WÄDENSWILER ORIGINALE V

Fräulein Doktor Helene Wyssling (1897-1969)

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1996 von Marlies Bayer-Ciprian

EINE ORIGINELLE FRAU

Eine ganz besondere Frau ist sie bestimmt, diese Helene Wyssling. Man kann beinahe sagen, sie müsse es ja sein, wenn sie aus einer solchen Familie stamme, aus einer Familie mit Energie und Tatendrang, der sich auf verschiedensten Gebieten zum Wohle vieler Mitbürger und des Fortschrittes äusserte. Und damit stehen wir in der richtigen Zeit, denn es ist beinahe dreissig Jahre her, seit Tante Leni in Wädenswil wirkte. Trotzdem, kaum nennt man ihren Namen vor jemandem, der sich noch erinnern kann, wird sie lebendig. Man sieht sie sofort vor sich. Sie wird einem gegenwärtig, so als ob man sie selber kennen würde. Sie ist es, die morgens früh, bevor die ersten Nachbarn zur Arbeit gehen oder Frühstück machen, schon im Garten arbeitet. Ein schöner, wohltuender Ausgleich ist es ihr, ein froher Start in einen Tag, der ihr wieder viele von den Sorgen und Nöten der Mitmenschen zu erkennen geben wird. Ärztin ist sie, wird sich um die Mütter kümmern, die sich Sorgen um ihre kranken Kleinen machen, wird auch Kranke zu Hause besuchen und ihnen Rat und Heilmittel bringen; Ärztin in Wädenswil; mit ihrer Freundin Dr. Schinz zusammen von den ersten freipraktizierenden Ärztinnen im Kanton Zürich. 1930 gibt Frau Dr. Lucci-Purtscher ihre Praxis am Alpenweg auf, 1931 führt Fräulein Doktor Helene Wyssling nicht nur eine Allgemeinpraxis mit Spezialgebiet Lungenkrankheiten im ehemaligen EKZ-Gebäude am Töbeliweg, sondern ist als Nachfolgerin ihres Paten Doktor Florian Felix auch bereits Krippenärztin.
Dr. med Helene Wyssling (1897-1969).
Hierhin, ins elterliche Heim, wo sie jetzt gelbe Blättlein wegzupft, etwas Loses festbindet, einen störenden Zweig zurechtschneidet, hat sie ihre Praxis erst nach dem Tode ihres Vaters verlegt. Als bedeutende Wädenswilerin, nicht berühmt, aber für ihr Dorf und den Berg bedeutend, ist sie auch ein Original. Sie vereint in sich originale, ursprüngliche und bodenständige Eigenschaften. Sie ist eine «Zürisee-Frau». Unverwechselbar, offen, gradlinig, sachlich, stark, nicht sentimental oder emotional, gütig, zuverlässig, sich ihrer selbst und ihrer Methoden sicher. Dies sind sicher Eigenschaften, welche zusammengenommen in Verdacht stehen, einen Menschen glorifizieren zu helfen. Nein, sie ist kein Idol; sie ist eine Frau, die geradeheraus ihre Meinung zeigt und sagt, die von sich und ihren Mitmenschen etwas verlangt, sogar viel verlangt, und da ist, wenn man sie braucht.
Beinahe hundert Jahre ist es nun her, dass sie als viertes Kind der Familie Prof. Dr. Walter und Luise Wyssling-Witt 1897 zur Welt kam. Obwohl es so lange her ist, erinnern sich nicht nur jüngere Verwandte gerne und gut an sie. Viele Wädenswilerinnen kennen sie noch vom Frauenverein her, aus der Praxis, vom Zivilen Frauenhilfsdienst, erinnern sich daran, dass sie «Ärztin vom Muetti gsii isch. Si hät si gern ghaa, es isch e gueti Ärztin gsii. Mir Chind händ scho chli Reschpäkt vor ire ghaa. Si hät gnau gwüsst, was si will», so eine Frau, die sich spontan erinnert. Sie habe aber «einen weichen Kern» gehabt, man habe es rasch gemerkt, dass sie es gut meine, trotz der meist «rauen Schale». Diese Äusserungen sind nicht der verschönernden Wirkung der Jahrzehnte Zuzuschreiben, sondern wörtlich zu nehmen. Hätten sonst die kleinen und jugendlichen Patientinnen und Patienten des Fräulein Doktor ihre «Gspäändli» ins Wartezimmer mitgenommen? Nicht weil sie für den schweren Gang Begleitung brauchten, sondern vielmehr, weil es in Frau Dr. Wysslings Wartezimmer Globibücher gab, die man als Knirps in einer stillen Stunde lesen durfte, auch ohne krank zu sein, ohne sanft aber deutlich wieder hinausbefördert zu werden. Nicht heutzutags, sondern vor dreissig bis sechzig Jahren war das so, ebenso lange Frau Wyssling ihre Praxis führte. «Mir händ si gern ghaa». Und sie die Kinder offenbar auch.
Eigentlich stehen wir ja noch immer mit Helene Wyssling im Garten und schauen ihr zu, wie sie ihn behutsam, aber auch energisch pflegt, je nach Bedarf der Pflanze. Dabei trägt sie ihre Werktagstracht, aber in der Praxis stehen die damals modernsten Apparaturen zur Diagnostik und Therapie.

