Erlebinis Bergell

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1991 von Peter Henzi

Der Weg

Der Weg ins Bergell ist auch mit der heutigen Motorisierung immer noch lang, und das ist gut so. Das Bergell bleibt dadurch stets etwas Besonderes. Wer den Leitspruch kennt, wonach der Weg zum Ziel mindestens so wichtig ist wie das Ziel selbst, der weiss, dass das Bergell lange vor dem Malojapass beginnt. Es ruft sich in Erinnerung erstmals schon beim Entschluss zur Reise; es bemächtigt sich unseres Bewusstseins mit freudiger Erwartung spätestens bei der Abfahrt Richtung Bergell.
Wer sich die Musse zu einem Zwischenhalt nimmt, dem tritt im Kunstmuseum in Chur erstmals augenfällig das Bergell und dessen gewaltige Landschaft in den Bildern seiner grossen Künstler entgegen. Mit Händen zu greifen ist das Bergell dann in Bivio, der Weggabel zum historischen Römerpass Septimer. Jahrhunderte alt sind die Weiderechte der Bergeller auf den grünen Matten, die sich dem alten Passweg entlang ziehen, überragt von der prächtigen Roccabella. Erstmals klingen italienische Wortfetzen ans Ohr, erscheinen Bergellernamen an den Häusern, wird die Geschichte von den sieben Räubern am Septimerpass erzählt, deren abgehauene Köpfe, in Stein verewigt, heute noch in Soglio neben dem Palazzo Salis besichtigt werden können. Den Verlokkungen des Engadins ist nicht leicht zu widerstehen, sie entschwinden jedoch mit dem atemberaubenden Geländeabsturz am Malojapass, mit dem Blick ins Tal der Maira.

Angekommen

Als erstes der Blick auf die gewaltigen und doch vertrauten Felsriesen, vor allem auf den Badile. Wie oft sind wir als bescheidene Berggänger schon vor der Sciorahütte gesessen und haben mit dem Feldstecher die weissen, roten, blauen Punkte verfolgt, wie sie in der fast senkrecht scheinenden Wand emporkrochen; ein Gefühlsgemisch aus Bewunderung und heimlichem Grausen hat uns dabei stets begleitet. – Dann die grünen Matten im Talgrund von Löbbia, die den Hängen entlang im lichten Wald sich hinziehenden Wanderwege, auf denen wir gegangen; die Häusergruppen mit ihren Menschen, alles ist wieder da.

Südliches Licht

Das Licht im Bergell, das Leuchten der Farben von Himmel, Wolken, Talgrund im Grün des Sommers, im Gelb des Herbstes oder im zarten Frühlingskleid ist anders, als wir es am Zürichsee gewohnt sind. Es strahlt ein südliches Licht, wärmer, stärker, heller, verheissungsvoller. Was Wunder, dass Maleraugen immer wieder dieses Spiel der Sonne auf die Leinwand gebannt, zu dauerndem Leuchten gebracht haben. Aus dem Tale erwuchsen die drei grossen Giacometti, Giovanni, Augusto und Alberto, alle aus Stampa. Berühmte Bilder Segantinis, des aus Italien zugewanderten Malers, sind im Bergell entstanden, zum Beispiel das Monumentalbild «Werden» mit der Scioragruppe im Hintergrund, das im Segantinimuseum St. Moritz zu betrachten ist. Auch Varlin, der bedeutende Zürcher Maler, hat seinen Wohnsitz nach Bondo verlegt und hat bis zu seinem Tode dort gelebt. Sein grosses Bild im Talmuseum Ciäsa Granda erschliesst dem Besucher erst nach mehrmaliger Betrachtung die durch die fast gewalttätige Verzerrung hindurch schimmernden, zutiefst menschlichen Züge der abgebildeten Talbewohner.
Eiliger Autofahrer, verweile einen Augenblick lang im Churer Kunstmuseum und schaue dieses auf Bilder gebannte Leuchten! Du wirst dem Bergell mit anderen Augen entgegentreten. Parke Dein Gefährt vor Antritt der Heimfahrt bei der Kirche von Borgonovo und lasse Auge in Auge mit den Grabstätten der drei grossen Künstler des Bergells, Augusto, Giovanni und Alberto Giacometti, einen Sonnenuntergang auf Dich wirken. Du wirst immer wieder durch dieses ins Herz gegrabene Lichterlebnis ins Bergell zurückgerufen werden.

Nossa Donna

Es ist trübe, Sonntag, und Nebel hängt in der Luft. Schon oft haben wir das Wegzeichen «Nossa Donna» in Bondo gesehen, ohne von dort aus bergan zu steigen. Heute ist die Gelegenheit. Wir wandern durch feuchten Wald hinauf, passieren eindrückliche Granitflanken. Eingebettet in die imposante Festungsanlage Castromuro, die das obere und das untere Tal an seiner engsten Stelle trennte und beschützte, liegt die Kirche Nossa Donna, einstmals die Hauptkirche des ganzen Tales.
Kein Mensch ist zu sehen. Wir treten ein, die Türe fällt mit einem schweren Ton, der lange noch im Raum stehen bleibt, ins Schloss. Welche Akustik! Ein «Hallo» in den Raum geworfen, widerhallt in langem «Oooh». Es ist zu schön, um nicht weiterzufahren. Das «Dona nobis pacem» kommt unvermittelt aus der Kehle und wird schliesslich als ehelicher Kanon intoniert, so weit es eben geht. Unerwartet ist der Klangumfang, und leise erwacht etwas Stolz über die eigenen Stimmen; und nochmals «Dona nobis pacem», dann treten wir lachend ins Freie. Einige Schritte weiter begegnen wir einem deutschen Ehepaar, das die Kirche besichtigen möchte. «Ja, sie ist offen», antworten wir. «Aber es scheint jetzt eine Messe stattzufinden, wir haben Gesang gehört», wird uns entgegnet. «Ja, eine Messe, gewiss. Sie warten wohl besser, bis sie vorbei ist!»

Begegnungen

Wer zu Unzeiten, das heisst wenn die Normaltouristen abgereist sind, im Bergell weilt, hat grössere Chancen, den Menschen des Tales zu begegnen. Wenn auf höheren Lagen schon der Schnee eingezogen ist, sind zwar die Hütten und viele Talunterkünfte, Museen und andere Sehenswürdigkeiten geschlossen, die Herzen sind jedoch offener für menschliche Kontakte und Gespräche.

Verweile doch

Der Augenblick des Abschieds aus dem Tal ist immer etwas ganz Besonderes. Nirgends lässt sich der Ausklang, der Aufbruch besser hinausschieben als in Dinos Grotto zwischen Bondo und Promontogno. Unter Kastanienbäumen bei tief stehender, aber noch angenehm wärmender Sonne, wenn die Bocciakugeln hell aufeinanderstossen und Erfolg oder Misserfolg der südlichen Spieler temperamentvoll mit Ausrufen begleitet wird, wenn jung und alt sich sitzend, stehend, promenierend trifft. Wenn ein Formaggio, ein Salametti von Dino in seiner unnachahmlichen Mischung von Gemütlichkeit und Beflissenheit aus dunklem Keller hervorgeholt und aufgetischt wird. Wenn das Bergerlebnis noch greifbar nahe die Seele in Schwingung hält, dann möchte man, dass die Zeit nicht entfliehe. Man denkt unwillkürlich an die berühmte Stelle in Goethes Faust: «Augenblick, verweile doch, du bist so schön.»
Ciao Dino und alle anderen, wir kommen wieder.




Peter Henzi