WÄDENSWILER ORIGINALE I

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1992 von Hans Scheidegger

VERSUCH EINER TYPOLOGIE

Wenn wir den Satz «Er isch halt es Originaal» hören, woran denken wir da zuerst und ohne lange zu überlegen? Vermutlich an einen schrulligen, älteren, manchmal etwas verlausten Menschen; vielleicht auch an einen Trottel oder an einen Spassvogel. Jedenfalls an einen Menschen, der oft merkwürdig reagiert, der deswegen gelegentlich gefoppt wird, und über den viele Leute lachen.
Wenn man sich in den Lexika ein wenig umschaut, bekommt man etwa die folgenden Antworten:
- bemerkenswerte, skurrile Person, (meist witziger) Sonderling
- oder: eigenständiger, durch besondere Eigenart(en) auffallender Mensch
- oder: Mensch mit eigenständigen, sonderlichen Einfällen und Gepflogenheiten
- oder auch einfach: Sonderling.
Gemeinsam sind all diesen Definitionen die Begriffe des Sonderlichen, des Merkwürdigen, des Skurrilen. Diese Menschen sind aber oft auch schwer zu begreifen, sie sind eigenständig und ganz unkonventionell. Daneben haben sie – wie die andern Menschen auch – ganz unterschiedliche Anlagen und Charaktereigenschaften.
Wenn jemand nur genügend eigenwillig, schrullig und unbekümmert ist, kann aus ihm ein Original werden. – Vom Spassmacher, vom Kompaniekalb einmal abgesehen, wollen diese Menschen eigentlich gar keine Originale sein; sie werden von ihrer Umgebung, von der Gesellschaft als Originale empfunden und also dazu gemacht.
Zu einer ganzen Reihe menschlicher Eigenschaften und Charakterzüge lassen sich in Wädenswil Originale finden. Einige davon sollen hier vorgestellt werden. Jeder dieser Menschen verkörpert eine ganz bestimmte Eigenschaft, unter welcher er hier erscheint. Selbstverständlich hat keiner von ihnen nur diese eine Eigentümlichkeit – Originale sind alles andere als eindimensional – aber sie ist vorherrschend, prägend, deutlicher zu sehen als andere, oft gar überdeutlich.
Um den Text nicht übermässig lang werden zu lassen, wird auf die meisten bekannteren Originale verzichtet, ihnen sollen spätere Artikel gewidmet sein.

DIE DORFTROTTEL

Meistens sind diese Menschen schwachbegabt, wie man das früher nannte; in der Schule kamen sie nirgends mit. Man hatte sie deshalb in die Spezialklasse geschickt; einen Beruf konnten sie kaum erlernen. Manche von ihnen brachten sich trotzdem einigermassen durchs Leben. Als Ausläufer, Gelegenheitsarbeiter, Hausierer oder als Dienstboten der untersten Stufe verdienten sie sich, mehr schlecht als recht, ihren Lebensunterhalt. Wer von ihnen aber nicht selber für sich aufkommen konnte, den oder die hat man ins Armenhaus oder später ins Bürgerheim gesteckt, oder man hat sie an einen Bauern verdingt.
 