JUGENDZEIT UND MEDIZIN-STUDIUM

Wie ist denn nun diese Frau, welche solche Seiten in sich vereinigt, welche heute noch so stark und lebendig in den Schilderungen der Erzähler und Erzählerinnen wirkt? Beginnen wir mit der Jugend in der Familie. Fünf Geschwister waren es, vier Schwestern und ein früh verstorbener Bruder. Reicher Kindersegen für die Eltern Walter und Luise Wyssling-Witt. Beeindruckende Eltern auch für Helene. Sicher hätte Walter Wyssling ohne eine starke Gattin, die ihm die Haus- und Familiensorgen abnahm, sich nicht so intensiv seinen Energieprojekten widmen und gleichzeitig einen hohen Offiziersrang innehaben können. Im Alter von achtzig Jahren noch stellte er in einem Buch sämtliche Daten der bisherigen Wasserkraftwerke der Schweiz zusammen. Er, als Initiant des Kraftwerkbaus Waldhalde (1995 hundertjährig), gab viel von seiner Energie und dem Durchhaltevermögen an seine Töchter weiter. So ist es auch nicht verwunderlich, dass wir Helene nach der Primar- und Sekundarschule an der Höheren Töchterschule Zürich antreffen, wo sie 1916 mit der Eidgenössischen Matura abschloss.
Während der Kinderzeit wie auch am Gymnasium fühlte sie sich wohl in einem Kreis von Freundinnen, die ihr die Familie noch erweiterten. Auch wenn Helene den Wädenswiler Doktor Felix zum Paten hatte, der ihr in manchem Bereich Vorbild war, brauchte es doch rechten Mut, sich anfangs unseres nun zu Ende gehenden Jahrhunderts zum Medizinstudium zu entschliessen. Aber eben, dieser Mut war ja in der Familie enthalten. Mag auch mitgespielt haben, dass gerade zu jener Zeit viele Bürgers- und Fabrikantenfrauen Geld und Energie und persönliche Mitarbeit in soziale Projekte steckten. Wie könnte Helene ihren Mitmenschen am besten helfen? Natürlich als Ärztin! So entschloss sie sich, gemeinsam mit ihrer Klassenkameradin Emmi Schinz, das Medizinstudium aufzunehmen. Auf die Unterstützung ihres Paten Dr. Florian Felix durften die beiden Studentinnen immer zählen. Ausser eines Semesters in Genf absolvierte die angehende Ärztin das ganze Studium in Zürich. Schon während ihrer Ausbildung sammelte sie ihre ersten Erfahrungen mit kranken Menschen. 1918, zur Zeit des Generalstreiks, pflegte sie im Riedtlischulhaus in Zürich grippekranke Soldaten.
Helenes Pate: Dr. med. Florian Felix (1858-1931).
Eine Bildungsreise nach Wien unter der Leitung von Prof. Dr. Clermont, bei welchem sie später einen Grossteil ihrer Assistenzzeit verbrachte, bildete einen der Höhepunkte ihrer Studienzeit. Auch hier bahnten sich wieder Freundschaften fürs Leben an. Zur Zeit des Doktorates war Fräulein Doktor Helene Wyssling achtundzwanzig Jahre alt. Ein Alter, in dem viele andere junge Frauen bereits verheiratet waren und eine Familie gründeten. Aber Helenes Ausbildung war noch nicht fertig. Jetzt begann erst die Praxis an Spitälern als Assistentin, zuerst unter dem genannten Dr. Clermont, später unter Dr. Zollikofer in St. Gallen. Hier erkannte man bei der angehenden Ärztin die damals so häufige und schwer heilbare Krankheit.

LUNGENTUBERKULOSE

Es wurde Lungentuberkulose festgestellt. Hiess das nun, aufhören mit dem noch nicht ganz begonnenen Beruf? Wurde nun nichts daraus, anderen Menschen zu helfen, die Gesundheit zu behalten oder wiederherzustellen? Wenn man selber krank war, kuren musste? Reichte die eigene Kraft überhaupt? Reichte die seelische Kraft? Gefährdete man nicht die eigenen Patienten? Diese und noch viele andere Fragen mochten der jungen Frau in bangen Stunden durch den Kopf gegangen sein. Gelegenheit genug, diese Lebensfrage zu lösen, hatte sie ja während ihrer langen Zeit des Kurens in verschiedenen Heilstätten. Damals fast die einzige Möglichkeit, etwas gegen diese Volkskrankheit zu tun: heilende Höhenluft zu atmen. Die Antwort ergab sich während ihrer Kur in Davos-Clavadel. Ihre Natur und ihr Wille waren stärker als die Krankheit. Hier oben führte Fräulein Doktor Helen Wyssling das Kinderhaus der Zürcher Heilstätte. Sie musste ihren angestrebten und geliebten Beruf nicht aufgeben. Auch in Clavadel fanden sich wieder Freundschaften fürs Leben, unter andern mit Frau Bosshart-Forrer, der Frau des Dichters Jakob Bosshart. Ihre Arbeit wie auch ihre Freundschaften, ihr starker Wille und die positive Einstellung zum Leben halfen der jungen Frau endlich, die schwere Krankheit zu überwinden. Das heisst also, dass sie daran gehe konnte, sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen: die Eröffnung einer eigenen Praxis in Wädenswil.

