Wädenswil – bewahrte Eigenständigkeit

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1983 von Silvie Hinterberger
 
Obwohl Wädenswil eine bevorzugte Lage am See, historische Häusergruppen, imposante Riegelbauten, malerische Gassen und verträumte Winkel, gepflegte Seeuferanlagen, moderne Sportanlagen, lohnenswerte Wander-und Ausflugsmöglichkeiten und mehrere Hotels sowie über die Region hinaus bekannte Gaststätten zu bieten hat, wird die Kleinstadt von Touristen kaum besonders beachtet. Die Besucher der bevölkerungsreichsten Gemeinde des Bezirkes Horgen sind vielmehr meist Geschäftsleute, die eines der 130 Industrieunternehmen, die in den Branchen Textil, Metallwaren, chemische Produkte, Maschinen-, Elektro- und Elektronikapparatebau, Nahrungsmittel und Getränkeherstellung über 3000 Arbeitnehmer beschäftigen, oder einen der nahezu 400 Dienstleistungsbetriebe aufsuchen.

Die tausendjährige Geschichte

Wie Peter Ziegler im ersten Band der Ortsgeschichte «Wädenswil» zu berichten weiss, reicht die Geschichte dieser Zürichsee Gemeinde weit über tausend Jahre zurück. Siedlungsreste der Jungsteinzeit und der Bronzezeit im Gebiet der Hinteren Au, römische Funde auf dem Kirchhügel und Alemannengräber im Oberdorf weisen auf eine frühe Besiedlung der Gegend hin. Die Ortsbezeichnung wird auf einen Alemannen namens Wadin zurückgeführt, der sich im 7. oder 8. Jahrhundert in der Nähe der heutigen protestantischen Kirche angesiedelt haben soll. Aus Wadins villare wandelte sich die Bezeichnung über die Jahrhunderte von Wadinswilare und Wediswile, bis 1903 der heutige Name feststand. Über die Herrschaft Wädenswil, die auch die heutigen Nachbargemeinden Richterswil, Schönenberg und Hütten umfasste, geboten im 12. und 13. Jahrhundert die Freiherren von Wädenswil. Von 1287 bis 1549 war Wädenswil Johanniterkomturei. Dann ging die Herrschaft an die Stadt Zürich über und blieb bis 1798 zürcherische Landvogtei.
Die Entwicklung Wädenswils vom 4000-Seelen-Bauerndorf um 1800 zur heutigen Kleinstadt mit nahezu 19‘000 Einwohnern und an die 8000 Arbeitsplätzen vollzog sich in zwei Schüben. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts siedelte sich eine Vielzahl von industriellen, handwerklichen und gewerblichen Unternehmen der verschiedensten Zweige in der linksufrigen Seegemeinde an. Die Zuwanderung von Arbeitnehmern aus andern Dörfern und Kantonen liess die Einwohnerzahl von 6200 anno 1880 innert dreissig Jahren um beinahe die Hälfte auf über 9000 ansteigen. Noch rascher entwickelte sich Wädenswils Bevölkerung in den vergangenen drei Jahrzehnten, wuchs doch die Gemeinde um annähernd 9000 Einwohner. Während sich zuvor hauptsächlich neue Mitarbeiter von lokalen Firmen in Wädenswil niedergelassen hatten, zogen in den vergangenen zwanzig Jahren vermehrt Pendler in die rund zwanzig Kilometer von Zürich entfernte Gemeinde. Denn hier war das Wohnen noch erschwinglicher als in den Vorortsgemeinden der Grossstadt, wo sich die Verknappung des Baulandes allmählich auf die Wohnkosten auszuwirken begann.
Mit der zunehmenden Industrialisierung und dem Anwachsen der Bevölkerung ging auch eine bauliche Entwicklung des Dorfes einher. Der bäuerliche Charakter erfuhr in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen ersten Wandel; alte Gebäude wurden abgerissen und durch neue, grössere ersetzt, die, wie beispielsweise das Eidmattschulhaus, die Sust oder das Gemeindehaus zur Sonne, zum Teil bis heute erhalten geblieben sind. Das Anlegen der See-, Schönenberg- und der Zugerstrasse gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts sowie der Eisenbahnbau von 1870 bis 1877 trugen weiter zur Veränderung des Dorfbildes bei.
Wädenswil: Blick gegen das Luftquartier.