Casimir Holz
Er war ein kleiner, schmaler, kurzbeiniger Mann mit einem zu grossen Kopf, der beim Gehen ständig leicht wackelte. Alles an ihm war locker; er schlenkerte Arme und Beine, und was er in der Hand trug, schlenkerte mit. Dabei war sein Gang immer forsch und geschäftig.
Ich lernte ihn zu Anfang des Zweiten Weltkrieges kennen. Wo immer er hinkam, erzählte er Ungeheuerliches vom Kriege, so in der Art von «Unglücksfälle und Verbrechen»; Gerüchte bot er herum, Geschichten, die er irgendwo aufgeschnappt und dann auf seine Art zurechtgebogen hatte.
Oft, wenn er durch die Strassen ging, im hohlen Kreuz und mit etwas Rücklage, war sein Mund ganz spitz aus dem rundlichen Gesicht vorgestülpt, und Casimir pfiff laut und mit Inbrunst vor sich hin, wie ein Kind, welches nachts allein durch einen dunklen Wald gehen soll. Immer etwa dieselben Melodien pfiff er, Schlager aus jener Zeit, mit immer denselben Fehlern.
Ältere Knaben und hie und da auch Mädchen foppten ihn mit dem Liedchen «Casimir raucht Capitol, jede Taag drüü Päckli voll». Darauf reagierte er jeweils mit heiligem Ernst und beteuerte: «Ja, tumms Züüg!» Und nach einer kleinen Pause: «Wüssed er de Nöischt scho?» Und dann folgte meist eine seiner «Räubergeschichten».
Während des Krieges war zwar vieles rationiert, Gewürze jedoch nie. Fremdländische waren aber natürlich oft Mangelware. Da erschien zu Anfang des Krieges Casimir Hotz mit einem alten, schäbigen Ledermäppchen in der Hand an den Wohnungstüren und fragte wie ein Verschwörer: «Händ Si na Mutschgetnuss?» – Chunnt me niened mee über. Ali Iifuer isch gspeert. Die Tüütsche bruuched ales sälber. Händ Si na?» Und nach kurzem Abwarten: «Ich ha na. Nu na wenig. Wänd Si?» So pries er im halben Dorf herum seine Muskatnüsse an und verkaufte sie offenbar gut. Die Frauen werden ihm wohl eher aus Erbarmen, denn aus Sorge um die Ernährung ihrer Familien seine Ware abgekauft haben. Immerhin: die Qualität seiner Nüsse war gut. – Monatelang sah man Casimir mit seinem Mäppchen von Haus zu Haus ziehen. «Ich ha nu na wenig». – Weiss Gott, woher er seine Muskatnüsse hatte!

DIE REIZBAREN

Irgend etwas im Tun oder Benehmen der andern macht sie wütend. Weil sie dann ihre Wut jedesmal auf dieselbe Art zeigen, oft ganz unangepasst stark, werden sie auch immer wieder mit demselben Tun gefoppt. Daraus entsteht mit der Zeit ein Mechanismus: sein Ablauf wird zwingend, unabdingbar.
 
Pfiiffeli-Hofme
Er war ein kleiner, etwas beschränkter, aber völlig harmloser Mann. Aber eben: wenn irgend jemand laut pfiff, wurde er fuchsteufelswild, schimpfte mit seinem wackelnden Kopf und seinen schlenkernden Armen drauflos, und wenn die Pfeiferei nicht aufhörte, rannte er dem Verursacher mit grossen Schritten nach. – Kinder und vor allem Jugendliche ärgerten ihn manchmal bis aufs Blut. Wenn drei, vier Junge sich verabredet hatten, ihn zu ärgern, wenn es dann jeden Augenblick hinter einer anderen Hausecke hervor gellend pfiff, da konnte er weiss werden vor Wut und wusste nicht mehr, wo er wehren sollte. – Gelegentlich kamen Reklamationen in die Schule; die Lehrer ermahnten die Kinder, genützt hat es wenig bis nichts. Ein einziges Mal habe ich auch gepfiffen. Ich mochte damals ein Drittklässler gewesen sein. Pfiiffeli-Hofme schaute mich über die Zugerstrasse hin mit grossen Augen an: wütend und noch mehr enttäuscht. Schon auf dem Heimweg plagte mich das schlechte Gewissen, und am Abend beichtete ich die Geschichte meiner Mutter. Sie meinte nur: «Gscheet der ganz rächt, wänn d jetzt e schlächts Gwüsse häsch ! Schäm di nu, du Söibueb!»

Frau Buchter
Sie wohnte im Meierhof, war schon seit langem Witwe und lebte, zurückge­zogen und wortkarg, mit ihrer etwas schmächtigen, nicht mehr ganz jungen Tochter zusammen. Sie war von kleiner Statur und recht verschrumpelt.
Sie war Brunnenmeisterin des Meierhofbrunnens, der etwa 50 Meter von ihrer Wohnung entfernt stand, und zwar so, dass sie ihn aus dem Fenster gut überwachen konnte. Als Brunnenmeisterin hatte sie den Brunnen, der damals auch noch zum Tränken des Viehs gebraucht wurde, in guter Ordnung und sauber zu halten. Das tat sie denn auch mit grossem Einsatz.
Wenn wir auf dem Heimweg von der Schule Wasser trinken wollten, war das manchmal schon zuviel; wenn aber jemand Steinchen in den Trog warf oder mit dem Strahl aus der Röhre Feuerwehr spielte, wurde sie wütend und rannte den Kindern nach, oft gar mit einem derben Stecken bewaffnet. Wer sie zuerst kommen sah, rief: «d Buchteri chunnt!», und alle stoben davon.
Wer immer sie ärgern wollte, hatte leichtes Spiel. Er brauchte nur am Brunnen zu spritzen und sich notfalls bemerkbar zu machen, und schon «funktionierte» Frau Buchter wie gewünscht.
Der von der Brunnenmeisterin Frau Buchter betreute Meierhofbrunnen.