EINE EIGENE PRAXIS

Diese Zeit, von der Eröffnung der Praxis im Hause der EKZ bis zum Aufgeben ihres Berufes in ihrem Elternhaus, haben die meisten Wädenswilerinnen noch am besten in Erinnerung. Achtunddreissig Jahre lang, von 1930/31 bis 1968/69, führte Helene als Frau eine ärztliche Praxis. Eine Allgemeinpraxis mit Spezialgebiet als Ärztin für Lungenkrankheiten. Da sie selbst ihren Patientinnen und Patienten vorschrieb, mit jährlichen Höhenkuren einen Rückfall der Tuberkulose zu vermeiden, verbrachte auch sie jedes Jahr einige Wochen in den Bergen. Mag sein, dass auch das persönliche Erleben, nicht nur das Wissen, sie dazu veranlasste, gesund zu essen, viel Gemüse und Obst. Jedenfalls erinnert sich ihr Neffe noch genau daran. Aber sie habe es überhaupt nicht zelebriert. Sie lebte es, Gemüse und Obst und Salat wuchsen im Garten, das hatte man zur Verfügung. Gerade ein Kind aus der Stadt nahm eine solche Fülle natürlich besonders wahr.
Neben dem Ordinationszimmer waren die Regale voll mit Flaschen und Fläschchen, Töpfen und Tiegeln. Alle Salben, Pillen und Tabletten, was man irgend konnte, stellte die Ärztin selber her, aus den Grundsubstanzen gemischt. Daneben verordnete sie manchen Heiltee und Sirup nach eigenem Rezept. Apropos Sirup: Die Kinder einer Patientenfamilie waren an Husten erkrankt. Ihr Neffe begleitete die Ärztin zum Krankenbesuch in die Mugeren. Den verordneten Hustensirup wollten die Kinder aber partout nicht einnehmen. Weil er bitter war oder sonstwie unangenehm zu schlucken? O, nein, sondern weil die Kinder ein Bilderbuch hatten, in welchem eine kleine Hexe einen Trank aus «Spinnegöifer, Flügepilz» und anderen grässlichen Ingredienzien mixte. Die kleine Hexe sah fast genauso aus wie die kleine Frau «Tokter», welche ja den Hustensirup auch selbst mixte. Da konnte man doch nie wissen! Offenbar haben die Kinder ihren Husten überwunden.

ORIGINELLER AUTOKAUF

Wie kam das Fräulein Doktor zu ihren Patienten in den Berg und sogar nach Schönenberg? Lange Zeit hatte sie ihre Hausbesuche mit dem Velo unternommen, bis sie sich kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs doch zu einem Autokauf entschloss. Bis es aber so weit war, gab es einige Auseinandersetzungen. Auch der Kauf selbst gestaltete sich nicht nur typisch Fräulein Doktor, sondern typisch Wyssling. Die Autohändler mussten Helene in die Mugeren chauffieren. Dort machte sie ihre Krankenbesuche. Anschliessend hiess es, den Mugerenrain Richtung Schlieregg unter die Räder nehmen. Natürlich schafften die meisten Autos dieses steile Stück nicht ohne siedendes Kühlwasser. Ein kleines Auto aber, ein Mercedes Cabriolet, hielt das ganze Stück durch. An diesem Auto sollte man die Ärztin noch manches Jahr erkennen. Es war nicht das einzig Moderne.
Das Mercedes-Cabriolet von Tante Leni, 1936.

DER RÖNTGENAPPARAT

Helene Wyssling wusste auch mit dem eigenen Röntgenapparat umzugehen, der natürlich für eine Lungenspezialistin unentbehrlich war. Ein riesengrosser Transformer stand in der Ecke des Behandlungszimmers, mit einem durchbrochenen Blech abgeschirmt. Von grossen Porzellan-Isolatoren am Transformator führten dicke Kupferdrähte zur Röntgenröhre. Diese waren mit Porzellankugeln isoliert und sahen aus wie «Riesenchrälleli» am Zählrahmen, die Neffen und Nichten zum Spielen verlockten. Da geriet man aber bei Tante Leni an die falsche Adresse. Verständlich, wenn man bedenkt, dass mit diesem Transformer die Haushaltspannung auf Hochspannung transformiert wurde, was gefährlich war.
Auch weitere damals noch neue Elektroapparate benutzte Dr. Wyssling in ihrer Praxis, vor allem zur Therapie. Einzelne waren eigens für sie hergestellt und in transportablen Kästchen versorgt. Sämtliche Laboruntersuchungen konnte sie selbst in der Praxis durchführen, musste also die Proben nicht in Grosslabors verschicken. Davon profitierte auch ihr Neffe Dr. Epprecht, weil Tante Leni ihm das alles lange vor seinem Universitätsstudium beibrachte. Sie beherrschte auch eine Therapie gegen die Lungentuberkulose, den sogenannten Pneumothorax. Dadurch, dass Luft zwischen Brustfell und Lungenfell gepumpt wurde, klebten die Tuberkulose-«Löcher» aneinander und konnten so abheilen. Man musste aber diese Therapie von Zeit zu Zeit wiederholen. Das nannte man «den Pneu nachfüllen». Natürlich brauchte sie auch dazu einen speziellen Apparat, der nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren funktionierte. Wenn die Tuberkulose-Bakterien weiterhin rascher resistent gegen Antibiotika werden als neue Medikamente entwickelt werden können, wird man wohl bald wieder auf diese Methode zurückgreifen müssen, und natürlich auch aufs Kuren. Vielleicht lässt sich daran ermessen, welche Pionierarbeit die Ärztin geleistet hat.
Trotz aller Modernität der Einrichtung und der Methoden betonte Frau Dr. Wyssling dies nie und benutzte es auch nicht als Werbung. Sie hatte es einfach, wendete es gekonnt an zum Nutzen ihrer Patientinnen und Patienten. Bescheiden im vollen Bewusstsein ihrer selbst und des Wertes ihrer Arbeit. Hatte sie aber einmal etwas angeordnet, so wachte sie auch über die genaue Durchführung der Therapie durch ihre Patienten: «So gaat das nöd. Für was händ Si de Tokter!»

