Die Abfolge widerspiegelt die Reihenfolge der Einträge in das Poesiealbum20
Mai-Lied
Nun steht das Tal in vollen Blüten
und linde Winde leise schütten
den Blütenschnee mir ins Gesicht.
Ich kann mein Herz nicht mehr bezwingen,
der Seele höchste Saiten klingen
0 Seele, Seel, zerspringe nicht.
Da ist ein Jubel in den Bäumen.
Wir wandeln beide wie in Träumen
durch all dies Blühen, ich und du.
Lichtweisse Wolkenzüge steigen,
der Waldgott singt aus weissen Zweigen.
0 Seele, Seele, singe zu.
Nun steht das Tal in vollen Blüten.
Gelinde Winde leise schütten
den Blütenschnee uns ins Gesicht.
Du süsses Blüh 'n, du darfst nicht enden,
dich halt ich fest mit beiden Händen!
0 Liebe, Liebe ende nicht!
12. V. 10
Lied des Liebenden
Auf Flügeln der Liebe schwebet mein Lied empor,
Nun juble, du meines Herzens Nachtigallenchor.
Und tausend zur Linken erheben den leisen Gesang.
Und tausend zur (R)rechten vollenden den herrlichen Klang.
Erst hauchen sie leise zu goldner Harfen Getön,
Da dämmert die Tiefe empor, es blühen die Höh 'n.
Und immer voller und höher woget die Brust:
Es jubelt von Jugend und Frühling und Liebeslust.
Und immer lauter hallt des Gesanges Strom:
Da springt das Gewölbe im heiligen Liebesdom!
Und Engel schweben herab im Liliengewand,
Milchweisse Krüge schimmern in ihrer Hand!
In lichtblaue Räume schütten sie Blütenschnee(,)
Und immer gewaltiger braust das Evoe
Der Tausend zur Linken und Rechten nun hebt es sich:
Aus zerspringender Brust ein gewaltiges: Ich liebe dich!
Erschüttert ist meine Seele - es schweigt der Gesang.
Ich horche und horche auf einen Wiederklang.
Mein Herz blüh' auf!
Mein Herz(,) du blühender Frühlingsgrund(,)
0 brich das eherne Schweigen,
Blüh' auf, du träumender Quellenmund!
Die Lüfte kosen so eigen!
Sie tragen auf ihren Flügeln
Ein silbernes Klingen talauf:
Dies Kosen, dies Läuten,
Was will es bedeuten!
Blüh' auf (,) mein Herz, blüh' auf!
Mein Herz, du blühender Frühlingsgrund!
Blüh' auf, du herrliche Heide!
Es wandelt in dir mit singendem Mund
Ein Mädchen in weissem Kleide.
Es flammt in ihren Augen
Ein goldenes Leuchten auf
Dies Leuchten, dies Läuten(,)
Was soll es bedeuten!
«Blüh' auf, mein Herz, blüh' auf!
(undatiert)
Mein Herz, du blühender Frühlingsgrund,
Nun juble, nun singe, nun klinge!
Mich küsste des Mädchens blühender Mund!
0 klinge (,) du Brust, o singe!
0 Leben in allen Tiefen!
0 liebliches Leuchten glüh' auf!
Dies Küssen, dies Läuten,
Was will es bedeuten!
Blüh' auf(,) mein Herz, blüh' auf!
Mädchen, trink ich deiner Augen Glanz
Dämmert meiner Seele Grund empor(,)
Und es schlinge! ein Gedankenchor
Durch die Stille einen Geistertanz.
Sachte schwingen Raum und Zeit.
Kaum fühl (') ich den Schlag in meiner Brust.
Nur in dir bin ich mir noch bewusst.
Augenblick wird mir zur Ewigkeit.
Leis noch fühl(') ich deiner Lippen Kuss(,)
Und die Augen schliessen sich vor Glück,
Strahlen eine innere Welt zurück,
Eine Welt in hohem Überfluss.
Mädchen, trink ich deiner Augen Glanz,
Dämmert meiner Seele Grund empor(,)
Und es lauschet still mein horchend Ohr
Der Gedanken leisem Geistertanz.
22. V. 10
Stille(,) stille Veilchenaugen leuchtet zu,
Aus euren Bronnen trink' ich heilige Liebesruh.
Wunschlos atmet mein Herz, und kein Sehnen ersteht.
Über die Erde weit, göttlicher Friede weht.
Göttlicher Hauch, komm über mich!
Ich liebe Dich, liebe Dich,
Elisabeth.
März 1910
Es folgen zwei Sonette, die Karl Stamm selbst auf einen Doppelbogen schrieb und den Elisabeth nicht vernichtete.
Voll Unruh wälzt' ich mich auf meinem Bette -
Ich hielt's nicht aus! Ich schlich mich auf dein Zimmer;
durch dein Gemach floss kühler Mondenschimmer
verschleiernd deine weisse Lagerstätte.
Du schliefst. – Unsichtbar zog sich eine Kette
um dich und mich. Es wogte das Geflimmer.
An deiner Schönheit hing mein Auge immer -
0 dass ich tausend solcher Nächte hätte!
Wie aufgelöst dein Atem sich verlor:
Die rechte Hand nur hieltest du empor,
als sehntest du dich in ein fernes Land(.)
Und wie mit Geistgewalt ergriff es mich,
die wilde Sehnsucht meiner Brust entwich,
als sprächest leise Du: Gib mir die Hand.
(undatiert)
Mein Kind, mein Mädchen! Sag, was ist geschehn?
Mein staunend Herze kann es nicht begreifen,
und meine Blicke deine Stirne streifen –
hier ging ein Wunder vor sich, ungesehn!
Und wo du schreitest(,) haucht ein süsses Wehn.
In dir, um dich ergeht ein Blühn und Reifen(,)
und Labyrint(h)e glühend sich ergreifen,
und wo du wandelst ist ein selges Gehn.
Es lebt in dir ein göttliches Gestalten.
0 schönes Blühn ! O herrliches Entfalten!
Die Seele tritt dir still ins Angesicht!
Du schaust mich an. – Mein Herze steht betroffen(.)
Die Knospe sprang! Die Blüte stehet offen!
Wohin ich schaue, quillt der Liebe Licht!
(undatiert)