DIE ARMEN TEUFEL

Aus irgendeinem Grunde standen sie auf der Schattenseite des Lebens, und solchen Schatten gab es früher mehr als genug. Sie waren vielleicht Kinder armer Leute, das vierzehnte in der Familie, oder sie waren ausserehelich zur Welt gekommen, oder sie waren, manchmal schon in früher Jugend, zu Waisen geworden, oder sie waren als Kinder armer Leute invalid geboren oder durch einen Unglücksfall oder eine Krankheit invalid geworden usw.
Man versuchte zwar, diesen Menschen zu helfen, so gut man es mit den eigenen bescheidenen Mitteln vermochte; verhungert ist keine und keiner, aber für ihre geistige und seelische Entwicklung wusste man nicht viel zu tun.
Diese Menschen landeten häufig im Armenhaus, besonders wenn sie alt geworden waren und zu keiner strengeren Arbeit mehr gebraucht werden konnten. Dort blieb ihnen fast nur die Wahl, entweder seelisch ganz abzustumpfen und trübsinnig auf den Tod zu warten oder eben ein Original zu werden.
 
 
Der Sandmann
Die paar Angaben zu diesem und auch zum folgenden Original verdanken wir einem Vortrag eines weiteren Wädenswiler Originals, Hermann Gattiker, genannt «Schiffli-Gattiker», den er im Dezember 1957 gehalten und von welchem Peter Ziegler Notizen gemacht hat.
Der Sandmann lebte im Armenhaus in Wollerau. Er war taubstumm. Während der Woche mahlte er in einer Handmühle ganz feinen Sand. Jeweils am Samstag lud er wenigstens 40 bis 50 Säcklein Sand auf einen Handwagen und kam damit nach Wädenswil. Dort zog er in den Strassen herum und bot allen Leuten seinen Sand an. Pro Sack verlangte er 25 Rappen. (Den Sand brauchte man zu jener Zeit, um damit die Steinböden zu fegen, man nannte ihn deshalb auch Fegsand.)
Vorab aus Erbarmen mit dem armen Kerl, kaufte man ihm seinen Sand ab. Von verschiedenen Wädenswilerinnen erhielt er auch immer wieder getragene, aber gut erhaltene Kleider oder Schuhe. Ums Jahr 1929 kam er zum letztenmal nach Wädenswil; wahrscheinlich ist er um jene Zeit gestorben.
Hermann Gattiker, Wirt zum Schiffli, als Chronist am Wädenswiler Mai-Festspiel von 1923.

DIE VERKOMMENEN

Von der Gesellschaft aus gesehen sind das jene Menschen, welche jeden Halt verloren haben, sie sind ganz tief gesunken, oder in der Sprache der Kirche gesagt: sie haben sich versündigt. Der aufmerksame Beobachter, wahrscheinlich aber auch die Betroffenen selber sehen das allerdings etwas anders. Die Gesellschaft, also die Nachbarn, die Gemeinde, die Kirche haben ihnen keinen Halt mehr zu geben vermocht. Vielleicht haben sie diesen Menschen die Hilfe, die Vergebung vergesagt, weil sie immer wieder rückfällig geworden sind. Man hat sie fallen, man hat sie hocken lassen.
 