Das heutige Dorfbild präsentiert ein recht harmonisches Nebeneinander von Alt und Neu. Zahlreiche schmucke Zeugen aus mehreren Jahrhunderten setzen markante Akzente. Dominierendes Element ist zweifellos die reformierte Kirche, die von 1764 bis 1767 nach den Plänen von Hans Ulrich Grubenmann erstellt wurde. Grosse Bedeutung kommt − heute wie damals − dem ehemaligen Landvogteischloss zu, dessen ältester Teil aus dem 16. Jahrhundert stammt und das die Eidgenössische Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau beherbergt. Das Hauserhaus, ein Weinbauernhaus aus dem 18. Jahrhundert, zeigt mit dem aus Bollensteinen gemauerten Untergeschoss, dem Oberbau mit Riegelwerk und dem breiten steilgiebligen Dach die typischen Merkmale des Fachwerkhauses am Zürichsee. Das 1970 eingerichtete Ortsmuseum ist in einem der schönsten Häuser der Gemeinde, einem Bürgerhaus aus dem 17. Jahrhundert, untergebracht. Lang wäre die Liste bemerkenswerter alter Bauten, würde sie Vollständigkeit anstreben. Erwähnt seien nur noch die prachtvollen 200- bis 300-jährigen Bauernhäuser im Berg.

Bedeutende Landwirtschaft

Selbst wenn dem Wachstum der Gemeinde im Laufe der Zeit ein Tribut an Grünfläche gezollt werden musste, sind weite Teile des 1700 Hektaren umfassenden Gemeindegebietes − zu Wädenswil gehören der Ortsteil und die idyllische Halbinsel Au, der Weiler Herrlisberg und der Wädenswiler Berg − frei geblieben. Die Landwirtschaft konnte sich trotz der Entwicklung Wädenswils zum Industrieort behaupten Wohl hat die Bautätigkeit einiges an Kulturland verschlungen, und der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung ist auf unter fünf Prozent gefallen (und liegt somit etwa ein Prozent unter dem landesweiten Durchschnitt); indes werden mit tausend Hektaren Anbaufläche noch mehr als die Hälfte des gesamten Gemeindegebietes landwirtschaftlich genutzt. An die hundert Höfe, vornehmlich im Wädenswiler Berg, werden heute noch bewirtschaftet. Fast ganz aus dem Landschaftsbild verschwunden sind hingegen die Rebberge. Nur rund ein Sechstel der 50 Hektaren Rebland, die 1840 noch manchen Hang im Dorf zierten, vermochte der Entwicklung zu trotzen.
Auch auf dem Gebiet der Forschung und Schulung kommt der Landwirtschaft in Wädenswil grosse Bedeutung zu. Die Gemeinde ist Sitz der 1890 gegründeten Eidgenössischen Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau, die sich namentlich mit Grundlagenforschung, Hilfstoffprüfung und der Beratung von Fachleuten aus dem In- und Ausland befasst. Ausserdem ist die über vierzigjährige Ingenieurschule für Obst-, Wein- und Gartenbau hier beheimatet; sie bildet jährlich über 200 Schüler und Kursteilnehmer aus auf den Stufen Berufsschule, Fachschule und Technikum HTL. Die beiden Institutionen haben mit ihrem Wirken nicht nur den Ortsnamen über die Grenzen hinausgetragen, sondern mit ihren Freilandbetrieben der Stadt Wädenswil bedeutende Gebiete an entschädigungsfreien Grünflächen gebracht. Ein «Geschenk», das die Stadt nur zu gern annahm, wurde doch der städtische Finanzhaushalt von gewaltigen Aufgaben, die das Wachstum mit sich brachte, ohnehin in beträchtlichem Ausmass belastet.
Blick vom Turm der reformierten Kirche auf das Oberdorf- und das Hangenmoosquartier.
 

