Bewältigung des Wachstums

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2014 von Adrian Scherrer

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50 Jahre Bau- und Zonenordnung – ein Rückblick auf die politischen Debatten

Als Gemeindeschreiber Emil Bader 1967 von der reformierten Kirchenpflege eingeladen wurde, sich im Jubiläumsbuch zum 200. Jahrestag des Kirchenbaus seine Gedanken über die Zukunft der Gemeinde zu äussern, befand sich Wädenswil im Umbruch. Seit 1960 war die Bevölkerungszahl um mehr als ein Viertel angewachsen. Ein Jahr nach der Eröffnung der Autobahn A3 hatte sich das Wachstum sogar noch verstärkt. Mit Augenzwinkern zitierte Emil Bader (1908-1987) die kühnen Planungsprognosen von bis zu 60'000 Einwohnerinnen und Einwohnern für Wädenswil und meinte: «Es wird von der Einsicht der Bürger (...) abhängen, ob die weitere Besiedlung der Ortschaft planerisch vernunftgemäss vor sich gehen kann.»1 Im Wissen um die damals laufenden Planungsvorhaben und die Bau- und Zonenordnung, die seit drei Jahren in Kraft war, nahm er an, dass eine Einwohnerzahl von allerhöchstens 30'000 Menschen eher ein realistisches Fernziel sei.
Nachdem vor fünfzig Jahren die erste Bau- und Zonenordnung (BZO) verabschiedet worden war, entwickelte sich die Planung zu einem politischen Dauerbrenner. Vor allem in den 1970er Jahren folgte eine Debatte auf die nächste. Mit der Genehmigung einer revidierten BZO kam die Planungsdiskussion 1984 zu einem vorläufigen Abschluss. Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, aus den Debatten zwischen 1964 und 1984 die Eckpunkte und Aufreger herauszuschälen. Er stützt sich dabei ausschliesslich auf Protokolle und Zeitungsberichte, die einen zeitnahen Einblick in die Diskussionen ermöglichen.
Der Blick aus der Florhofstrasse auf den Gasthof Hirschen an der Zugerstrasse aus dem Jahr 1969 zeigt ein verschwundenes Wädenswil.

Wachstumsphantasien und Kritik

Bevor Wädenswils erste Bau- und Zonenordnung im November 1964 in Kraft trat, steuerte der Gemeinderat – die Exekutive – die Planung freihändig von Fall zu Fall. Es galten lediglich die Bestimmungen des kantonalen Planungs- und Baugesetzes. Sie stammten in der damaligen Fassung aus dem Jahr 1893 und liessen Bauten fast überall zu. Zwar hatte es in Wädenswil schon vor dem Ersten Weltkrieg erste Bestrebungen gegeben, eine Bauordnung zu erlassen. Auch in der Zwischenkriegszeit kam das Thema mehrfach auf die Traktandenliste des Gemeinderats. Zum Abschluss kam das Vorhaben aber nie.2 Die Grundlagen des kantonalen Gesetzes galten als ausreichend, so lange der Siedlungsdruck nicht hoch war. Dies änderte sich mit dem Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit. Zunehmende Mobilität, höhere Ansprüche an Wohnungen und der steigende Wohlstand liessen den Druck enorm ansteigen, Baubewilligungen für neue Wohnsiedlungen zu erteilen. Vor allem der Ortsteil Au, wo noch 1956 nur 240 Haushaltungen gezählt wurden, stand vor einem Bauboom. Bis Anfang der 1960er Jahre gingen Pläne für Mehrfamilienhaus-Siedlungen mit über 600 Wohnungen ein.3
1975 wurde der Gasthof Hirschen abgebrochen. Primarlehrer Albert Schoch (1914−2007) dokumentierte die zahlreichen Baustellen der 1970er Jahre mit seiner Kamera.