Die Eierfrau
Auch sie war in der Gegend von Wollerau zu Hause. Um die Jahrhundertwende kam sie jeweils nach Wädenswil, trug an jedem Arm einen schweren, mit Eiern vollgepackten Bogenkorb und behauptete, sie habe die besten und frischesten Landeier.
Mit ihren Körben zog sie von Haus zu Haus; aber besonders gerne ging sie den Wirtschaften nach, weil sie dort ihre Ware am schnellsten los wurde. Dort trank sie dann oft und gerne Bier oder Wein, manchmal deutlich über den Durst hinaus. Spät abends zog sie wieder heimwärts, und mehr als einmal fand man sie nachts oder am anderen Morgen im Strassengraben liegend.
Zweifellos hat sie die vielen Getränke nur zum kleinen Teil selber bezahlt. Man kannte zwar die Geschichten vom Strassengraben, man wusste also genau, dass sie gerne zuviel trank; und dennoch hat man ihr offenbar immer wieder Wein, Bier oder auch Schnaps bezahlt. – Weshalb eigentlich? Was hat sie wohl geschwatzt oder getan, wenn sie betrunken war? Wahrscheinlich Dinge, welche die andern Gäste freuten und zum Lachen brachten. – Wer hat da versagt?

DIE SCHLAUMEIER

Das ist eine ganz besondere Art Originale. Sie nützen ihre Lage, ihre Benachteiligung – manche von ihnen sind arm, haben eine schlechte Schulbildung, sind verwachsen, invalid usw. – zu ihren Gunsten aus. Die einen verschaffen sich Vorteile auf harmlose, naive, entwaffnende Art, andere wiederum führen ihre Umgebung schamlos an der Nase herum. Jede Art soll an einem Beispiel dargestellt werden.
 
Der harmlose Schlaumeier
Mit einem armen Kerl machte man immer wieder folgenden Spass. Man zeigte ihm einen Fünfziger und einen Zehner und forderte ihn auf, eines der beiden Geldstücke zu nehmen, er dürfe es behalten. Er schaute die beiden Münzen aufmerksam an und nahm dann stets die grössere, den, Zehner, sehr zur Freude des Publikums. – Da fragte ihn einmal einer seiner Kameraden, ob er denn wirklich nicht wisse, dass der kleinere Fünfziger mehr Wert habe als der grössere Zehner. Dem gab er zur Antwort: «Meinsch eigetli, ich sei blööd, natüürli weis i daas au. Aber chasch guet sicher sii, wänn i nu es einzigs Maal de Füfzger neem, miechet die Lüüt das Spiili nie mee. So chumi doch allpott zum ene Zääner.»
 