Gelöste und ...

Für das ansehnliche Angebot an öffentlichen Einrichtungen für soziale und kulturelle Belange sowie für Sport- und Erholungszwecke, das Wädenswil heute besitzt, mussten in den vergangenen Jahren namhafte Beträge aufgewendet werden. Verschiedene neue Schulbauten waren erforderlich für die wachsende Anzahl Schüler. Eine Gemeinschafts- und Freizeitanlage mit Kurslokalen und Jugendhausräumlichkeiten, ein Sportkomplex mit Dreifachturnhalle und Hallenbad sowie eine neue Schiessanlage stehen heute unter anderem zur Verfügung. Zwei Alterssiedlungen, «Bin Rääbe» und «Am Tobelrai», konnten eingeweiht werden. Ausserdem entstanden grosszügige See- und Uferanlagen, ein gut ausgebautes Strassen- und Versorgungsnetz sowie Fussgängerüber- und -unterführungen. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang ferner der öffentliche Autobusbetrieb, den die Stadt seit dreissig Jahren unterhält. Die Einführung des Nulltarifs für Behinderte wurde im Herbst 1982 weitherum als Pioniertat gewürdigt.

… ungelöste Infrastrukturaufgaben

Wie Walter Rusterholz, der seit der Einführung des Gemeindeparlaments im Jahre 1974 der städtischen Exekutive vorsteht, im Gespräch freimütig eingesteht, hatten die Behörden vor wenigen Jahren noch angenommen, die nötige Infrastruktur für eine Stadt, die sich als regionalen Schwerpunkt versteht, bereitgestellt zu haben. Heute ist die Liste der zu realisierenden Vorhaben jedoch wieder lang. Gegenwärtig wird das Schulhaus Steinacher um sechs Klassenzimmer, eine Turn- und Mehrzweckhalle sowie einen Tageshort erweitert. Eine Vergrösserung steht auch im Krankenheim Frohmatt bevor, wo das Platzangebot von 95 auf 150 Betten erhöht werden soll. Grösserer Investitionsausgaben bedarf es ferner für die Abwasserreinigungsanlage Rietliau; für die Sanierung der Schlammbehandlung und -verwertung sind rund 7,7 Millionen Franken veranschlagt. Beträchtliche Aufwendungen werden für Umbau und Renovation des Glärnischschulhauses und der Schulanlage Untermosen sowie für die Errichtung eines regionalen Zivilschutz-Ausbildungszentrums im Grossholz erforderlich sein.
Einen nicht unbedeutenden Aufwand erfordern auch die notwendigen Sanierungen und Renovationen von Liegenschaften in städtischem Besitz. Im Hinblick auf Strassenbauprojekte − oder um sich ein Mitspracherecht bei Überbauungen im Zentrum zu sichern − hat die Stadt im Laufe der Jahre eine Anzahl alter Häuser erworben. Die wenigsten Vorhaben wurden aber je ausgeführt, und die meisten Objekte blieben vom Abbruch verschont. Weil die Liegenschaften heute als erhaltenswert gelten, sieht sich die Stadt vor die aufwendige Aufgabe gestellt, sie zu sanieren und neuen Zweckbestimmungen zuzuführen. In parlamentarischen Vorstössen und Gesuchen aus der Bevölkerung sind bei den Behörden in der Vergangenheit die verschiedensten Platzbedürfnisse angemeldet worden; so bestehen etwa die Wünsche, in städtischen Liegenschaften Ausländertreffpunkte, Ausstellungsräume, Ateliers, Werkstätten oder Jugendwohnungen einzurichten.
 

