«WIE LIEBE ICH DIESES HAUS!» ROBERT WALSER UND DIE «VILLA ZUM ABENDSTERN» IN WÄDENSWIL

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2000 von Bernhard Echte

Es war an einem regnerischen Montagmorgen im Juli des Jahres 1902, da lief ein junger, 25-jähriger Mann vom Bahnhof Wädenswil ortauswärts Richtung Zürich. Er scheint einen Koffer getragen zu haben, «einen von den ganz billigem». Dass er einen Schirm bei sich hatte, wunderte ihn beinah, denn früher war ihm dergleichen nie nötig erschienen. Doch der junge Mann befand sich auf dem Weg, eine neue Stelle anzutreten, und mochte deswegen nicht verregnet anlangen. Als er fast das Ortsende erreicht hatte, ging er linker Hand eine kurze steile Strasse hinauf, wo ihm von der Anhöhe ein «alleinstehendes, anscheinend schmuckes Haus» entgegenblickte. «Vor den Augen des scheinbar von einer Reise herkommenden Mannes war auf einem Emailschild zu lesen: C. Tobler, technisches Büro. Er wartete noch einen Moment, wie um über etwas gewiss sehr Belangloses nachzudenken, dann drückte er auf den Knopf der elektrischen Klingel, worauf eine Person kam, allem Anschein nach eine Magd, um ihn eintreten zu lassen.»
Mit dieser unscheinbaren Szene beginnt ein Roman, der 1908 beim Berliner Verlag Bruno Cassirer erschien, in den literarischen Kreisen einen kurzen Achtungserfolg erzielte, dann aber wieder weitgehend in Vergessenheit geriet. Geschrieben hatte ihn ein junger Schweizer Autor namens Robert Walser, den man im Wesentlichen als Bruder des damals berühmten Malers und Bühnenbildners Karl Walser kannte.
Robert Walser, Aufnahme von 1899.
Das Buch war nachdem ein Jahr zuvor erschienenen «Geschwister Tanner» sein zweiter Roman; wieder stand ein junger Mann im Mittelpunkt, der mit dem Autor eine unverkennbare Ähnlichkeit hatte. Scheinbar kunstlos wirkte dieses Buch, alltäglich waren die darin geschilderten Begebenheiten, und alles wurde mit einer Ruhe und bescheidenen Beiläufigkeit erzählt, die in der literarischen Welt normalerweise nicht «Effekt» machte. Der Verleger hatte das Buch denn auch nur widerstrebend gedruckt; eigentlich war es ihm fast ein wenig langweilig erschienen, doch hatte er sich ausnahmsweise seinem Lektor gefügt, der den Roman seltsam leidenschaftlich befürwortete. Dieser Lektor hiess Christian Morgenstern, und er wurde nicht müde zu betonen, dieser Robert Walser sei das grösste dichterische Talent, das ihm je begegnet sei.
Tatsächlich begeisterten sich nach Erscheinen des Buches auch einige andere junge Autoren für diesen «Gehülfen», wie der Roman betitelt war. Hermann Hesse meldete sich mit überaus lobenden Bemerkungen zu Wort, Max Brod liess sich aus Prag bald in ähnlichem Sinn vernehmen, und so waren dem Buch immerhin drei Auflagen von 1000 Exemplaren beschieden. Die Erwartungen des Verlegers konnte es damit knapp erfüllen, wenn dieser gnädig darüber hinwegsah, dass die dritte Auflage noch mehr als 25 Jahre lieferbar blieb ...
Robert Walsers Roman «Der Gehülfe» − es war jenes seiner Bücher, das noch am meisten Beachtung fand, insgesamt aber das Schicksal seines übrigen Werks teilte: die Kenner und Dichterkollegen lobten es in hohen Tönen, das grosse Publikum aber erreichte es nicht. Lange blieb es − wie Robert Walser selbst − ein Geheimtipp. Mehrere Jahrzehnte gingen ins Land, bis die Saat seines Oeuvres aufging. Walser war unterdessen psychiatrisch interniert worden, hatte aufgehört zu schreiben und war 1956 nach fast einem Vierteljahrhundert des verstummt Seins als einsamer und vergessener Insasse einer Heilanstalt gestorben. Nach seinem Tod aber wendete sich auf wundersame Weise das Blatt. Langsam begann man Robert Walser wiederzuentdecken − bzw. ihn erst eigentlich wirklich zu entdecken, und «Der Gehülfe» spielte dabei eine wesentliche Rolle:
1908 erschien Robert Walsers Roman «Der Gehülfe».
Anfang der 60er Jahre erschien der Roman als Taschenbuch in einer Auflage von 20‘000 Exemplaren; als eines der ersten Bücher von Walser wurde es übersetzt, und zwar zunächst ins Italienische. Eine französische Übertragung folgte wenig später. Mitte der 60er Jahre begann eine deutsche Gesamtausgabe von Walsers Werken zu erscheinen, und nach und nach befestigte sich die Einsicht, dass dieser ehedem «bodenlos erfolglose» Dichter der wichtigste Deutschschweizer Autor in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Heute, da seine Bücher in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt sind, gilt er unbestritten als ein Klassiker der Moderne, und «Der Gehülfe» ist sein am weitesten verbreitetes Buch.
Dass dieser Roman tatsächlich in Wädenswil spielt, hat Walser selbst an einer Stelle verraten. Am 14. Dezember 1920 schrieb er einen Brief an Curt Wüest, den Redaktor der damaligen Zeitschrift «Pro Helvetia»; offenbar einer Laune folgend, klebte er an den linken oberen Rand des Blattes den Ausschnitt einer Postkarte, die er kurz zuvor von einer Leserin zugesandt erhalten hatte. Das Photo zeigte jenes «alleinstehende, anscheinend schmucke Haus», in das er gut 17 Jahre zuvor als Angestellter eingetreten war, was Walser denn auch nicht versäumt, seinem Briefpartner mitzuteilen: «Geehrtester Herr Wüest», schreibt er, «hier erblicken Sie die Villa zum Abendstern, wie sie noch zu Wädenswil am Zürichsee steht. In dieses Haus trat ich einst als „Gehülfe“ und hier wohnte jene Familie Tobler, und hier hat sich dieser bei Bruno Cassirer verlegte, einfache Roman abgespielt, der ja eigentlich gar kein Roman ist, sondern nur ein Auszug aus dem schweizerischen täglichen Leben. Sie bemerken das Turmzimmer sowie das Gartenhäuschen, und im Vordergrund baute Herr Tobler jene famose Grotte. Hier lebten die Kinderchen Silvi und Dora, und auf dem Weg durch den „Park“ schritt abends der Hausherr, wenn er ermüdet von seinen Unternehmungen heimkehrte.»
Brief von Robert Walser an Curt Wüest, 14. Dezember 1920. Oben links die Villa «Abendstern».