Der schamlose Schlaumeier, der Erzbetrüger: Baschli Eimer
Er lebte im 17. Jahrhundert, stammte aus Betschwanden im Glarnerland und gab als seinen Beruf Schatzgräber an. Zu jener Zeit war die Schatzgräberei besonders auf dem Lande weit verbreitet, übrigens bis ins letzte Jahrhundert hinein. Eine ihrer Ursachen war die unglaubliche Armut der damaligen Landbevölkerung.
Baschli Eimer trieb sein Unwesen unter anderem auch in Richterswil und in Wädenswil. Über seine Taten und Untaten in unserer Gegend ist man recht gut informiert durch das protokollierte Verhör des Landvogts auf dem Schloss und durch den Beschluss des Rates der Stadt Zürich vom 22.März 1679. Beide Dokumente sind erhalten geblieben. (Quelle: Emil Hiestand; Sagen, Erzählungen, Sitten und Bräuche aus der Gegend von Richterswil; 1959, 1976).
Eines kalten Winterabends kam Baschli Eimer ins Haus des Schneidermeisters Hiestand in Richterswil. Er setzte sich in der Stube auf die Bank, schaute den Leuten beim Spinnen zu und sagte dann: «Ihr guete Lüth, wie habet ihr so eine schwere Arbeit; ihr habet underem Hus ein Schatz; da liegt im Boden viel Silber und Gold, wolte ine könen fürhin thun, er lige nit tieff im Boden, sy könnend ime hälffen graben. Er syge vor etwas Jahren allhier gsyn und gesehen under ihr Husthür eine wysse Frauw sitzen, mit zwei silbernen Schlüsslen, reise nachtszyth von ihrem Hus zu ihrer Scheur, sy befinde sich aber mehr by dem Hus dan by der Scheur, willen der Schatz underem Hus lige.» Weiter erzählte er, er habe auch auf dem Albis einen Schatz gegraben, den schon viele Leute vor ihm gesucht hätten, nur leider alle am falschen Ort. Weiter «habe er dem Heinrich Schnyder in Gewad zu Wädenschwyl, auch dem Meister Heinrich Wymann, Färber von Richterschwyl, zwei Schätze graben, darum könnten die beiden also vile Güter kauffen und usszahlen». Dann rühmte er sich, «er mangle des Gelts nützit, habe guth, sovil er wölle und daheim ein richer Vatter, er und die Synigen habendt 50 Kühe, 60 Schaf, 90 Geissen». Als man ihn fragte, weshalb er denn so schlechte Kleider trage, antwortete er, er «müesse deemüetig kleidt kommen, sonsten litte es der Geist nit». Weiter behauptete er, er beherrsche sieben Sprachen, «seyge in hohen Schulen gesyn, habe zu Meylandt noch einen Bruder, der seyge ein Apenteger (Apotheker), by demselbigen habe er studiert ... usw. und etwas später, er könne sich auch gefroren machen».
Und das alles und noch viel mehr hat man ihm geglaubt. So gross war der Wunsch, die Gier auch, einen Schatz zu heben und damit aller Sorgen enthoben zu sein.
Als er nach Tagen endlich mit Graben anfangen wollte, verlangte er Geld. Hiestand gab ihm fünfeinhalb Taler, für die damalige Zeit ein schönes Stück Geld. Sechs Tage hielt sich Baschli bei Hiestand auf; bei jedem Essen musste der Tisch mit einem Tuch gedeckt sein. Daneben forderte er gutes Essen und Wein, sonst «lasse ime der Geist keine Ruhe, er könne nit gemein leben, sy müessendt im Fleisch, Fisch, Tuben und Schnäggen zuhen thun».
Eines schönen Morgens war Baschli fort. Hiestand verklagte ihn beim Landvogt auf dem Schloss in Wädenswil. Dieser verhörte Hiestand und meldete die ganze Geschichte in die Hauptstadt, sodass sich der Zürcher Rat auch noch damit herumschlagen musste. Er kam zum Schluss, Baschli Eimer werde mit einem «Urphed aus meiner Gerichten und Gebieth verwiesen; das hin der im gefundene Geld und andere Sachen sollen bei ober keitlichen Handen behalten werden». (Urfehde ist ein eidlicher Verzicht auf Fehde, hier also auf Rache.) Weit weniger gnädig verfuhr der Rat mit jenen, welche Baschli Eimer Unterschlupf gewährt hatten, also auch mit Hiestand. Sie mussten «von den Herren Obervögten ... gebührend abgebüsst werden». So hatten die armen Kerle den doppelten Schaden, und für Gespött hatten sie wohl auch nicht zu sorgen.

Der Schatz auf Alt-Wädenswil. Zeichnung von Martin Usteri, 1821.

DIE SCHRULLIGEN

Irgend etwas an ihrem Benehmen, an ihrem Äusseren, ihrer Art ist merkwürdig, ungewöhnlich. Ihre Gedankengänge führen für den Aussenstehenden oft um alle Ecken herum, sie stehen neben der bürgerlichen Logik und erzeugen dann Erstaunen, Kopfschütteln, Gelächter. – Immer wieder sind die Schrulligen die Zielscheibe jugendlichen Spotts, man spielt ihnen Streiche.
 
Die Geschwister Bindschedler
Von ihrem Vater, Paul Bindschedler, hatten die beiden Schwestern an der Gerbestrasse 8 die «Eisenhalle» übernommen. Das war ein Laden mit ähnlichem Sortiment, wie es heute die Firma Schumacher anbietet. Einige Jahrzehnte lang haben die beiden das Geschäft weitergeführt.
Haus «Eisenhalle» mit Eisenwarenhandlung von Paul Bindschedler, Ansicht von der Zugerstrasse her. Aufnahme um 1920.
 