Einer der Treiber der Entwicklung war die Planung der Autobahn A3, die in den späten 1950er Jahren in allen linksufrigen Seegemeinden für heftige Diskussionen sorgte. Ihre Linienführung war zwar umstritten. Aber die Planungen machten deutlich, dass spätestens mit der geplanten Eröffnung der Autobahn in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein enormer Siedlungsdruck entstehen würde. Der Gemeinderat legte deswegen 1959 der Gemeindeversammlung einen Kreditantrag vor, um den Planer Hans Marti (1913-1993) zu beauftragen, eine Ortsplanung zu entwickeln. Die Exekutive wolle «unter den heutigen Verhältnissen die Verantwortung für die sich aus dem Fehlen ausreichender baulicher Grundlagen für die Gemeinde ergebenden Konsequenzen nicht mehr länger auf sich nehmen», lautete die Begründung an der Gemeindeversammlung. Ohne längere Diskussionen stimmte sie zu.4
Am 11. März 1964 lag der Gemeindeversammlung die Bau- und Zonenordnung (BZO) zur Genehmigung vor. Zwar gab es Debatten um Detailfragen. Umstritten waren zum Beispiel einzelne Waldabstandslinien. Aber insgesamt wurde die BZO erstaunlich geräuschlos genehmigt.5 Offensichtlich war man quer durch alle Parteien und Interessengruppen hindurch froh, gerade noch rechtzeitig die rechtlichen Grundlagen für die Steuerung der Ortsentwicklung gelegt zu haben.
An das Restaurant Schwanen am Eingang der Türgass erinnert heute noch die gleichnamige Bushaltestelle. Mit dem Abbruch des Schwanens begann 1971 die Umgestaltung der Zugerstrasse.
 
Die Genehmigung der BZO fiel in eine Zeit, als sich erste, noch zaghafte Kritik an den ungehemmten Wachstumsprognosen regte. Auf der einen Seite war der Autobahnbau in vollem Gange. Bereits im Mai 1966 wurde das erste Teilstück bis Richterswil eröffnet. Die «Regionalplanung Zürich und Umgebung» hegte als Dachverband aller regionalen Planungsorganisationen Pläne, neue Siedlungsgebiete im Grossraum Zürich zu entwickeln. Eines davon war der Wädenswiler Berg, wo zwischen Tanne und Ödischwend Wohnbauten für mehrere Tausend Einwohnerinnen und Einwohner möglich schienen. Ein Schnellbussystem auf der neuen A3 hätte diese neuen Gebiete erschliessen sollen.6 Weit gediehen waren diese Pläne allerdings nie. Sie blieben Visionen, passten aber gut zu den Entwicklungsperspektiven damaliger Zukunftsstudien. Am bekanntesten wurden die Berichte des St. Galler Wirtschaftsprofessors Francesco Kneschaurek, der im Auftrag des Bundesrates volkswirtschaftliche Prognosen erstellte. Noch in den frühen 1970er Jahren ging er für das Jahr 2000 von einer Schweiz mit zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern aus.
Auf der anderen Seite zeigte sich ab den frühen 1960er Jahren immer deutlicher ein Unbehagen über die beschleunigte Modernisierung. Im Vorfeld der Expo 1964 war viel von einem «helvetischen Malaise» die Rede: Filme, Bücher, Kabarett und kulturelle Debatten drückten eine weit verbreitete, diffuse Unzufriedenheit aus über den Konsumrausch, in dem sich die Schweiz befand. Zum ersten Mal tauchten auch ökologische Bedenken auf: Gewässerverschmutzung und die Versiegelung der Böden wurden schon 1964 thematisiert.7 Immer mehr kristallisierte sich in den schweizerischen und internationalen Debatten die Haltung zum Wachstum als zentrale Schlüsselfrage heraus. Der Bericht «Grenzen des Wachstums», den der Club of Rome 1972 vorlegte, markiert den Höhepunkt dieser Debatten. Angestossen von verschiedenen Unternehmern, die sich in Rom zu einer Konferenz zusammengefunden hatten, entwickelte der Bericht düstere Zukunftsprognosen. Werde der Ressourcenverbrauch nicht gedrosselt, sei innerhalb weniger Jahrzehnte ein Kollaps der Weltwirtschaft nicht ausgeschlossen, lautete das viel diskutierte Fazit.
Bevor der Coop-Neubau an der unteren Zugerstrasse entstand, war die Mirgos Ende der 1960er Jahre schon da - in einem Provisorium.

