel des Pfenninger-Gebäudes, Seitenriss von 1905.

Erdgeschoss-Grundriss des Pfenninger-Gebäudes mit Gebälkstruktur der Decke. Bauplan von 1905.

Aufriss der seither nur geringfügig veränderten Bahnseite des Pfenninger-Gebäudes von 1905.

Bauen für Wädenswiler Obst und Wein

Unmittelbar nach seinem Auftrag durch die Tuchfabrik Pfenninger durfte Maillart einen neuen Auftrag durch die Obst- und Weinbaugenossenschaft entgegennehmen, die auf einem Grundstück unweit vom Giessen ein neues Keller- und Keltereigebäude errichtet haben wollte.33 Die Obst- und Traubenweingenossenschaft war 1895 als Selbsthilfeprojekt regionaler Bauern gegründet worden, um sich unter dem Druck zunehmender Importe neue Absatzmärkte für Obstgetränke und Weine erschliessen zu können. Zur Produktion und Lagerung der Obstsäfte und Weine wurde eine Liegenschaft an der Seestrasse erworben. Im Zuge der Expansion der Geschäftstätigkeit konnte 1906 der Auftrag für ein modernes Kelterei- und Lagergebäude auf besagtem Grundstück an Maillart & Cie. erteilt werden.34
Die Baukosten inklusive maschinelle Einrichtungen lagen bei lediglich 95‘000 Franken.35 Später wurde das Gebäude mehrfach eingreifend umgebaut und erweitert.36 2002 musste die Obst- und Weinbaugenossenschaft den Geschäftsbetrieb aufgeben. Sämtliche Betriebsgebäude fielen im Zuge der Liquidation der OWG37 2007 der Abrissbirne zum Opfer.38
Auch das zweite Projekt Maillarts in Wädenswil bestach durch die Verwendung der modernsten Eisenbeton-Bautechnologie. Das flache Satteldach und die weiss verputzten Fassaden wirkten gegenüber den Backsteinfassaden des Pfenninger-Gebäudes moderner. Obwohl ebenfalls am Seeufer gelegen, hatte das Bauwerk aber eine ungleich geringere Wirkung im Ortsbild.

Maillarts inzwischen abgebrochenes Fabrikationsgebäude für die Obst- und Weinbaugenossenschaft Wädenswil, 1906.

Bauen für Wädenswiler Hüte

Maillarts letztes Werk auf Wädenswiler Boden war die 1910-1911 errichtete Hut- und Mützenfabrik Felber an der Oberdorfstrasse. Maillart entwickelte das Gebäude in Kooperation mit dem Zürcher Architekturbüro Boller und Herter.[xxxix] Karl Felber begründete sein Unternehmen 1883 und betrieb dieses zunächst im Haus zur Gerbe. Der wachsende Erfolg erlaubte ihm zu expandieren und die gewaltige Investition eines eigenen Fabrikationsgebäudes zu tätigen. Das auf Herren-Kopfbedeckungen spezialisierte Industrieunternehmen musste 1954 den Betrieb stilllegen.[xl] Übernommen wurde es durch die Aufzugfabrik Gebauer, die 1955-1979 in dem Gebäude produzierte. Inhaber Alex Gebauer beklagte zwar die für den neuen Nutzungszweck zu kleinen Türen, lobte aber Maillarts präzise Berechnungen und Ausführungen des Betonbaus: «Wir haben bis heute noch nicht den kleinsten Riss festgestellt.»[xli] Ein Umbau passte die Liegenschaft 1985-1986 den im Zuge des ökonomischen Strukturwandels veränderten Bedürfnissen an. Das ausführende Architekturbüro Heinrich Th. Uster AG war um eine Erhaltung der Bausubstanz bemüht, musste aber aufgrund der veränderten Raumbedürfnisse Konzessionen machen.[xlii] Im Gebäude sind seither Handels- und Dienstleistungsbetriebe domiziliert.

Idealisierte Darstellung zu Werbezwecken von Maillarts 1910/11 erbauter Hutfabrik in Wädenswil (im Hintergrund das kurz zuvor in ähnlichen Reformstilformen erbaute Schulhaus Glärnisch).

Der dreigeschossige Fabrikbau aus Stahlbeton macht Anleihen bei der zeitgenössischen Reformarchitektur. Trotz der Monumentalität des Baukörpers und dem wuchtigen Satteldach fügt sich das Bauwerk erstaunlich unauffällig in die traditionelle Architektur des Wädenswiler Dorfkerns ein. Die Fassaden sind verputzt, und die Giebelzone ist mit kleinen Fenstern mit Läden versehen. Wie die Seitenrisse der Baueingabe belegen, waren einzelne Fenster und Türen mit Reformstil-Ornamenten verziert.[xliii] Das offenbar erst später angebrachte Kleeblatt an der Stirnseite ist kein beliebiges Ornament, sondern das Firmenemblem der Hutfabrik Felber, das einst die Buchstaben «Felber Cie. Wädenswil» trug.[xliv]