Als Robert Mächler Mitte der 60er Jahre eine erste Biographie von Robert Walser schrieb, erwähnte er knapp die Fakten, die dieser Brief enthält, klärte auch auf, dass jene Familie Tobler in Wahrheit Dubler hiess, ging den Hintergründen von Walsers Aufenthalt in Wädenswil jedoch nicht näher nach. Es schien, als genüge es, dass jene «Villa zum Abendstern» lediglich in der literarischen Vorstellung fortlebe und man im Übrigen wisse, dass den im «Gehülfen» erzählten Begebenheiten autobiographische Erlebnisse zugrunde liegen. Einem jungen amerikanischen Germanisten namens Herbert L. Kauffmann genügte dies jedoch nicht, und so begab er sich im Jahr 1972 vom fernen New York aus auf die Reise, um zu erforschen, welche Spuren von den Personen und Geschehnissen des Romans noch zu finden wären.
Fast 70 Jahre nach Robert Walser schritt auch er eines Sommertages vom Bahnhof Wädenswil ortsauswärts. Er fand dabei eine stark befahrene Seestrasse vor, an der sich linkerhand eine langgestreckte Fabrik erhob. Die «Villa zum Abendstern» verpasste er so zunächst, denn sie war kein alleinstehendes Haus mehr mit freiem Blick über den See. Vollkommen von Bäumen eingewachsen lag sie in einem verwunschen wirkenden Winkel hinter der Fabrik und schien in einer Art Dornröschenschlaf zu schlummern. Die Bewohner, eine Arbeiterfamilie, ahnten ebenso wenig wie die auf der Strasse angesprochenen Passanten, dass dies der Schauplatz eines Buches war, welches man zur Weltliteratur zu zählen begann. Auch die Namen Dubler und Walser sagten niemandem im Ort mehr etwas. In Erfahrung konnte Kauffmann lediglich bringen, dass das Haus im Jahr 1943 grundlegend renoviert worden war, nachdem die Firma Blattmann es einige Jahre zuvor übernommen hatte. Der auffällige Kupferturm war demontiert und durch ein schlichtes Ziegeldach ersetzt worden, und auch die Veranda hatte ein neues Aussehen erhalten; der zum Garten hin offene Unterbau war geschlossen und mit Fenstern versehen worden, während der ursprüngliche Terrassenaufbau einer robusten Holzkonstruktion Platz gemacht hatte. Man musste sich so manches weg- oder hinzudenken, wenn man die Atmosphäre des Romans wieder verspüren wollte.
Robert Walser, Aufnahme von 1907.
Villa «Abendstern» mit Park, 1909.
Ansicht vom Zürichsee her, 1909.