In der Schweiz betrachtete man auf allen staatlichen Ebenen die Planung als wichtigstes Instrument, um den rasanten Wandel in den Griff zu bekommen. Auf Bundesebene gab der Bundesrat in den späten 1960er und in den 1970er Jahren zahlreiche Studien in Auftrag: Neben Kneschaureks volkswirtschaftlichen Berichten setzte er auch Gesamtkonzeptionen für die Raumplanung, den Verkehr und die Landesverteidigung in Gang. Damit sollte auf den Rückstau offener Fragen reagiert werden, welche die wirtschaftliche Expansion und die dadurch bewirkten Veränderungen in der Gesellschaft aufgehäuft hatten. Schon 1969 wurde in der Verfassung verankert, dass der Bund die Grundsätze der Raumplanung festlegt.
Auch auf kantonaler Ebene setzte der Regierungsrat verschiedene Expertenkommissionen ein, als sich im Lauf der 1960er Jahre abzeichnete, dass der Bauboom zu einer Zersiedlung weiter Teile des Kantons führte, die enorme Verkehrsströme verursachte. Viele gut gemeinte Vorschläge – wie die Schaffung regionaler Zentren mit urbanem Charakter, die ein Gegengewicht zur immer weiter ausgreifenden Stadt Zürich bilden sollten – blieben allerdings Papiertiger. Ergebnis der Bemühungen auf kantonaler Ebene war das Planungs- und Baugesetz von 1975, das 1978 in Kraft trat. Es sah ein kompliziertes System von kantonalen, regionalen und kommunalen Richt- und Nutzungsplänen vor, die aufeinander aufbauten. Auf der regionalen Ebene wurden Planungskörperschaften gebildet; am linken Seeufer zum Beispiel die Zürcher Planungsgruppe Zimmerberg (ZPZ). Den Gemeinden schrieb das Gesetz eine Bau- und Zonenordnung als obligatorisch vor.8

Ein- und Auszonungen

Wädenswil erfüllte mit seiner BZO zwar alle rechtlichen Vorgaben. Für Debatten sorgten aber die mehr als grosszügigen Bauzonen, die nicht zuletzt auf den übertriebenen Bevölkerungsprognosen der Hochkonjunktur beruhten. Die erste Revision der BZO stand im Frühjahr 1972 an. Den Anstoss gaben die dicht gebauten Mehrfamilienhaussiedlungen in der Eichweid und im Hangenmoos, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erstellt worden waren. Sie profitierten als Arealüberbauungen von einem hohen Ausnützungsbonus, der nun gesenkt werden sollte. Hinzu kam die Forderung eines Grundeigentümers im Zopf, der vor dem Verwaltungsgericht eine Entschädigung für sein Land erstritten hatte, nachdem das Grundstück im Zonenplan 1964 der Freihaltezone zugewiesen worden war. Deswegen sollte nun nochmals eingezont werden, um weitere Entschädigungen zu vermeiden.9
Der Bau des Coop-Centers war 1970 ein Meilenstein für die Entwicklung Wädenswils zu einem regionalen Einkaufsschwerpunkt.

Bereits im Vorfeld der Gemeindeversammlung vom 25. April 1972 zeichnete sich ab, dass die BZO-Revision Zündstoff barg. Vorbereitet hatte sie eine Konsultativkommission, die der Gemeinderat eigens dafür eingesetzt hatte. In ihr waren alle Parteien vertreten. Trotzdem füllten sich die Leserbriefspalten des «Allgemeinen Anzeigers vom Zürichsee». Schon als er die von einer rekordverdächtigen Zahl von 1086 Stimmberechtigten besuchte Versammlung eröffnete, war Gemeindepräsident Fritz Störi (1917-2005) klar, dass das Traktandum nicht an einem Abend beschlossen werden konnte. Er beantragte, nur die Bauordnung zu behandeln und den Zonenplan auf eine weitere Versammlung zu verschieben. So gelang es, die Bauordnung in einem vierstündigen Marathon durchzuberaten. Kurz nach Mitternacht wurde sie von den Stimmberechtigten genehmigt.10
Die zweite Gemeindeversammlung war auf den 17. Mai angesetzt. Bauvorstand Hans-Jakob Furrer (1924-1981) hoffte in seinem einleitenden Votum auf eine einigermassen geordnete Behandlung des Zonenplans. Doch seine Hoffnung zerschlug sich. Die Vorstellungen der unterschiedlichen Interessengruppen über die künftige Entwicklung Wädenswils lagen zu weit auseinander. Wiederum waren über 1000 Stimmberechtigte erschienen. Markige Voten, Zwischenrufe und Applaus, der einzelne Redner unterbrach, veranlassten Gemeindepräsident Störi mehr als einmal, zur Ruhe zu mahnen.
Die Hochhäuser in der Holzmoosrütistrasse im Bau: Zwischen 1966 und 1973 schossen grosse Wohnsiedlungen an der Peripherie wie Pilze aus dem Boden.