Die Innenräume waren ursprünglich nur geringfügig unterteilt. Besonders das Erdgeschoss, in dem Fabrikations-, Speditions- und Büroräume untergebracht waren, war stark untergliedert. Im ersten Obergeschoss waren die Mützenfabrik und Lagerräume untergebracht, während das dritte Obergeschoss ein paar Nebenräume und den Hauptlagerraum aufnahm.[xlv]
Infolge des Umbaus von 1986 sind die Räumlichkeiten nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt erfahrbar. Die von aussen her markanteste Veränderung ist die ins Gebäude inkorporierte «Arkade» an der strassenseitigen Fassade, die dem Zugang zu den Geschäften im Erdgeschoss dient. Mit dieser Lösung wollte das Architekturbüro Uster eine noch eingreifendere Veränderung durch Schaufenster mit Vordächern vermeiden.[i] Trotz der Veränderungen ist die Bausubstanz noch weitgehend erhalten, und die zweitältesten an einem Gebäude realisierten Maillart-Pilzdecken sind heute noch an den konisch auslaufenden Säulenschäften erkennbar.

Das Wädenswiler Erbe des verkannten Star-Ingenieurs

In den 1970er-Jahren begann man das Erbe des lange Zeit verkannten Robert Maillart neu zu entdecken. Besonders seine Brückenbauten erfahren heute weitreichende Bewunderung, die allmählich über die Fachwelt hinauszugreifen im Begriff ist. Maillarts Industrie- und Geschäftsbauten haben bislang weniger Aufmerksamkeit erfahren, obschon der Berner Ingenieur auch auf diesem Gebiet Bemerkenswertes geleistet hat. Mit der Hutfabrik Felber verfügt Wädenswil über eines der ersten Gebäude, bei dem die Pilzdecken-Konstruktion – im wahrsten Sinne des Wortes – zum Tragen kam. Seine drei Wädenswiler Projekte haben einiges gemeinsam: Es sind Fabrikations- und Lagerbauten, die sowohl den Ansprüchen auf gute Beleuchtung (sprich: grosser Fenster) und gute Statik (sprich: stabiles Tragewerk) gerecht werden mussten. Die städtebauliche Situation war sehr unterschiedlich, was Maillart offensichtlich bewusst war: Das Fabrikgebäude eines Weberei-Imperiums auf einer peripheren Halbinsel fiel monumental aus, die Kelterei der noch jungen OWG näher beim Ortskern weit zurückhaltender, und die Tuchfabrik im Oberdorf fügt sich fast wie ein etwas überdimensioniertes Landwirtschaftsgebäude in den Ortskern des einstigen Bauerndorfes ein. Das OWG-Gebäude wurde abgerissen, während die Tuchfabrik und die Hutfabrik – abgesehen von den eingreifenden Raumunterteilungen – recht gut erhalten sind. Sie sind ein baukulturelles Erbe, das neben seinem baukünstlerischen Wert auch wirtschafts- und sozialhistorische Zeugenschaft ablegt. Die beiden erhaltenen Wädenswiler Fabrikbauten belegen Maillarts Entwicklung zwischen 1905 und 1911 eindrücklich. Beide Objekte sind mit tragenden Stützen versehen, die sich von Stockwerk zu Stockwerk verjüngen: Im Falle der Tuchfabrik Pfenninger handelt es sich um Pfeiler mit Unterzügen, während bei der Hutfabrik Felber schon das neuartige Pilzdeckensystem realisiert wurde.
Die drei Fabrikbauten Maillarts in Wädenswil bezeugen sein baukünstlerisches Geschick, konstruktive, funktionale und ästhetische Erwägungen zusammenzudenken. Diese Reflektiertheit mag folgendes Zitat bezeugen: «Möge sich also der Ingenieur von den durch die Tradition der älteren Baustoffe gegebenen Formen lösen, um in voller Freiheit und mit dem Blick auf das Ganze, die zweckmässigste Materialausnützung zu erzielen. Vielleicht erreichen wir dann, wie im Flugzeug- und Automobilbau, auch Schönes, einen neuen materialgemässen Stil.»[ii] Man darf wohl sagen: Bereits Maillart hat diesen schönen, materialgemässen Stil gefunden.



Michael D. Schmid


Anmerkungen

DOZ: Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee, Wädenswil
StaZH: Staatsarchiv des Kantons Zürich, Zürich
HA ETHZ: Eidgenössisch-Technische Hochschule Zürich, Bibliothek, Hochschularchiv
 
