In Wädenswil nimmt man auf Minderheiten Rücksicht

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1995 von Bernhard Rom

Nach den Wahlen von 1994 hat sich das Parlament stark verändert. Viele neue Gesichter und auch neue Gruppierungen gaben der Volksvertretung ein neues Antlitz. Es hat eine Polarisierung und Aufsplitterung stattgefunden.
Um so mehr freut es mich, dass ich als Vertreter einer kleinen Partei die Leitung der Sitzungen für ein Jahr übernehmen durfte. Es ist auch alles andere als selbstverständlich, dass der Rat einen Angehörigen einer religiösen Minderheit zum «höchsten Wädenswiler» erkoren hat. Das Wädenswiler Parlament hat mit meiner Wahl bewiesen, dass es gewillt ist, auf Minderheiten Rücksicht zu nehmen. Gerade diese Rücksichtnahme ist das Besondere, das Einmalige an unserem Staat Schweiz. Es gibt viele Menschen in dieser Welt, die uns darum beneiden. Es sind Menschen, denen es schlechter geht als uns und die in politischen Unrechtssystemen leben müssen. Wohin es führt, wenn die Schwachen ins Abseits gedrängt werden, zeigt ein Blick auf die Geschichte Europas und auf die gegenwärtigen Zustände im Balkan.
10. Dezember 1994: Tag der Menschenrechte. Auf dem Schwanenplatz manifestieren rund 80 Wädenswilerinnen und Wädenswiler ihre Soldarität mit jenen Menschen, an denen Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Von links nach rechts: Gemeinderatspräsident Dr. Bernhard Rom, Pfarrer Konrad Müller, Pfarrer Hans Suter, dahinter Pfarrer Martin Kopp.

Allerdings war die Schweiz nicht immer ein Vorbild für den Umgang mit Minderheiten. So erfolgte die Gleichberechtigung der Schweizerjuden erst gegen Ende letzten Jahrhunderts und war (vielleicht typisch schweizerisch) ein langwieriger und beschwerlicher Prozess. Die Schweiz war einer der letzten Staaten Europas, die den Juden die Gleichberechtigung gewährten. Die Bundesverfassung von 1848 gilt zwar allgemein als freiheitlich, als eigentlicher Beginn der modernen Demokratie in der Schweiz. Für die Juden allerdings war sie eine herbe Enttäuschung: die Niederlassungsfreiheit (Artikel 41 BV) und die Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 48 BV) waren auf Schweizerbürger christlicher Konfessionen beschränkt. Er die Partialrevision der Bundesverfassung vom Januar 1866 brachte dann die für uns Juden wichtige Änderung dieser beiden genannten Artikel: Niederlassungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz wurde in einer Volksabstimmung vorbehaltlos allen Schweizern, also auch den Juden, zugebilligt. Der Volksentscheid war allerdings knapp mit 170 032 Ja gegen 149 401 Nein bei nur 12 ½ annehmenden Kantonen. Vorausgegangen waren Interventionen von Frankreich, den USA sowie den Niederlanden, die den Schweizer Behörden mit Handelsrestriktionen drohten, falls den Juden weiterhin die Gleichberechtigung vorenthalten würde. Wenn diese Revision auch einen grossen Fortschritt darstellte und allgemein als Einführung der Emanzipation gilt, war damit die Gleichstellung der Juden noch lange nicht vollzogen, den auf Kultusfreiheit wurde bewusst verzichtet. Diese kam erst mit der Totalrevision von 1874 in die Verfassung; wiederum erst nach massivem ausländischem Druck.
Am Ratsanlass durfte ich die Wädenswiler Politiker durch das jüdische Zürich führen und mit massgebenden Persönlichkeiten dieser Gemeinschaft zusammenbringen. Echtes gegenseitiges Interesse und Offenheit über alle Partei- und Religionsgrenzen hinweg gaben dem Tag ein besonderes Gepräge. Möge diese Geisteshaltung der Offenheit und der Toleranz, die ich an diesem Tage und während meiner Amtszeit allenthalben erleben durfte, immer in unserem Wädenswil Bestand haben.




Dr. Bernhard Rom
Gemeinderatspräsident 1994/95