Während bei der Beratung des Zonenplans von 1964 noch ein weitgehender Konsens über eine Wachstumsperspektive geherrscht hatte, zeichnete sich nun eine klare Konfliktlinie zwischen alteingesessenen Wachstumsbefürwortern und wachstumskritischeren Neuzuzügern ab. Sie brachten das fein austarierte und bis dahin recht stabile Gefüge aus Freisinn, Sozialdemokratie und Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) ins Wanken. «Selbst wenn man es als wünschenswert erachten würde, wird Wädenswil auch in Zukunft nie eine Oase bleiben können, die von der Bevölkerungsentwicklung verschont bleibt», erklärte Bauvorstand Furrer, als er den Zonenplan präsentierte. Er rechnete mit ungefähr 35'000 Einwohnerinnen und Einwohnern bis ins Jahr 2000.11 Die Gegner dieser Perspektive wiesen auf die hohen Kosten des Wachstums hin: Einen Ausbau von Schulhäusern, Sportanlagen, Altersheimen, Wasserversorgung und Kläranlage könne man sich ohne Steuererhöhung nicht leisten. Das Unbehagen am Wachstum war unüberhörbar, fiel die Debatte doch genau in die Zeit der dringlichen Bundesbeschlüsse zur Konjunkturdämpfung. Sie enthielten unter anderem eine vorübergehende Ausführungssperre für Neubauten und dienten vor allem der Inflationsbekämpfung, die in jenen Jahren bis zu 10 Prozent pro Jahr betrug.
Zwar versuchte Gemeindepräsident Störi den Zonenplan Quartier für Quartier durchzuberaten, doch über einzelne Freihaltezonen gerieten sich die Stimmberechtigten dermassen in die Haare, dass die Gemeindeversammlung kurz nach Mitternacht abgebrochen wurde – «in einem Tumult», wie das Protokoll vielsagend vermerkt.12 Sechs Tage später gelang es im zweiten Anlauf doch noch, den Zonenplan zu genehmigen. Bis alle Änderungsanträge durchberaten waren, dauerte es indes nochmals bis nach Mitternacht. Entgegen dem Antrag des Gemeinderates wurden nicht alle Gebiete oberhalb der Speerstrasse eingezont und verschiedene Areale abgezont, in dem sie niedrigeren Bauzonen zugewiesen wurden.13
 

Gesamtkonzeption und Mitwirkung

Weil in der Hitze des Gefechts an den Gemeindeversammlungen kaum jemand den Überblick behalten hatte und sich Zufallsentscheide und der Einfluss von Partikularinteressen nicht ausschliessen liessen, zog sich die Genehmigung der revidierten Wädenswiler BZO durch den Kanton fast drei Jahre hin. Erst nach einem Wiedererwägungsgesuch stimmte der Regierungsrat schliesslich Anfang 1975 zu, hielt aber fest, dass eine «eingehende Überprüfung» notwendig sei.14 Zu diesem Zeitpunkt war diese bereits im Gang. Denn auch in Wädenswil war man nach dem Versammlungsmarathon keineswegs zufrieden und organisierte eine Art Gesamtplanung auf kommunaler Ebene. Sie sollte die verhärteten Fronten klären.
Der Anstoss kam von Bruno Ern, der später für den Landesring der Unabhängigen (LdU) im Stadtrat sass. Unmittelbar nach der letzten der drei Gemeindeversammlungen reichte er ein Postulat ein, das eine «Gesamtkonzeption in Form eines Leitbildes» forderte.15 Der Gemeinderat nahm das Anliegen auf und rief eine Gemeindeplanungskommission ins Leben. Sie hatte über vierzig Mitglieder, die ab März 1973 in sieben Arbeitsgruppen einzelne Fragen bearbeiteten. Die Bandbreite war dabei gross: Sie reichte von der Arbeitsgruppe «Wirtschaft und Finanzen», die Prognosen zur künftigen Entwicklung der Gemeindefinanzen errechnete, bis zu einer Arbeitsgruppe, die eine Liste der schützenswerten Baudenkmäler erstellte.16 Als Grundlage nahm man an, dass Wädenswil im Jahr 2000 rund 30'000 Einwohnerinnen und Einwohner haben werde.17
Schritt für Schritt wandelte sich die mittlere Zugerstrasse in den 1970er Jahren: Das Haus Ceder mit dem angebauten Comestiblesgeschäft Bianchi kurz vor dem Abbruch 1976.