RATGEBERIN DER FRAUEN

Neben der Allgemeinpraxis und den Lungenkrankheiten beriet sie die Frauen auch als Gynäkologin. Viele Frauen waren froh, von ihrer Ärztin antikonzeptionelle Beratung zu erhalten. Natürlich war das moralisch verpönt, aber eben notwendig. Es konnte doch nicht jedes oder alle zwei Jahre ein Kleines geben. Dieser sich selbst gestellten Aufgabe kam sie nach, obwohl Helene Kinder jeden Alters sehr gern um sich hatte. Eigene Kinder hatte sie keine, denn ausser dem sehr lange dauernden Studium hinderte sie auch ihre Tb am Schliessen einer Ehe und der Familiengründung. Vielleicht aber auch ihr Ziel: als Ärztin zu helfen.
Ihre Assistenzzeit unter mehreren Chirurgen rief bei ihr das Interesse für dieses Fach wach. Deshalb wohnte sie wenn immer möglich Operationen bei, denen sich ihre Patienten unterziehen mussten. Den Patientinnen gab es ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, die eigene Ärztin zur Seite zu haben, mit den Chirurgen und Assistenten und Schwestern festigte es die Beziehung.

SALBEN AUF DEM KOMPOST

Als Nachfolgerin ihres Paten war sie auch in der Spitalaufsicht tätig und benutzte so die Gelegenheit, Operationen rnitzuverfolgen. In dieser Funktion konnte es durchaus vorkommen, dass sie einen zu spät ausgestellten Austrittsbericht direkt beim Chefarzt anforderte. Davon weiss ein immer noch praktizierender Arzt schmunzelnd zu berichten. Was machte Doktor Wyssling nun mit den gebrauchten Utensilien? Nein, das hatte sie nicht auch noch selber, einen Sterilisierapparat. Aber eine entsprechende Trommel dazu, die sie jeweils selber füllte und ins Spital zum Sterilisieren brachte. Dabei holte sie gleich die letzten Sachen ab und pflegte den Kontakt zum Spitalpersonal. Alte Salben, Tabletten und Grundlagen dazu, welche nicht mehr zu verwenden waren, warf sie kurzerhand auf den Kompost und behauptete, gerade deswegen komme alles so wunderbar in ihrem Garten. Mit Operationen hatte sie übrigens auch Erfahrungen am eigenen Leib, das blieb ihr ebenfalls nicht erspart, doch auch diese Krankheiten meisterte sie mit ihrem Lebenswillen und Mut.

EINSATZ IN DER KRIEGSZEIT

Mut, Durchhaltevermögen und Durchsetzungskraft brauchte sie wohl auch während eines dunklen Kapitels unserer Geschichte. 1939 bis 1945 brauchte es im Aktivdienst nicht nur die Offiziere und Soldaten an den entsprechenden Stationierungen, sondern auch die Ärzte, die Arztmänner. Fräulein Doktor Wyssling aber führte ihre Praxis weiter. Ihre Praxis? O, nein, nicht nur. Dazu auch noch eine Abteilung des Zivilen Hilfsdienstes. Diesen Posten hätte sie als zartbesaitetes Fräulein kaum versehen können. Sie musste allen zeigen, dass es keinen Unterschied machte, wer die Aufsicht hatte und das Wesentliche organisierte. Sie musste sich als Frau, als Chef und als Arzt durchsetzen. Das hat sie gemäss übereinstimmenden Aussagen von Zeitgenossinnen auch gekonnt. Wiederum, ohne es herauszustreichen, sie war dazu einfach befähigt, es war ihre Gabe, die Aufgaben so zu meistern, wie es die Situation erforderte, sachlich, bestimmt, klar, offen, sicher. Sie brauchte nicht zu betonen, wer sie war, man nahm ihr ihre Funktion mit einer damals überraschenden Selbstverständlichkeit ab. Zu diesen Aufgaben und ihren eigenen Patienten kamen natürlich die Stellvertretungen für ihre einberufenen Kollegen. In dieser Zeit entstand gerade die neue Erwerbsersatzordnung für unselbständig Erwerbende. Sie sicherte den zu Hause gebliebenen Familien der Soldaten ein gewisses Minimum an Einkommen. Ärzte aber sind selbständig wenn sie eine eigene Praxis führen. Wie löste man das? Unser «Fröilein Tokter Oberscht», wie sie inzwischen dank ihres forschen Auftretens genannt wurde, löste dieses Problem auf nicht ganz alltägliche Weise: Wenn sie ihre Stellvertretungen machte, überwies sie die Hälfte des diesen Patienten betreffenden Honorars der Familie des normalerweise behandelnden Arztkollegen. Grossartig, nicht!
Wädenswil 1933, zur Zeit, da Helene Wyssling ihre Arzpraxis eröffnete.