Belasteter Finanzhaushalt

Der für die Realisierung dieser Aufgaben notwendige Aufwand ist beträchtlich, und die Auswirkungen auf den städtischen Finanzhaushalt sind umso belastender, als sie mit einem zu erwartenden Rückgang des Steuerertrages zusammenfallen. Wädenswil ist deshalb im Jahr 1983 zum ersten Mal auf einen Finanzausgleichsbeitrag des Kantons angewiesen, um seinen Haushalt ausgeglichen gestalten zu können. Und dies, obwohl im Bestreben, die Ausgaben der veränderten Ertragslage anzupassen, einige Vorhaben, wie die Renovation und Erweiterung des städtischen Verwaltungszentrums, die Errichtung einer regionalen Kunsteisbahn sowie der Ausbau der Hafenanlage zwischen Seeplatz und «Rothuus», zumindest vorläufig zurückgestellt wurden.
 

Bedürfnis nach Eigenständigkeit

Die Unterstützung durch den Kanton, mit der ein gewisses Mitspracherecht kantonaler Instanzen verbunden ist, wird hier vielleicht mehr als andernorts nur ungern in Anspruch genommen. Sind doch die Wädenswiler seit je stolz auf eine durch die Jahrhunderte verteidigte und bewahrte Eigenständigkeit. Dieser Anspruch mündete in der Vergangenheit nicht selten in offene Opposition gegen Zürich aus, so etwa im Stäfner Handel von 1794/95 oder während des ein Jahrzehnt später ausgetragenen Bockenkrieges. Heute äussert sich diese Eigenständigkeit darin, dass Wädenswil trotz einem bedeutenden Anteil an Pendlern unter der Wohnbevölkerung keine gesichtslose, anonyme Agglomerationsgemeinde der nahen Grossstadt ist. Es ist hier noch durchaus üblich, auf der Strasse jedermann zu grüssen. «Man fühlt sich als Wädenswiler», erklärt Stadtpräsident Rusterholz.
Die Chilbi, die grösste Kirchweih am Zürichsee und das Fest der Wädenswiler schlechthin, sorgt alljährlich am Wochenende nach St. Bernhard (20. August) dafür, dass sich die Einwohner kennenlernen und näherkommen und dass das Zusammengehörigkeitsgefühl erhalten bleibt. Ein überaus breitgefächertes, aktives Vereinsleben ist weiter dazu angetan, die Bevölkerung in ihrer Gemeinde zu verwurzeln. Wesentliche Impulse vermitteln die seit 1790 bestehende Lesegesellschaft und die Freunde des Volkstheaters. die mit ihren Mundartaufführung jeden Winter Theaterliebhaber zu begeistern vermögen. Zudem kommen die Wädenswiler in den Genuss von hochstehenden musikalischen Darbietungen, die von Au-Studio, Musikschule, Kammerorchester sowie verschiedenen Gesangs- und Musikvereinen zur Aufführung gebracht werden.

Beschränktes zukünftiges Wachstum

Wie wird Wädenswil in zehn oder zwanzig Jahren aussehen? Wird es zu einer dichtbesiedelten Stadt mit 60‘000 bis 70‘000 Einwohnern angewachsen sein, wie dies Regionalplaner zur Zeit des allgemeinen konjunkturellen Aufschwunges vorsahen? Wohl kaum! Denn dem Bevölkerungszuwachs während der nächsten zwei Jahrzehnte sind engere Grenzen gesetzt worden: Der kommunale Gesamtplan setzt als Richtwert für die Nutzungsplanung 20‘000 Einwohner und für die Richtplanung deren 25‘000 fest. Laut Walter Rusterholz wird sich das Augenmerk der Behörden in Zukunft vermehrt auf die Konsolidierung des Bestehenden richten. Bis zur Jahrtausendwende wird mit einem Anstieg der Einwohnerzahl von rund zehn Prozent gerechnet; die heutige, an sich schon erfreuliche Arbeitsplatzdichte hofft man dank Landreserven weiter erhöhen zu können.
 




Silvie Hinterberger



(Nachdruck aus der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 2. März 1983)