35 Jahre Chordirigent in Wädenswil

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2013 von Felix Schudel

EINE PERSÖNLICHE STANDORTBESTIMMUNG

Dass ich als «Prophet im eigenen Land» seit 1978 in ununterbrochener Folge grosse Werke der Chorliteratur aufführen kann, erfüllt mich mit Freude und grossem Dank an Chor, Publikum und Geldgeber, öffentliche wie private, denn ohne dieses Zusammenwirken wäre es nicht möglich, Wädenswils grosse klassische Chorkonzerttradition am Leben zu erhalten!
Was hält einen vielseitig tätigen Musiker so lang am Wädenswiler Dirigierpult? Waren doch rund 4000 Probestunden, 18 arbeitsreiche Musikwochen in Gwatt am Thunersee, unzählige Auftritte an Konzerten und bei Kirchendiensten zu bewältigen, ganz abgesehen von zeitintensiver Vorbereitung beim Organisieren, Partiturlesen und Einrichten von Orchesternoten, geschweige denn Schularbeit und weitere Chöre / Orchester. Dieser Bericht gibt vielleicht Antworten.

Felix Schudel, 2010.

Chorprobe.

NACHHALTIGE VERÄNDERUNGEN

Eine riesige Herausforderung erwartete mich ab 1978. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Verhältnisse grundlegend geändert. Wädenswil ist verkehrstechnisch viel näher an die Stadt Zürich gerückt, was den Zugang zum fast unermesslichen Kulturangebot mit Konzerten auf oft sehr hohem, mitunter sogar Weltklasse-Niveau drastisch erleichtert. Medien und Internet-Entwicklung haben zusätzlich Hör-Standards geschaffen, die für Amateur-Ensembles als unerreichbar erscheinen. Und in allen Seegemeinden werden heute grössere Chorkonzerte veranstaltet. Wädenswils Pionierrolle ist definitiv Geschichte. Die Industrie betrachtet in solchen Situationen ihr Produkt genauer. Kann es so bestehen?

VORGABEN

In allen Lebens- und Berufsbereichen sind die Bedingungen anspruchsvoller geworden. Diesem Trend kann sich auch das Laien-Konzertieren nicht entziehen. Es ist darum Qualitätsarbeit gefragt, was in unserem Fall bedeutet: Geduldige, akribische und stets aufs neue einzufordernde konzentrierte Auseinandersetzung mit dem zu erarbeitenden Notentext, Sorgfalt in kleinen Schritten; Übernahme von Verantwortung im Chor, indem wie in Orchestern üblich vieles in die persönlichen Noten eingetragen wird. Ich erwarte auch, dass zuhause geübt wird, damit man sich an den Proben nicht dauernd «im Kreise dreht». Im Gegenzug dürfen die Chormitglieder mit einer interessanten Erarbeitungsphase rechnen, erfahren sie doch professionell vermittelte Chortechnik wie Stimmbildung, Gehör-, Sprach- und Rhythmusschulung, alles im Hinblick auf optimale Zusammenarbeit mit Berufssängern und Orchestermusikern an den Konzertproben und Aufführungen. Zudem erhalten die Choristinnen / Choristen Einblick in die Struktur der Werke, sie erleben die «Handschrift» von Komponisten und erfahren musikgeschichtliche Zusammenhänge. Wer je grosse Musik so erarbeitet hat, «besitzt» diese Werke und wird sie bei Wiederbegegnungen differenzierter hören, oft auch kritischer, was die Wiedergabe anbelangt.
 

LATENTE PROBLEME

Dauerbrenner im Chorbetrieb sind Besetzungsmangel in den Männerstimmen sowie Nachwuchsfragen. Nicht dass Junge nicht singen wollen, meine Erfahrungen als Kantonsschul-Musiklehrer waren wunderbar! Aber es ist ein gesellschaftliches Phänomen: Man will sich nicht mehr binden und über längere Zeit einen Wochenabend regelmässig für das Proben reservieren. Schwierig ist auch die Kirchenmusik geworden, denn die zurückgefahrene finanzielle Unterstützung erschwert attraktive musikalische Gottesdienstbeiträge mit Orchester und evtl. Solisten beträchtlich.