1 Vgl. das Nachlassverzeichnis des ETH-Hochschularchivs von Clemente Rigassi (1988): doi:10.3929/ethz-a-000482170.
2 Billington, David P. Robert Maillart (1872-1940), in: Fünf Schweizer Brückenbauer (Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik 41), S. 129.
3 Schindler Yui, Verena. Und der Beton revolutionierte den Brückenbau gewaltig, in: Kunst + Architektur in der Schweiz 46, 1995, S. 182.
4 Billington, S. 131–140.
5 Ebd., S. 148.
6 Ebd., S. 130–133.
7 Ebd., S. 138.
8 Ebd., S. 142f.
9 Ebd., S. 132.
10 Ebd., S. 145–148.
11 Ebd., S. 134f. Vgl auch die ausführliche Beschreibung des Ingenieurs selbst: Maillart, Robert: Eine schweizerische Ausführungsform der unterzuglosen Decke, [Zürich 1926].
12 Laermann, Karl-Hans. Pilzdecke, in: VDI-Lexikon Bauingenieurwesen, Düsseldorf 1991, S. 391.
13 HA ETHZ, Hs RM 1085 1909-5, Gedrucktes Blatt «Vorzüge dieser unterzugslosen Decke».
14 Billington, S. 131–140.
15 Rebsamen, Hans-Peter, Stutz, Werner. Altdorf, in: Inventar neuerer Schweizer Architektur (INSA), Band 1, Bern 1984, S. 215.
16 vgl. Dokumente aus dem Nachlass: HA ETHZ, Hs RM 1085 1927/30-1.
17 vgl. Dokumente aus dem Nachlass: HA ETHZ, Hs RM 1085 1929/30-2.
18 vgl. Vertragskopie und weitere Dokumente aus dem Nachlass: HA ETHZ, Hs RM 1085 1911-2.
19 vgl. Dokumente aus dem Nachlass: HA ETHZ, Hs RM 1085 1932-26.
20 Ré, Giancarlo. Ein Werk von Robert Maillart in Chiasso, in: Schweizer Ingenieur und Architekt 20, 1983, S. 567-568.
21 vgl. 200 Jahre Tuwag 1818–2018, S. [Seitenverweis auf Artikel]
22 Hauser, Albert. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Bauerndorfes zur Industriegemeinde. Neuere Wirtschaftsgeschichte der zürcherischen Gemeinde Wädenswil, Wädenswil 1956 (=Neujahrsblatt der Lesegesellschaft Wädenswil 22), S. 152–161.
23 Ziegler, Peter. Aus der Geschichte der Siedlung Giessen in Wädenswil. Separatruck aus dem Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee, 9. Juli 1960, S. 16.
24 Billington, S. 131–140.
25 Fabrik- und Wohnbauten in Wädenswil. Architekten Kölla & Roth, Wädenswil, in: Schweizerische Bauzeitung 20, 1921, S. 238–240.
26 Ziegler, Peter. Pfenninger & Cie. AG, in: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1976, S. 64.
27 Hauser, Albert. Aus der Geschichte der Tuchfabrik Pfenninger in Wädenswil, 2. erweiterte Auflage, Wädenswil 1976, S. 24.
28 Haag, Daniela. Giessen-Halbinsel erwacht vollends aus dem Dornröschenschlaf, in: Zürichsee-Zeitung, 7. Mai 2018.
29 StaZH, O 58 q.22, Nr. 152, Baupläne.
30 StaZH, O 58 q.22, Nr. 152, Brief von Heinrich Pfenninger an die Abteilung Fabrikwesen des Volkswirtschaftsdepartements des Kantons Zürich.
31 StaZH, O 58 q.22, Nr. 152, Aufrisse.
32 StaZH, O 58 q.47, Nr. 418, Baupläne und Schnitte.
33 Ziegler, Peter. Rundgang I durch Wädenswil, Wädenswil 1989, S. 16.
34 Ziegler, Peter. 100 Jahre Obst- und Weinbaugenossenschaft vom Zürichsee, in: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1995, S. 60.
35 50 Jahre Obst- und Weinbau-Genossenschaft vom Zürichsee in Wädenswil 1895-1945, Wädenswil 1945, S. 18.
36 DOZ, ZK 15:2, Dokumente zur OWG.
37 Schadegg, Marc. Der letzte Akt des Trauerspiels, in: Zürichsee-Zeitung linkes Ufer, 14.02.2009, S. 3.
38 Däppeler, Recco. Ein Haus mit Geschichte ist weg, in: Zürichsee-Zeitung rechtes Ufer, 19.02.2007, S. 5.
39 StaZH, O 58 q.35, Nr. 242, Baupläne.
40 Ziegler, Peter. Rundgang I durch Wädenswil, Wädenswil 1989, S. 36.
41 Gebauer, Alex. Das Haus mit dem Kleeblatt, in: Allgemeiner Anzeiger/Grenzpost, 12. Juni 1986.
42 Was die Zukunft verlangt: Bericht des Architekturbüros Uster AG, Zürich, Wädenswil, Egg, in: Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, 12. Juni 1986.
43 StaZH, O 58 q.35, Nr. 242, Aufrisse.
44 Vgl. die Briefköpfe der Firma, abgedruckt z.B. in Was die Zukunft verlangt, a.a.O.
45 StaZH, O 58 q.35, Nr. 242, Baupläne.
46 Was die Zukunft verlangt, a.a.O.
47 Maillart, Robert. Aktuelle Fragen des Eisenbetonbaues, in: Schweizerische Bauzeitung 1, 1938, S. 1.