Laden und Lager belegten das gesamte Erdgeschoss. Von der Gerbe- und der Zugerstrasse führte je eine Eingangstüre ins Geschäft. – Wo immer drinnen noch ein Plätzchen frei war, und sei es auch kaum 20 Zentimeter breit, stand ein Regal, gefüllt mit Eisenwaren oder Haushaltartikeln. In die Deckenbalken waren unzählige Nägel und Hakenschrauben eingeschlagen und eingedreht worden, an denen auf einer Schnur aufgezogen weitere Artikel baumelten, manche so tief hinunter, dass grösser gewachsene Kunden ständig Gefahr liefen, ihren Kopf anzuschlagen. Um die Waren herunterzuholen, benützten die Schwestern einen hakenbewehrten Stecken. Da aus Sparsamkeit kaum je Licht im Laden brannte, die beiden aber nicht mehr so gut sahen, gelang es ihnen nicht immer, das Gewünschte zu erreichen. Da baten sie dann einfach den Kunden, er möge doch so gut sein und es gleich selber herunterholen.
Wer immer kaum je oder kaum mehr verwendete Eisen- oder Haushaltartikel benötigte, Bindschedlers hatten sie ziemlich sicher im Laden oder doch im Lager. Nach welchem System Laden und Lager organisiert waren, hat vermutlich nie jemand herausgefunden. Schrauben und Schräubchen, Nägel und Nägelchen aller nur denkbaren Arten und Grössen waren an den verschiedensten Orten versorgt. Auf den Kunden wirkten das Geschäft und die Schaufenster immer wie eine Brockenstube; aber die Schwestern Bindschedler haben alles in kürzester Zeit gefunden.
In den frühen sechziger Jahren bemalte eine Lehrerin mit ihren Unterstufenkindern Holzschachteln, wobei zwei Schachteln verdorben worden waren. Sie ging zu «Schätzi» Bindschedler, um Ersatz zu kaufen. Julie besass gerade noch zwei solcher Schachteln, nur war sie nicht zu bewegen, beide zu verkaufen. Sie könne ihr nur eine geben, sonst habe sie ja keine mehr im Laden. Es könnte doch jemand kommen, der auch so eine Schachtel benötige, und diese Kundin könnte sie ja dann nicht mehr bedienen; nein, sie könne ihr wirklich nur eine mitgeben. In etwa zwei drei Tagen komme Nachschub, davon könne sie dann haben, soviel sie wolle. – Und dabei blieb es.
Im Laden der Schwestern Julie und Elise Bindschedler.

Auch ein neuer Kunde merkte bald, dass Julie (1891–1973) ihre jüngere Schwester Elise (1895–1962) völlig dominierte. Wenn Elise einen Kunden bedient hatte und die Preise auf einem winzigen Zettelchen zusammengezählt waren, trat sie regelmässig vor Julie hin und reichte ihr das Blättchen. Julie liess ihren Kunden stehen, rückte den Zwicker zurecht, kontrollierte Preise und Addition, und erst jetzt durfte Elise die Kasse bedienen, ein Vorgang, den Julies Augen über den Rand des Zwickers hinweg scharf beobachteten. – Hie und da erdreistete sich Elise, ihrer Schwester einen Rat zu geben, kam damit aber in der Regel schlecht an. «Schwig du jetzt!» wurde sie angefahren, und Elise schwieg.
Wir Kinder aus den Aussenquartieren fürchteten uns ein wenig vor den beiden Schwestern, zumal sie einen grundlos anfauchen konnten, wenn man nur in eines der beiden mit Waren vollgestopften Schaufenster guckte. Dass die beiden Grund hatten, misstrauisch zu sein, erfuhr ich erst später. – Kinder, die im Dorfzentrum aufwuchsen, führten in der «Eisenhalle» hie und da eine Art Mutprobe durch. Der Mutige brauchte dazu wenigstens zwei Sekundanten; meist waren aber noch weitere Kinder in der Nähe, welche zuschauen wollten. Einer der Helfer blickte ins Schaufenster, und sobald die Schwestern im Lager verschwunden waren, öffnete er leise die vordere Ladentüre. Der Mutige fuhr mit seinem Trottinett rasch durch den ganzen Laden, so dass die mit dünnem Vollgummi bereiften Holzräder laut über den durchgelaufenen Bretterboden rumpelten und klapperten. Inzwischen hatte der zweite Helfer die hintere Türe aufgerissen, und der Fahrer konnte auf die Zugerstrasse entwischen. Alle rannten weg und schauten von weitem zu, wie die beiden Schwestern wütend herumschimpften und drohten. Später habe dann Julie die hintere Türe manchmal verschlossen gehalten, dann sei die ganze Sache weniger gut abgelaufen.
Eines Tages musste Julie zum Arzt gehen. Da sie keine Krankenversicherung abgeschlossen hatte, sagte sie zum Arzt, kaum dass er mit der Untersuchung angefangen hatte: «Das wird allwääg vill choschte bi Ine!» Der schaute sie an und meinte: «Nein, Fräulein Bindschedler, für Sie ist diese Behandlung kostenlos. Ich bin nämlich als Bub auch einmal mit dem Trottinett durch ihren Laden gefahren.»
 