ARBEIT AM KLANG

Trotz bestehender Probleme, die mittelfristig einer Lösung harren, ist die Chorarbeit in Wädenswil auch nach 35 Jahren spannend geblieben: Was für ein Weg konnte seit meinem ersten Konzert mit Händels «Messias» zurückgelegt werden, als die berüchtigte a-cappella-Stelle «Wie durch Einen der Tod» harmonisch vollständig verunglückte, bis zum zweichörigen riesigen «Israel in Egypt» 2012, wo der Chor durch den Berichterstatter als Star des Abends gefeiert wurde! Die Wege zur Umsetzung der musikalisch / technischen Anforderungen in der Erarbeitungsphase interessieren mich nach wie vor, und ich bin stets neugierig auf den Effekt der Massnahmen. Die Arbeit am Klang ist immer wieder faszinierend! Sie lohnt sich im Hinblick auf den fantastischen Konzertraum: Grubenmanns Kirche von 1767. Eine grosse Zahl der aufgeführten Oratorien sind absolute Meisterwerke der Literatur. Diese, aber auch die weniger bekannten bedeuten mir Nahrung für Kopf und Herz. Befragt nach meinem Lieblingswerk, antworte ich: «Immer jenes, das gerade in Erarbeitung steht.» Vielleicht gehört Dvoráks Stabat Mater zu den Top-Favoriten, ich habe es insgesamt neun Mal entweder gesungen, gespielt oder dirigiert, zwei Mal in Wädenswil.
 

HÖHEPUNKTE

Zu den zum Glück wenigen Konzert-Aufregungen gehört das Malheur mit der im Stau steckengebliebenen Oboistin, die schon in den ersten Takten gebraucht worden wäre. Aus diesem Grund verzögerte sich der Konzertbeginn massiv. Ein anderes Mal gab es kurz vor Beginn eine Panne bei der Stromzufuhr der kleinen Orgel. Ein Bassist mit Fachkenntnis konnte den Schaden in letzter Minute beheben. Ebenso im Gedächtnis bleiben aber positive Besonderheiten, etwa der grandiose Szenenapplaus nach dem «Weinchor» in Haydns Jahreszeiten, oder der «Dies irae»-Sprechchor im Requiem von Frank Martin. Unzählige Momente glückhaften «Sich-Ereignens» mit Chor, Orchester und vielen wunderbaren, oft jungen Solistinnen und Solisten waren an den Konzerten zu erleben.

Crinou Schudel wirkt im Hintergrund und sorgt insbesondere dafür, dass alle Orchesternoten richtig bezeichnet sind. Hier wird sie für ihre 35 Jahre Aktivmitgliedschaft geehrt. 

CHANCE UND ZIEL

Dem hohlen Klamauk entgegenwirken, dies ist eine weiterhin und vielleicht zunehmend wichtige Aufgabe. Hier liegt die Chance, die es zu packen gilt: Im Live-Konzert schaffen wir Atmosphäre! Wir leben die Hingabe an unsere Kunst, und das Publikum soll das miterleben. Keiner aufführungs-technisch noch so perfekten Konserve gelingt solches, weil die beteiligten Menschen und ihr live wahrnehmbares Engagement fehlen. Wie manche kleine Unebenheit verliert dadurch an Bedeutung! Sogar den routiniert auftretenden Berufs-Chören fehlt manchmal das Besondere, das eine begeisterungsfähige Laientruppe auszeichnet. Dieser hoffnungsvolle Ausblick legitimiert meines Erachtens weiterhin die Konzerttätigkeit unseres Chores. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Jubiläumsprogramm mit Beethovens C-Dur-Messe und Chorfantasie zusammen mit der Auftragskomposition von Martin Wettstein (Küsnacht), «missa empathica», zu verstehen: Ein Aufruf zu Toleranz und zu konstruktivem Miteinander im Geist eines gemeinsamen Zieles.




Felix Schudel