Waren die Kollegen jeweils auf Urlaub zu Hause, zeigte sich Helenes Grosszügigkeit noch einmal. Sie war die Einzige, die während des Krieges noch Benzin für ihr Auto erhielt, da sie als Ärztin auf ein Fahrzeug angewiesen war. Natürlich reichte dieses Benzin lange nicht für all die Fahrten, die sie unternehmen musste. Machte nichts, Fräulein Doktor wusste sich zu helfen! Fast hatte man das Gefühl, sie mache es mit einem Schmunzeln. Wundbenzin war nicht rationiert. Also kaufte sie kurzerhand alles Wundbenzin auf, das jeweils in der Drogerie Meyer zu haben war, füllte es in ihre entsprechenden Glasfläschchen und von da in den Tank. Das Auto meisterte nicht nur die Mugeren, sondern verarbeitete auch seinen neuen Kraftstoff mit Tuckern und Klopfen. Die Autos der in Urlaub anwesenden Kollegen waren nicht zu brauchen, es gab kein Benzin dafür. Sie waren sogar aufgebockt. Dass sie wirklich niemand, auch nicht heimlich, benutzte? Nein, um die Pneus zu schonen. Wie also kamen die Kollegen in den Berg und nach Schönenberg hinauf? Fräulein Wyssling holte jeden mit ihrem Auto ab, und tuckernd und klopfend ging die Fahrt in die Höhe, wo jeder seine eigenen Patienten besuchte, um dann anschliessend wieder mit der Ärztin ins Dorf zurück zu fahren. Fast unvorstellbar. Nichts von Konkurrenzdenken und «EllbögeIn», sondern Hilfe und Zusammenarbeit. Vielleicht ist es das, was man heute wieder anzustreben versucht: Nachbarschaftshilfe, Teamarbeit in Schule und Beruf.
Neben ihrer Sachlichkeit und Bestimmtheit war dies sicher einer der wesentlichen Züge dieser besonderen Frau: Sie half, gab Unterstützung zur Selbsthilfe, war überall da, wo man sie brauchte oder wo sie sah, dass man so nicht weiterkam. Als der Krieg begann, wirkte Fräulein Wyssling bereits sechs Jahre als Präsidentin des Frauenvereins Wädenswil zur Förderung weiblicher Handarbeit. Die Frauen dieses Vereins nähten Krankenhemden und Pyjamas, für die Soldatenfürsorge verfertigten sie Hemden, Socken und Handschuhe. Im Gemeindeauftrag wurden 357 Weihnachtspäckli verpackt für Kinder von arbeitslosen Einwohnern. Es liessen sich noch viele weitere Aufgaben nennen, welche unsere Ärztin, unterstützt durch liebe Freundinnen, in die Wege leiten und durchführen musste.

IM DIENST DER KINDER

Ihre grosse und fast in ihr verborgene Liebe für Kinder äusserte sich natürlich nicht nur im Gewährenlassen in ihrer Arztpraxis. Immer wieder half die Ärztin persönlich und durch den Frauenverein und andere Gremien ganz direkt diesen hilflosesten aller Menschen. Gegen Ende des Krieges rief der Frauenverein zu einer Aktion auf, die ausländische Kinder die Gräuel des Krieges etwas vergessen lassen sollte: «Nehmt Kinder auf!» Der Ruf wurde gehört, sechzig Kinder fanden in Wädenswiler Familien Aufnahme. Bereits vor dem Krieg aber, 1934, schon unter der Leitung von unserem «Fröilein Tokter Oberscht», half der Frauenverein bei der Neuausstattung des 1932 durch einen Brand stark zu Schaden gekommenen Kinderheims Bühl. Kaum zwei Jahre später wurden sehr gut besuchte Mütterabende eingeführt. Spiel und Beschäftigung des Kleinkindes, Singen und Erzählen mit dem Kleinkind, die Freizeit des Schulkindes, zum Beispiel. Auch den Kindern zugute kamen die hauswirtschaftlichen Kurse für junge Mädchen und Industriearbeiterinnen. Frau Doktor Wyssling war zuständig für die Gesundheitslehre und betreute meist die jungen Mädchen auch ärztlich. Besondere Freude machte ihr dabei die Teilnahme an deren Schlussfestchen.
Sogar Kurse für Säuglingspflege erteilte sie zusammen mit einer Hebamme. Auf diese Weise konnte sie, ohne Mutter zu sein, ihre mütterlichen Seiten zum Nutzen so vieler Kleiner und Kleinster immer auch ein Stück weit ausleben. Natürlich auch während der langen Jahre, da sie als Nachfolgerin ihres Paten Dr. Felix Krippenärztin war. Hierhin wanderte auch oft ihre «dank ihres Komposts» so reichliche Gartenernte. Über manches Jahr besuchte sie wöchentlich die Kinderkrippe und führte alle nötigen Impfungen durch. So, und durch die vielen Mütter, die sie in ihren verschiedenen Funktionen betreute, war sie sozusagen auch unausgesprochen Kinderärztin für viele Familien. Sie bedauerte es deshalb fast ein bisschen, als Dr. Howald als Schul- und Kinderarzt nach Wädenswil geholt wurde. Verständlich. Aber mit all den weiteren Verpflichtungen, die sie neben der Praxis noch hatte − unter anderem war sie Abgeordnete der Tuberkulosekommission und in dieser Funktion in den Vorstand des Fürsorgevereins Wädenswil gewählt, auch Präsidentin der Hauspflege, Fürsorgeärztin der Bezirksfürsorgestelle für Tuberkulose usw. − war sie wohl immer noch genug ausgelastet.