Der Gemeinderat liess die Namen aller Kommissionsmitglieder im «Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee» veröffentlichen. Damit verband er im Sinne des Mitwirkungsverfahrens den ausdrücklichen Wunsch «den Mitgliedern Vorschläge und Anregungen (...) zu unterbreiten und allenfalls auch Kritik anzubringen.»18 Für Gesprächsstoff sorgten in der Folge vor allem die Arbeitsgruppen «Spezialplanung Dorfkern» und «Planungskonzept Au». Letztere kam zum Schluss, dass ein eigentliches Dorfzentrum im Mittelort nicht realistisch sei, weil die Gehdistanzen von den grossen Wohnsiedlungen im Appital und im Unterort zu weit seien. Von den weiteren Vorschlägen stiess in der Vernehmlassung bei der Bevölkerung nur einer auf Zustimmung: Die Schaffung einer Gewerbezone im Moosacher. Alle weiteren Vorschläge wurden verworfen, darunter eine durchgehende Stoffelstrasse zwischen Steinacherstrasse und Tiefenhofstrasse ebenso wie das Vorhaben, unterhalb des Grossholzes einen eigenen Friedhof für die Au einzurichten.19
Mit der Schaffung neuer Gewerbezonen sollte die zunehmende Trennung von Arbeit und Wohnen gebremst werden. Dahinter steckte die Befürchtung, ohne Gegenmassnahmen zur «Schlafstadt» zu werden und die Eigenständigkeit zu verlieren.20 Die Anzahl Pendler, die in der Kernstadt Zürich arbeiten, galt und gilt zusammen mit anderen Faktoren als Indikator, ob eine Gemeinde zur Agglomeration rund um die Stadt Zürich gezählt wird. Die Anzahl Pendler wurde in den Volkszählungen regelmässig erhoben. Nach diesen Zahlen war die Au schon 1960 Teil der Agglomeration Zürich, Wädenswil aber erst 1980.21
Die Arbeitsgruppe «Dorfkern» griff ihrerseits den Vorschlag auf, die untere Zugerstrasse zwischen der Ecke Oberdorfstrasse und der Seestrasse zu verlegen. Er ging auf die Ideen einer Arbeitsgruppe des Bauamtes und einer parteipolitisch breit abgestützten Konsultativkommission zurück, die sich zwischen 1963 und 1969 im Auftrag des Gemeinderats mit der Dorfkerngestaltung beschäftigt hatte. Nachdem der Kanton die Zugerstrasse als Autobahnzubringer bezeichnet und Mitte der 1960er Jahre ein Ausbauprojekt vorgelegt hatte, untersuchten die beiden Gremien Verkehrsfragen. Die Schaffung einer neuen «Hauptader» zwischen Seestrasse und Autobahn schien damals die günstigste Lösung. Um den Detailhandel nicht zu schwächen, sollte aber keine grossräumige Umfahrung sondern eine neue Verbindung nah am Dorfzentrum geschaffen werden.22 Diesen Vorschlag nahm die Arbeitsgruppe «Dorfkern» wieder auf. Vorgesehen war eine Linienführung der Zugerstrasse, die ungefähr entlang der Kreuzstrasse führen und dann zwischen Stadthaus und Trubengass in die Seestrasse münden sollte. Durch die Verlegung sollte auf der Zugerstrasse zwischen Schwanen- und Hirschenplatz eine Fussgängerzone entstehen. Eine Variante sah zudem vor, den Verkehr der Schönenbergstrasse über die Oberdorfstrasse in die neue Zugerstrasse umzuleiten. Dadurch wäre die Schönenbergstrasse zwischen Schmiedstube und Zugerstrasse zur reinen Zubringerstrasse geworden, so dass die Fussgängerzone auf der «alten» Zugerstrasse um den Abschnitt Hirschenplatz–Central länger geworden wäre.23
Die Oberdorfstrasse im Jahr 1970: Hier entstand anstelle der «Ferrari-Häuser» ein Jahr später der Migros-Neubau.
 