DIE SPASSMACHER

Sie am ehesten wollen ein Original sein, sie machen ihre Spässe ganz bewusst und legen es darauf an, vernommen zu werden. Sie spassen vor Publikum, schätzen seine Reaktion und sind ein wenig auf sie angewiesen. Deswegen spielen sie Einflussreichen, Angesehenen oder der Obrigkeit gerne Streiche, denn dabei ist ihnen ein zustimmendes Publikum sicher.
 
Baneeter-Buume
Wer Genaueres über ihn erfahren will, sei verwiesen auf: Peter Ziegler, Baneeter-Buume, 1987, Stutz & Co. AG. Dort sind auch jene Anekdoten greifbar, welche man sich heute noch erzählt.
Hans Heinrich Baumann, genannt Baneeter-Buume, lebte von 1785 bis 1871. Er war Schiffmann und flickte und baute in der verkehrsarmen Zeit, also im Winter, Barometer. Im alten Zürichdeutschen hiessen sie Baneeter; daher rührt auch sein Übername.
Er war von kleiner, gedrungener Statur, was für etliche Anlass war, ihn deswegen hie und da zu verspotten. Sein ganzes Leben durch war er ein armer Schlucker. Wenigstens eine Anekdote soll aber hier doch folgen:
 
«De Buume hät e schweeri Ladig uf Meile übere praacht und deet uusglade. Vo deren Arbet hät er eeländ Hunger überchoo. Er gaat in Löie und pstellt deet e Suppen und es Schöppli. Für Fleisch und Gmües hät sis Gäld nüd glanget. Nach eme Wiili hät em d Serviertochter e Schüssle Suppe, en Täller und en Löffel praacht. Er hät usegschöpft und mit Heisshunger wele aafangen ässe. Aber öppis hät em nüd passt. Da staat er uuf, nimmt e Schnuer zum Hosesack uus und bindt si ad Schüssle ane. Dänn stellt er si bi der Tüür an Bode und ziet si i der ganze Wirtsstuben ume? E paar vo den andere Gescht händ de Buume kännt und denand verschmitzt aaglueget. Do frööget de Wiirt: 'See, Buume, was mached er ä Cheibs?' Dee bliibt staa, richtet si uuf und seit: 'Weisch, die Suppe gset nüüt, si hät kei Auge (keine Fettaugen), drum mues i si ebe füere.' »
Im oben erwähnten Büchlein von Peter Ziegler steht diese Anekdote nicht, ganz einfach darum, weil sie nicht von Baneeter-Buume stammt. Sie steht in einem kleinen Bändchen, welches in der Bibliothek des Schweizerischen Idiotikons liegt und den Titel trägt: «Schimpf- und Glimpfreden, zuesamen geschriben Anno 1651». In jener ganz kurzen Geschichte geht es um einen Kostgänger, welcher die Hausfrau auf diese Art auf ihre zu dünne Suppe aufmerksam macht. Ich habe die Geschichte einfach umgeschrieben, und eigentlich scheint sie mir gut auf Baneeter-Buume zu passen.
Hans Heinrich Baumann (1785–1871), genannt Baneeter-Buume.
 
Dazu noch eine Bemerkung: Im Nachruf auf H.H. Baumann in der «NZZ» vom 19. Februar 1871 steht: « ... so dass bei hunderten, freilich oft derben Schlagwörtern und Anekdoten von ihm kursieren ... » Von diesen vielen Stücken sind in der Zwischenzeit gewiss etliche verloren gegangen. (Um die allerderbsten, oft obszönen ist es auch nicht schade.) Aber gleich so viele verlorene – Peter Ziegler bringt etwa zwei Dutzend das ist kaum zu glauben. Vermutlich ist eben etwas ganz anderes geschehen: Viele Witze und Anekdoten, die damals erzählt wurden, waren gar nicht von ihm; man hat sie ihm angedichtet, und auch eine weniger gute konnte auf Zustimmung hoffen, wenn man sie Baneeter-Buume in den Mund legte. Diese Geschichtlein sind zum Teil sicher auch heute noch im Umlauf, aber sie werden als Wandergeschichten und Wanderwitze in jeder Gegend einfach einem heute dort bekannteren Original zugeschrieben. Auch da gilt eben: Wer da hat, dem wird gegeben. Das ist natürlich nicht neu und ist keine Erfindung unseres Jahrhunderts, das geht schon so, seit man sich Anekdoten erzählt.
 