ERHOLUNG IM FREIEN

Vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten ist ja für die anderen äusserst praktisch. Ist es denn aber auch für die Ärztin gut? Nein, «workaholic» war sie nicht. Alle hatten damals ein anderes Verständnis von Arbeit, Arbeitszeit, Einsatz und Hilfe für die Nachbarn. Trotzdem schaute Fräulein Doktor auf ihre Gesundheit. Wie schon erwähnt, fuhr sie jährlich zur Erholung in die Berge, um einen Tuberkuloserückfall zu vermeiden. Selten fuhr sie aber in ihrem Auto irgendwohin, ohne einige ihrer Nichten und Neffen mitsamt deren Freunden und Kameradinnen einzuladen. Wenn die Familie in den Ferien weilte, wurde nicht einfach gefaulenzt, sondern «Tante Leni» hielt die Jungmannschaft zu sportlicher Tätigkeit an, sei dies Schwimmen, Laufen, Wandern oder mangels Ball mit Steinen Weitwerfen. So erholte auch sie sich, genoss das wilde junge Leben um sich.
Oft kamen mit ihren Neffen und Nichten zusammen auch die Kinder ihrer Haushalthilfen zum Genuss eines Ausfluges. Man müsste denken, dies sei noch einmal anstrengend und brauche Energie Im Gegenteil, so konnte Tante Leni auftanken, ihr war es Genuss, und den jungen Reisegefährten noch mehr, denn ein solche Ausflug war etwas so Besonderes, dass sie sich noch heute dessen mit den lebendigste Schilderungen entsinnen.
Ausser mit den Kindern erholte sie sie in ihren regelmässig stattfindenden Gesprächsrunden mit befreundeten Ärzten und Ärztinnen. Neben dem Besprechen schwieriger «Fälle», am wirklich runden Tisch, der jetzt übrigens bei einer ihrer Grossnichten steht, nahm dieses Grüppchen von Freunde und Freundinnen auch gemeinsam an Fortbildungen teil, sodass sie laufend auf der neuesten Stand der therapeutischen Möglichkeiten und des Wissens waren. Wenn sie aber alle ihre Familien zu einem Ausflug, zum Beispiel auf den Etzel, mitnahmen, kam auch unser Fräulein Doktor nicht alIeine! Sie holte einige aus ihrer Jungmannschaft dazu ab, packte alle ins Auto, und eine grosse, fröhliche Freundesschar genoss den freien Tag. Die Jungen vergnügten sich bei Tante Leni natürlich auch in den Ferien. Platz und Liebe genug hatte es immer für mehrere, und langweilig wurde ihnen dort auch nicht.

Tante Leni sorgt für sportliche Ertüchtigung.

TANTE LENI ALS ERZIEHERIN

Natürlich halfen die Kinder der Patin und Tante auch immer bei all den anfallenden Kleinarbeiten. Obst und Gemüse in die Krippe bringen, einkaufen, Rechnungen in die Haushalte der Patienten tragen und anderes mehr. Beim Einkaufen mussten die Kinder darauf achten, dass die richtigen Sachen an den richtigen Orten geholt wurden. «Brot ist nicht einfach Brot. Das holt ihr hier, jenes nachher beim anderen Beck. Würste holt man da und Braten dort usw.» So hiess es. Als ihr Neffe einmal anmerkte, dass er die Couverts mit der Anschrift «Hier» (Wädenswil) gar nicht gerne zu den Adressaten bringe, bekam er zur Antwort: «Das müender jetz halt.» Dafür verteidigte sie ihn auch gegen ungerechtfertigte Angriffe. Überhaupt hatte Tante Leni Kinder nicht nur gern, sondern nahm sie auch ernst. Ernst, wie man damals sonst nur Erwachsene ernst nahm. Ihrem Alter entsprechend zwar, aber wirklich ernst, für voll genommen.
Nach dem Tode des Dichters Bosshart lebte seine Witwe einige Jahre in Helenes Haus. Die Freundschaft, angebahnt in Clavadel in Helenes grosser Entscheidungszeit, erwies sich als dauerhaft. Oder jedenfalls die Verpflichtung, die Helene für sich daraus ableitete. Trotz vieler Diskussionen und Unstimmigkeiten, vorab wegen der Kinder, die immer im und ums Haus herum schwirrten, blieb Helene ihrer früheren Freundin bis zu deren Tod treu und kümmerte sich um sie. Als nun Tante Lenis Neffe Frau Bosshart gegenüber offenbar zu wenig Respekt zeigte, wies sie ihn zurecht und bekam zur Antwort: «Chind sind nöd derzue daa zum alti Lüüt zunderhalte!» Das kam der alten Dame nun gehörig in den falschen Hals, sodass sie zur Erziehung mit einem Internat drohte, an welchem einer ihrer Pflegesöhne unterrichtete. Der würde ihm dann dereinst schon mit Kopfnüssen solche Flausen austreiben. Als Tante Leni dazukam und die Geschichte erfuhr, nahm sie aber ihren Neffen und seine Zwillingsschwester vor der zornigen Frau in Schutz. Das war es, was die Kinder, nicht nur Neffen und Nichten, an Tante Leni so schätzten und gern hatten. Sie wurden nicht in die Arme genommen, aber sie fühlten sich bei ihr und um sie geborgen und sicher aufgehoben. Sie konnten sich unbedingt auf Tante Leni verlassen.
 