Bereits 1975 lagen die Ergebnisse vor. Jede der Arbeitsgruppen hatte einen Schlussbericht verfasst. Zusammengefasst bildeten sie einen «Planungsordner», der die Grundlagen für die kommunale Richt- und Nutzungsplanung enthielt. Vorerst wurden die Ergebnisse aber auf die lange Bank geschoben. Denn inzwischen hatte sich die politische Ausgangslage verändert. Erstens war 1974 das Gemeindeparlament eingeführt worden; die Exekutive nannte sich nun Stadtrat. Dadurch veränderte sich das politische Kräftespiel. Und zweitens war die Schweiz nach der Ölkrise von 1973 und dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems in eine tiefe Rezession gerutscht. Dies bewirkte zunächst einen deutlichen Rückgang der Bautätigkeit24 und mit zeitlicher Verzögerung auch Veränderungen im wirtschaftlichen Gefüge in Wädenswil. Sowohl die Tuchfabrik Pfenninger als auch die Tuchfabrik Wädenswil stellten zwischen 1976 und 1978 den Betrieb ein.
 

Das Parlament übernimmt die Regie

Erst 1978 griff der Stadtrat zu Beginn der zweiten parlamentarischen Legislatur die Ergebnisse der Gemeindeplanungskommission auf. Weil inzwischen das kantonale Planungs- und Baugesetz in Kraft getreten war, musste die kommunale Bau- und Zonenordnung angepasst werden. In einer Klausurtagung verabschiedete er die Schlussberichte der Gemeindeplanungskommission zuhanden des Parlaments und löste die Kommission gleichzeitig auf. Für die Richtplanung reduzierte der Stadtrat die Einwohnerprognose auf 20'000 bis 25'000 Menschen für das Jahr 2000. Ausdrücklich hielt er hingegen am Vorschlag fest, die Zugerstrasse zu verlegen, verzichtete aber auf das unterste Teilstücke der Fussgängerzone, indem er beschloss, die Schönenbergstrasse als Durchgangsstrasse zu belassen. Auch die umstrittene Stoffelstrasse blieb als Direktverbindung zwischen Wädenswil und der Au in den Plänen.25
Nun übernahm das Parlament die Regie. Als Ziel hatte der Stadtrat vorgegeben, die BZO bis zum Ende der zweiten Legislaturperiode – 1982 – unter Dach und Fach zu bringen. Um das ehrgeizige Ziel zu erreichen, traktandierte der Gemeinderat am 17. und 24. März 1980 zwei konsultative Sitzungen über die Richtplanung. So sollten Zielvorstellungen für die weitere Arbeit an der BZO festgelegt werden. Sowohl die Bevölkerungsprognosen als auch die Gewerbezone Moosacher erhielten Zustimmung. Keinen Gefallen fand das Parlament hingegen an der Verlegung der Zugerstrasse. Mit 43:2 Stimmen wurde sie versenkt. Die Debatte zeigte ein ganzes Bündel von Begründungen: Der unmittelbare Handlungsdruck, einen Engpass zu beseitigen, war mit dem Neubau «Hirschen» an der Ecke Schönenberg-/Zugerstrasse und dem damit verbundenen Umbau der Kreuzung weggefallen. Hinzu kam die Eröffnung des Einkaufszentrums «Di alt Fabrik», das durch eine Verlegung der Zugerstrasse vom übrigen Stadtzentrum abgeschnitten worden wäre. Moniert wurde auch die steile Rampe, die sich von der Seestrasse bis auf die Höhe der Florhofstrasse ergeben hätte. «Es scheint, dass für das viele Geld doch zu wenig Effekt heraus käme», brachte FDP-Gemeinderat Paul Huggel die Stimmung auf den Punkt.26 Auch die Stoffelstrasse fand keine Gnade. Mit 20:19 Stimmen wurde sie hauchdünn abgelehnt.27
An den letzten drei Parlamentssitzungen der Legislaturperiode lag der kommunale Richtplan schliesslich zur Beratung vor. In einer Doppel- und einer Vierfachsitzung wurden über 100 Anträge behandelt. Die bereits zwei Jahre zuvor gestrichene Stoffelstrasse war nun kein Thema mehr. Stattdessen sorgte der Stoffel als Gebiet für reichlich Diskussionsstoff. Er wurde der Reservezone zugewiesen und damit vorläufig von der Bebauung ausgeschlossen.28 Die Bau- und Zonenordnung kam hingegen erst in der Mitte der nachfolgenden Legislaturperiode auf die Traktandenliste des Parlaments. Ein zweitägiger Sitzungsmarathon behandelte am 2. und 3. April 1984 alle 72 Anträge, die im Frühjahr 1981 im Rahmen einer öffentlichen Planauflage eingegangen waren.29