ZUSAMMENFASSUNG

Jedes der hier vorgestellten Originale verkörpert eine ganz besondere Eigenschaft: Pfiiffeli-Hofme jene des Reizbaren, Baschli Eimer die des Schlaumeiers, Baneeter-Buume die des Spassvogels. Sie stellen aber nur eine kleine Auswahl aus der Fülle der Wädenswiler Originale dar, von denen einige wenige noch erwähnt sein sollen: der Schriftsteller Paul Felix als schöpferisches Original; Frau Dr. Gisella Lucci-Purtscher, Leiterin des «Frauenkurbades auf dem Wädenswiler Berg», die Fremde; Paul Blattmann sen., «Blääch­Pauli», der Erfolgreiche; Fräulein Dr. Helene Wyssling, erste Ärztin Wädenswils, als Emanzipierte usw. Schon unsere kleine Auswahl zeigt deutlich, dass der Begriff des Originals Menschen mit ganz verschiedenen Eigenschaften umfasst; eben nicht nur den etwas beschränkten Dorftrottel und den Spassmacher; er reicht vom hochbegabten Schöpferischen bis hin zum Verkommenen.
Was macht denn aber eigentlich das Original aus? Zunächst ist es die Abweichung von der Norm, von dem also, was man landläufig als normal bezeichnet. Diese Abweichung kann (muss aber nicht) aus einem Menschen ein Original machen. Dass aus ihm dann auch wirklich eines wird, ist die Folge seiner Eigenständigkeit, seiner Eigenwilligkeit und Unbekümmertheit. – Diese Charakterzüge sind auch die Ursache, dass das Zusammenleben mit etlichen unserer Originale wohl alles andere als einfach war, und es ist bezeichnend, dass auffallend viele von ihnen keinen Lebenspartner hatten.
In diesem Zusammenhang erstaunt es nicht, dass Originale oft körperlich kleine Menschen waren; in unserer Auswahl sind das: Casimir Hotz, Pfiiffeli-Hofme, Frau Buchter, Baneeter-Buume. Die Eierfrau, den Sandmann und Baschli Eimer, von denen wir es nicht wissen, können wir uns als stattliche Personen kaum vorstellen. Immerhin: so klein wie Gottfried Keller, eines der grössten Originale, das je gelebt hat, war keines; aber es war auch keines auch nur annähernd so gross wie er.
Wie steht es eigentlich mit dem Lebensgefühl unserer Originale, wie haben sie ihr Original-sein erlebt? Eine umfassende Antwort auf diese Frage dürfte nicht leicht zu finden sein. Es fällt aber auf, wieviele an ihrer Rolle offensichtlich gelitten haben, etwa Pfiiffeli-Hofme oder die Schwestern Bindschedler. Sie wollten ja auch gar kein Original sein, sie wurden von ihren Mitmenschen zu einem gemacht. Aber sogar der Spassmacher Baneeter-Buume lebte im Alter zurückgezogen, fühlte sich oft unverstanden und war verhärmt. Wie weit waren seine Spässe einfach das Ventil des kleinen, armen, «verschupften» belächelten Mannes?
Alle hier vorgestellten Originale sind längst verstorben. Da stellt sich die Frage, ob es denn heute gar keine mehr gebe. Zum guten Glück nein; es gibt sie noch immer. Einige Kategorien sind zwar entweder ausgestorben oder in der Öffentlichkeit nicht mehr zu sehen: wir haben keine Armenhäuser mehr, und Menschen vom Typ eines Pfiiffeli-Hofme werden heute in Heimen oder geschützten Werkstätten betreut. Die heutigen Originale sind kaum mehr so stadtbekannt wie Baneeter-Buume, aber was besagt das schon! Entdecken wir sie! In unserem Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz, im Feierabend, und: freuen wir uns an ihnen!




Hans Scheidegger