Wandel und Konstanz in Wädenswil

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1984 von Peter Ziegler

Wie nie zuvor ist alles auf dieser WeIt in Bewegung geraten. Überträgt man die Geschichte der Menschheit auf das Zeitmass einer Stunde, so hätte die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus erst vor 15 Sekunden stattgefunden. Vor 6 Sekunden hätte die industrielle Revolution ihren Anfang genommen. Und vor 3½ Sekunden wären die ersten Autos durch die noch schmalen Strassen gefahren. Das war in den 1880er Jahren. Knapp hundert Jahre danach verkehren sie zu Millionen auf breiten, richtungsgetrennten Autobahnen. Knapp hundert Jahre danach musste sich der Gemeinderat für Geschwindigkeitsbegrenzungen und für verkehrsberuhigende Massnahmen in den verschiedenen Quartieren einsetzen. Welt im Wandel! Wädenswil im Wandel!
Wädenswil um 1793. Ansicht von Heinrich Brupbacher.

Vor hundert Jahren − 1880 − zählte Wädenswil 6209 Einwohner. Am 1. Januar 1984 waren es − vorwiegend durch Zuzug − schon 19‘047 Personen. Gewandelt hat sich auch die Struktur der Bevölkerung, gewandelt haben sich ihre Lebens-, Ess- und Konsumgewohnheiten. Gewandelt hat sich die Finanzlage der Gemeinde, gewandelt haben sich die Ansprüche an das Gemeinwesen. Das 1821 erneuerte Gemeindewirtshaus «Sonne» warf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so viel Pachtzins ab, dass dieser den grössten Einnahmeposten in der Gemeinderechnung ausmachte. Und heute zerbricht man sich den Kopf, wie man das renovationsbedürftige Haus ohne Wirtschaftsbetrieb nutzen könnte.
Bis 1856 wurden in Wädenswil nicht jedes Jahr Gemeindesteuern erhoben, sondern nur dann, wenn es ausserordentliche Kosten zu decken galt. Und auch dann wurde nur das Vermögen besteuert, um die ärmeren Volksschichten zu schonen. Und heute? Diskussionen um Steuerfuss, Budget, Rechnung, Finanzplan, Schuldabbau. Abgesehen davon, dass die Baukosten früher bedeutend geringer waren als heute, konnte die Gemeinde auch deshalb billig bauen, weil sie die Bürger zu Frondienstleistungen heranzog. Wasser- und Gasversorgung, die Strassenbeleuchtung, ja selbst das Waisenhaus und anfänglich auch die Sekundarschule wurden auf der Grundlage von Aktiengesellschaften betrieben. Und verschiedene gemeinnützige Gesellschaften nahmen der Gemeinde einen Teil der Soziallasten ab.
Wädenswil im Wandel! Mancher Wandel wurde herbeigeführt, weil der Mensch anspruchsvoller, bequemer, perfekter geworden war: Die Dorfstrasse sei bei schlechtem Wetter kaum passierbar, wurde 1811 in Wädenswil geklagt. Denn die Dachkennel reichten bis in die Fahrbahnmitte, und mancher Einwohner kam vom Regen in die Traufe. Die Wädenswiler Strassen seien noch vielerorts für Rösslifuhrwerke beschaffen und genügten den Anforderungen des modernen Verkehrs in keiner Weise. So rechtfertigte die Exekutive um 1960 neue Strassen bauten. Und erinnern Sie sich noch an die Diskussionen um den Bau der Holzmoosrütistrasse oder die Gemeinderatsdebatten um das Teerbudget, die vor einigen Jahren geführt worden sind und sich auch um die Frage drehten, ob wirklich jeder Fuss- und Wanderweg geteert werden müsse? Auch dies ein Zeichen für Wädenswil im Wandel!
Der Wandel ist auch am Dorfbild nicht spurlos vorübergegangen. Zwischen 1880 und 1982 stieg die Zahl der Gebäude vor 764 auf 3284, also auf mehr als das Vierfache. Und immer war man mehrheitlich stolz auf den Wandel. Etwa auf Klein-Paris, wie Wädenswil um 1900 genannt wurde, als es den kleindörflichen Rahmen zu sprengen und mit der Stadt Zürich zu wetteifern begann. Und wie hiess es anlässlich der Einweihung der Grossüberbauung in der Gulmenmatt zu Beginn der 1960er Jahre im «Anzeiger»? Wädenswil habe jetzt auch zwei achtgeschossige Hochhäuser. Man stehe am Beginn einer neuen Bauepoche. Der Ausbau der Seestrasse auf vier Spuren, die Verschiebung des Südostbahn-Trasses ins äussere Luftquartier, die Verlegung der Zugerstrasse hätten weitere Etappen in dieser Entwicklung bedeuten können.
Siedlung Gulmenmatt mit den beiden ersten Hochhäusern des Dorfes, 1962.