Die extremen Sitzungszeiten zeugen vom Willen aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die Planung möglichst reibungslos abzuwickeln, war doch vielen von ihnen die tumultuöse Gemeindeversammlung von 1972 noch in bester Erinnerung. Dennoch entspann sich zwischen links und rechts eine Grundsatzdebatte über das Wachstum. Während FDP-Gemeinderat Max Niederer die revidierte BZO als «Zwangsjacke» bezeichnete, plädierte SP-Gemeinderat Sepp Dorfschmid für einen «Marschhalt». Es gehe «um das richtige Mass zwischen Freiheit einerseits und Gesetzen und Reglementen andererseits», beschwichtigte Bauvorstand Walter Höhn (1927-2009).30 Im Ergebnis verabschiedete das Parlament eine BZO, die rund ein Fünftel des 1972 eingezonten Baulandes der Reservezone zuwies. Zudem wurde im Stadtzentrum ein deutlich stärkerer Schutz des bestehenden Ortsbildes festgeschrieben.
Nach den stürmischen Jahren des Wachstums war damit eine Bau- und Zonenordnung genehmigt, die gemäss Formulierung von Bauvorstand Höhn nur noch ein «verlangsamtes und organisches»31 Wachstum erlaubte. Die ausgedehnten Debatten über Planung und Wachstum kamen damit zu einem vorläufigen Abschluss. Die Rückschau zeigt, dass jeder noch so kleine Schritt in Planungs- und Baufragen viel Geduld kostete. Seit den späten 1960er Jahren gingen allen politischen Entscheiden stets zähe und langwierige Debatten voraus. Sie waren dem Willen geschuldet, im Sinn der «offenen Planung» eine demokratische Mitsprache zu ermöglichen. Die Folge war, dass die Planung der tatsächlichen Bau- und Verkehrsentwicklung stets hinterher hinkte und keine vorausschauende Steuerung ermöglichte. Hinzu kommt, dass sich die politischen Diskussionen meist um einzelne Bau- oder Verkehrsprojekte drehten. Die übergeordnete Richtplanung blieb zu abstrakt, um über die Fachleute hinaus eine Debatte anzuregen.
Auch später sollte dies so bleiben. Nach zwei kleineren BZO-Revisionen in den Jahren 1991 und 1994 stiess ein Postulat der parlamentarischen Raumplanungskommission, das sämtliche Gemeinderätinnen und Gemeinderäte unterzeichneten, die Zentrumsplanung wieder an.32 Das «Postulat offene Zentrumsplanung» (PoZ Wädi) schlug einen Planungsprozess mit Workshops vor, der Wohnen, Einkaufen und Arbeiten diskutieren sollte. Im Lauf der Arbeit verengte sich die Perspektive dann auf die Gestaltung der mittleren Zugerstrasse zwischen Kreuz- und Schönenbergstrasse. Hier sollte eine «Mischzone» entstehen, aus der später der Vorschlag für eine «Flaniermeile» herauswuchs. Ende 1997 schrieb der Gemeinderat das Postulat ergebnislos ab.33
Der Rückblick auf die Debatten zwischen 1964 und 1984 zeigt, wie stark die Planungsgrössen von den Werthaltungen der jeweiligen Zeit abhängen. Beispielhaft lässt sich dies an den Einwohnerprognosen für Wädenswil zeigen. Ging man Ende der 1960er Jahre noch von 35'000 und mehr Einwohnerinnen und Einwohner im Jahr 2000 aus, sank diese Zahl bis Anfang der 1980er Jahre schrittweise auf 20'000. Von der Vorstellung, mit einer «Gesamtkonzeption» die Entwicklung steuern zu können, hatte der Stadtrat schon Ende der 1970er Jahre Abschied genommen. Im Bericht über die Klausur zu Planungsfragen, die der Stadtrat 1978 durchführte, heisst es: «Die Eingriffsmöglichkeiten der kommunalen Behörden sind im Grunde genommen bescheiden. (...) Mit Plänen und Konzepten allein lässt sich die Wirklichkeit nicht zwingen.»34