FAMILIENZUSAMMENKÜNFTE

Das grosse Haus stand nicht nur Freunden und den Kindern ihrer Schwester und ihres verstorbenen Bruders offen, sondern Helene genoss es auch, die Tradition der jährlichen Familienzusammenkünfte fortzuführen. Mit drei Schwestern, deren Ehegatten, sechzehn Nichten und Neffen und immer auch ein paar Freundinnen waren Haus und Garten bald voll Leben. Es freute sie, allen ihren Lieben das Elternhaus immer wieder zur Verfügung zu stellen und an diesen Tagen wieder einmal unbeschwert mit allen plaudern zu können. Und den Kindern gefiel es, sich in diesem wirklich grossen Garten verteilen zu können und ihren Plaudereien oder Spielen nachzugehen, wo sie sicher waren, dass sie nicht nur geduldet, sondern willkommen waren. Diese Neffen und Nichten waren ihr bis an ihr Lebensende fast die Allerliebsten.
Familienzusammenkunft bei Tante Leni (links aussen).

So ernannte Tante Helene jenen Neffen, der in ihren Fussstapfen wandelte, denjenigen, mit welchem sie nach seiner Zwillingsschwester, ihrem Patenkind, am meisten auch schriftlich korrespondiert hatte, zu ihrem Testamentsvollstrecker. Demgemäss sollte sämtlicher Hausrat an ihre dann noch dreizehn Neffen und Nichten gehen. Da mussten die Schwestern der Helene natürlich ihre Kinder bitten, für sich diesen Stuhl oder jenen Milchkrug aus dem Nachlass zu wünschen. Es war ja nicht nur Tante Lenis Hausrat in diesem Haus, sondern vor allem auch derjenige der Eltern Wyssling, so dass die Schwestern Helenes, trotz häufigen Ferien- und Besuchsaufenthalten der Nichten und Neffen im Chalet, doch die grössere Beziehung zu den gewohnten Gegenständen ihres Elternhauses hatten. Es ging ja auch in der Verteilung nicht um wertvolle Einzelstücke, sondern um Dinge, welche vor allem bei den Schwestern Gefühle und Erinnerungen an die Eltern und die eigene Jugendzeit wachriefen.

DER GARTEN

Den Garten, in dem die Kinder sich so gerne tummelten, und aus welchem sie eben mit viel Obst und Gemüse versorgt wurden, pflegte Fräulein Doktor Wyssling mit viel Liebe. Auch das war ihr, neben Ferien und Zusammenkünften mit der Familie, Ausflügen und Unterhaltungen mit Freunden eine Erholung von all ihren Arbeits-, und wie wir gesehen haben, auch Gesundheitsstrapazen. Neben Beeren, Obst und Gemüse bestand auch ein grosser Blumengarten, der aber nicht gepflegt aussah, sondern so, als ob sie ihn sich selbst überliesse. Nicht nur für Patienten und Kinder hatte Tante Leni ein Gspüüri, sondern auch die Blumen wurden möglichst so belassen, wie sie sich selbst am besten entfalten konnten. Aber niemand musste ihr etwas über ihren Kompost sagen. Sie war sich ganz sicher, dass alles nur deswegen so gut gedieh, weil in ihrer Erde eben die Salben- und Tablettenreste mitwirkten, welche für die Menschen nicht mehr brauchbar waren. Unter Kompost muss man sich kein Gitter vorstellen, wie es in manchem Hausgarten steht. Ihr Kompost hatte die Fläche eines mittleren Wohnzimmers, kein Dünger kam an die Pflanzen, nur ihr Spezialkornpost.
Zum Einzug in sein Haus bekam ihr Neffe eine Ladewagen grosse Fracht eben dieses Kompostes, was sicher ein grosser Beweis ihrer Wertschätzung war. Nur konnte er die Erfahrung seiner Tante nicht ganz teilen, seine Pflanzen darbten in der Wundererde, sodass er glaubte, Tante Lenis Garten sei eben trotz all der zugefügten Salben und Wässerchen und Chemikalien so wunderbar gediehen. Heute würde man sagen, sie habe den «grünen Daumen. gehabt.
Ein weiteres Geschenk fürs neue Haus allerdings erfreut sich noch heute bester Gesundheit und liefert, das weiss ich aus eigener Erfahrung, denn ich habe davon genossen, immer noch wunderbare Früchte: ein Nussbaum. Natürlich nicht gekauft, sondern aus Tante Lenis «Baumkindergarten», gezogen in dieser «fruchtbaren», eigenen Erde. Diesem Kindergarten widmete Fräulein Wyssling ihre ganz besondere Aufmerksamkeit. Die selbst gezogenen Bäume liebte sie fast noch mehr als ihr Obst und Gemüse, dort verbrachte sie gerne ein paar freie Minuten. Nun, der Nussbaum wurde von dem damit beauftragten Arbeiter nicht ganz fachgerecht umgepflanzt. Möglichst nahe beim Stämmchen hatte er mit der Grabschaufel das Bäumchen von seinem Boden getrennt, gerade hinunter, ohne Rücksicht auf einen Wurzel ballen. Beim Wiedereingraben in der Au steckte er das Stämmchen in ein viel zu wenig tiefes Loch und liess erst noch die einzige ihm verbliebene Wurzel senkrecht in die Luft schauen. Der Baum überwand es und ist so kräftig, als ob er bei der Verpflanzung die grösste Sorgfalt erfahren hätte. Vielleicht hatte Tante Leni ihren grünen Daumen weitergegeben.