Wädenswil im Wandel! Wohin hat er schon geführt? Zur Reduktion von Grünflächen, zum Abbruch alter Bausubstanz, zur Bedrohung der Natur, zu Umweltbelastung, Energieproblemen, Verkehrslärm, Verknappung des Baulandes; sicher aber auch zu guten neuen Lösungen. Wie soll die Entwicklung weitergehen? Mit dem im März 1982 verabschiedeten kommunalen Gesamtplan hat der Gemeinderat die neue Marschrichtung festgelegt. Und mit der 1984 im Parlament verabschiedeten Bau- und Zonenordnung sind weitere Grundsatzentscheide getroffen worden. Nicht nur im Sinne des Wandels, sondern auch zugunsten der Konstanz.
Wädenswil − auch ein Zeichen des Wandels − ist Stadt geworden. 1950 statistisch, indem es damals die Grenze von 10‘000 Einwohnern überschritten hatte; offiziell mit der Schaffung der parlamentarischen Organisation, welche 1974 die früheren Gemeindeversammlungen ablöste, den Gemeinderat zum Stadtrat werden liess, den Gemeindepräsidenten zum Stadtpräsidenten, den Gemeinderatsschreiber zum Stadtschreiber, die Gemeindepolizei zur Stadtpolizei, die Gemeinderatskanzlei zum Stadthaus.
Und gerade in diesem Wandel zeigt sich auch die Konstanz, die zweite formende Kraft in der Geschichte. Noch gehen viele ins Dorf und nach Zürich in die Stadt, und sie erledigen etwas auf der Gemeinderatskanzlei, nicht im Stadthaus. Wollen wir überhaupt Stadt sein? Klingt das Wort nicht fast negativ? Nach Vermassung, Vereinsamung?
Konstant sind gewisse Probleme, die jede Generation wieder neu zu lösen versuchen muss. Etwa das Jugendproblem. «Es gehört gegenwärtig nicht mehr zu den Seltenheiten, dass man zehn- bis zwölfjährige Knaben auf der Strasse sieht, die mit frechen und altklugen Gesichtern Zigarren rauchen», klagte man 1885 in den «Nachrichten vom Zürichsee», einer inzwischen eingegangenen Lokalzeitung. «Diese halbreifen Burschen sind sich selber überlassen; höchst verwerflich wirkt der Besuch jener Singspielhallen, die den vulgären Ausdruck Tingeltangel tragen.»
Auch gegen Schmierereien an Häusern musste man schon früher einschreiten. So heisst es in einem Bericht aus Wädenswil von 1660: «Die Nachtvögel sind auch noch nicht gestillet. In Wädenschweil sind an unterschiedlichen Zäunen, Häusern und Scheunen schandbare und ehrrührige Pasquill angeschlagen.» Ähnliche Klagen sind für 1760 überliefert; ähnliche Klagen kennen wir aus allerneuster Zeit. Die Absichten blieben sich gleich; nur Spraydosen kannte man früher noch nicht.
Konstant, weil zum Teil durch die Mentalität geprägt, sind gewisse Charakterzüge des Wädenswilers als Bürger wie als Politiker. Schon im 18. Jahrhundert beobachteten Fremde bei den Wädenswilern ein angriffiges, manchmal leidenschaftliches Temperament. Empfindlichkeit und Reizbarkeit lagen oft nah beisammen. «Der Wädenswiler ist zum Erwerb rüstig und sinnreich», bemerkte der Toggenburger Pfarrer Christian Friedrich Kranich im Jahre 1823. «Eigentlicher Müssiggang ist mir wenigstens nie ansichtig geworden. Vermögen zu gewinnen oder zu erhalten, dazu zeigen viele Geschick und Kraftaufwand. Darum fällt es auch auf, wenn der eine oder andere diese Kunst weniger versteht.» Und weiter meinte Kranich: «Der Wädenswiler hat ein lebhaftes Gefühl für natürliches und bürgerliches Recht. Sein ohnehin reizbares Temperament flammt bald auf, wenn er sich in seinem Rechte gekränkt fühlt, oder doch in der Meinung steht, man habe nicht ganz gerecht gegen ihn gehandelt.»
Der Wädenswiler galt als kritikfreudig. Er kritisierte den Landvogt und die Zürcher Obrigkeit, er kritisierte auch seine eigenen Behörden. So etwa der berühmt gewordene Baneeter-Buume, der von 1785 bis 1871 lebte, und der einmal fand: «Ich bi dr Aasicht, d Helfti vom Gmeindraat seigid Chälber, suscht chönntets nüd esone Chalberei beschlüüsse.» Die Behörde, der dies zu Ohren kam, wollte den Schimpf nicht auf sich sitzen lassen und verlangte von Baumann, dass er sein Wort schriftlich zurücknehme. Dieser tat es auf seine persönliche Weise:
«An den löblichen Gemeinderat Wädensweil
Wertvoller Herr Präsident!
Ebenso volle Herren Gemeinderäte. Habe Ihren schönen Brief erhalten und bin mit Ihnen vollkommen einverstanden. lch nehme mein Wort zurück und erkläre hiermit, dass die Hälfte des Gemeinderates keine Kälber sind ... »




Peter Ziegler