Adrian Scherrer



ANMERKUNGEN

1 Emil Bader, Unser Gemeinwesen in der Zukunft, in: So leben wir: Jubiläumsschrift der Kirchgemeinde Wädenswil, Wädenswil 1967, S. 236-242, hier S. 238.
2 Erläuterung von Gemeindepräsident Fritz Störi an der Gemeindeversammlung vom 11.3.1964 (Stadtarchiv IV B 6.7, Protokoll Gemeindeversammlung, 11.3.1964).
3 Peter Ziegler, Wädenswil, Bd. 2, Wädenswil 1971, S. 78.
4 Stadtarchiv IV B 6.7, Protokoll Gemeindeversammlung, 23.9.1959.
5 Stadtarchiv IV B 6.7, Protokoll Gemeindeversammlung, 11.3.1964.
6 Wädenswiler Nachrichten, 11.12.1996.
7 Janick Marina Schaufelbühl (hg.), 1968-1978: Ein bewegtes Jahrzehnt in der Schweiz, Zürich 2009, S. 10.
8 Mario König, Auf dem Weg in die Gegenwart, in: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, Zürich 1994, S. 350-479, hier S. 464ff.
9 Tages-Anzeiger, 19.4.1972; AAZ 22.4.1972.
10 Stadtarchiv IV B 6.7, Protokoll Gemeindeversammlung, 25.4.1972.
11 Stadtarchiv IV B 6.7, Protokoll Gemeindeversammlung, 17.5.1972.
12 Ebd.
13 Stadtarchiv IV B 6.7, Protokoll Gemeindeversammlung, 23.5.1972.
14 AAZ, 16.1.1975.
15 AAZ, 24.5.1972.
16 Stadtarchiv IV B 04.00, Dossiers der Gemeindeplanungskommission.
17 Stadtarchiv IV B 04.00, Dossier Stadtkernplanung, Bericht Kernplanung Wädenswil, 13.5.1974.
18 AAZ, 6.9.1973. Als externe Berater zugezogen wurden der Finanzexperte Hans-Caspar Nabholz, der Verkehrsplaner Peter Niederhauser und der Ortsplaner Hugo Wandeler.
19 AAZ, 13.6.1974.
20 Vgl. dazu Emil Bader 1967, a.a.O.
21 Zu den Zahlen für die Au 1960: AAZ, 30.11.1962 und 1.12.1962. Zum Begriff Agglomeration: Mario König 1994, a.a.O., S. 364.
22 Stadtarchiv IV B 04.00, Dossier Konsultativkommission Dorfkernplanung; AAZ, 22.10.1969.
23 Zwischenbericht der Arbeitsgruppe «Dorfkern», veröffentlicht im AAZ, 10.5.1974.
24 Anzahl neu erstellter Wohnungen: statistik.info 10/2008, www.statistik.zh.ch.
25 Stadtarchiv IV B 04.00, Dossier Gemeindeplanungskommission, Klausurbericht Stadtrat, 20.11.1978 (veröffentlicht im AAZ, 24.11.1978).
26 Stadtarchiv IV B 137.2, Protokoll Gemeinderat, 17.3.1980; vgl. AAZ, 20.3.1980.
27 Stadtarchiv IV B 137.2, Protokoll Gemeinderat, 24.3.1980; vgl. AAZ, 27.3.1980.
28 Stadtarchiv IV B 137.2, Protokoll Gemeinderat, 15.3.1982; vgl. AAZ, 4.3.1983 und NZZ, 5.8.1983.
29 Zur Planauflage: AAZ, 2.4.1981.
30 Stadtarchiv IV B 137.2, Protokoll Gemeinderat, 2.4.1984.
31 Interview mit Walter Höhn im AAZ, 17.3.1984.
32 AAZ, 5.10.1994. – Zu den BZO-Revisionen: AAZ, 5.6.1991, 11.1.1994 und 19.1.1994.
33 ZSZ, 6.6.1997 und 1.11.1997.
34 AAZ, 24.11.1978.