HUNDE

Neben den Menschen und Pflanzen begleiteten unser Fräulein Doktor während vieler Jahre ihres Lebens Hunde. Grosse Hunde, Berner Sennenhunde, Riesenschnauzer. Wegen einem dieser Hunde hatte sie lange Zeit ein nicht gerade freundschaftliches Verhältnis zum damaligen Veterinär. Denn er behauptete, ihr Hund hätte einen anderen angefallen und sei deswegen eine Gefahr für Mensch und Tier. Nun, offenbar fiel nichts weiter vor, falls der Vorwurf wegen dieses einen Males überhaupt zutraf. Der jeweilige Hund hatte während Fräulein Doktor Wysslings Sprechstunden seinen Platz halb vor der Tür zum Behandlungszimmer. Jede Patientin und jeder Patient musste also, mindestens beim ersten Besuch, all seinen Mut zusammennehmen, um im Halbdunkel des Ganges fast über dieses riesengrosse Tier hinwegzusteigen. Manch einer mag vor der Behandlung an Cerberus gedacht haben. Oder kennen Sie die Furcht vor einer unbekannten Diagnose oder Behandlung nicht?

Helene Wysslings «Barry».

LEBENDIGE ERINNERUNGEN

In jenem Jahr, als Fräulein Doktor Wyssling ihre Praxis aufgab und an mehreren Herzinfarkten erkrankte und daran auch starb, habe ich erst erfahren, dass es die Krankheit, mit welcher die Ärztin so intensiv in ihrer Praxis und darüber hinaus zu tun gehabt hat, gibt: die Lungentuberkulose. Dieser Krankheit galten Fräulein Wysslings letzte Anordnungen. Noch auf dem Totenbett sorgte sie dafür, dass alle Röntgenbilder ihrer Patienten an den richtigen Ort geschickt wurden.
Im Chalet wohnen immer noch Wyssling, mit welchen ich durch einen Urgrossneffen Helenes während der vergangenen drei Jahre lockeren Kontakt pflegte.
Nach diesen Zeilen hat man wieder das Gefühl, Helene Wyssling werde doch glorifiziert. Aber kann es denn sein, wenn so unterschiedliche Leute, Frauen und Männer, aus ihren Erinnerungen berichten? Es ist unwahrscheinlich, wie übereinstimmend diese Menschen das Leben dieser Frau sehen, ohne dass sie wussten, wer was schon gesagt hatte. Dass ihre Pelzjacke, die sie im Winter zu Patientenbesuchen trug, schon ein bisschen abgeschabt war, besonders an den Armstossen, wird das Gesamtbild nur abrunden, nicht ändern. Sie stellte sich eben selbst nicht in den Vordergrund und legte auf Kleidung keinen besonderen Wert. Offenbar mochte sie die Jacke genauso, wie sie ihre Tracht mochte. Ja, es gehörte sicher zu ihrem bestimmten Auftreten, dass man sich nicht nur sicher aufgehoben fühlte bei ihr, sondern in jeder Beziehung auch wusste, woran man war. Über welche Themen sie trotz aller Offenheit und Modernität in der Erziehung und Praxis nicht zu diskutieren wünschte, wusste man bei regelmässigem Kontakt bald einmal, und sonst gab sie es einem schon zu verstehen. So wussten eben auch ihre Haushalthilfen genau, was opportun war. Aber ein Mensch, der aus ganzem Herzen seinen Mitmenschen, Freunden, Verwandten und auch Fremden so viel gab, hatte nicht nur das Recht, in Bezug auf sich selbst ebenso klar und bestimmt zu sein, sondern sogar die Pflicht dazu. Fräulein Tokter Oberscht, Tante Leni, unsere liebe Freundin Helene.

DANK

Mein Dank gilt in allererster Linie Herrn und Frau Dr. Epprecht, weiche mich in einigen vergnüglichen Stunden mit Erzählen, Fotos und Briefen in Fräulein Wysslings Zeit zurückversetzt haben. Viel Ergänzendes habe ich von Frau Isabel Schaltenbrand erfahren, welche lange Jahre eine liebe Freundin Helenes war. Aber auch von Frauen aus dem Dorf und dem Berg − unter anderem von Frau E. Schärer − wurde mir manches berichtet, was sich mit dem Hauptbild fast vollständig deckt. In den Jahrbüchern finden sich weitere Spuren und natürlich in einigen Festschriften. Trotzdem wird manches fehlen, anderes von Menschen, mit welchen ich noch nicht geredet habe, anders gesehen werden.
 




Marlies Bayer-Ciprian