Im obersten Geschoss des Turms hatte Walser sein Zimmer. Aufnahme von 1929.
Oberhalb der Stärkefabrik Blattmann steht die Villa «Abendstern» 1930 noch im Grünen.

Doch Kauffmann liess sich vom zwiespältigen Eindruck seines Ortstermins nicht entmutigen, konsultierte Einwohner- und Bürgerregister, schrieb Briefe − und erhielt Antwort. Zwei Kinder jenes Carl Dubler und seiner Frau Frieda lebten noch: die Tochter Dora und der Sohn Edwin. Letzterer fand sich sogar bereit, den weitgereisten Forscher zu empfangen. Ja, er kenne das Buch, berichtete er dem Gast und legte ihm Photos seiner Eltern vor. Die Handlung des Romans sei tatsächlich authentisch; der Vater habe die «Villa zum Abendstern» 1902 aus Mitteln einer Erbschaft erworben und sein «technisches Büro Carl Dubler darin eingerichtet. Seine Erfindungen brachten indes nicht den erhofften Erfolg und so habe man wenige Monate, nachdem der «Gehülfe» Walser gegangen war, das schöne Anwesen wieder aufgeben müssen. Die Familie sei danach ins Unglück geraten: Auf die Verarmung sei die Scheidung der Eltern gefolgt. Die Schwester Silvi, deren Vernachlässigung und Zurücksetzung der Roman auf so eindrückliche Weise schildert, starb 1919 bereits mit 21 Jahren. Carl Dubler, der Vater, kam zuletzt wegen Betrugs ins Gefängnis von Lenzburg und starb dort 1925 im Alter von 54 Jahren. Edwin Dubler gab seinem Besucher aus Amerika schliesslich sogar noch alte Photos des Hauses mit, damit dieser sie publizieren könne.
Zu dieser Publikation kam es jedoch nicht. Noch war es zu früh für Walser in Amerika, noch galt das Interesse der Germanisten in der Neuen Welt eher anderen Autoren. Kauffmann hielt am New Yorker Queens College zwar einen Vortrag über seine Wädenswiler «Suche nach der verlorenen Zeit», schickte auch eine Kopie des Textes ans Zürcher Robert Walser-Archiv, das damals gerade im Entstehen begriffen war, gedruckt wurde sein Bericht jedoch nicht, und Kauffmann hängte den Germanistenberuf bald darauf an den Nagel. Ähnlich wie Walser scheint er heute verschollen zu sein; selbst frühere Kollegen aus dem Queens College wissen nichts über seinen Verbleib. Von den alten Photos der «Villa zum Abendstern» gibt es deswegen nur ein paar diffuse Kopien aus der Frühzeit des Photokopierens.
So bleibt ein drittes Mal von einem jungen Mann zu berichten, der − erneut einige Jahre später − nach Wädenswil aufbrach. Wiederum war es Sommer, wie es im Roman so wunderbar beschrieben ist. Blauer Himmel lag über dem See, in der Ferne sah man die Berge. All dies schien sich − man schrieb das Jahr 1979 − nicht verändert zu haben. Auch die Unkenntnis Walsers und seines Buches war in Wädenswil noch dieselbe geblieben. Auf der Strasse wusste niemand der Gefragten etwas von einem «Abendstern» oder gar einem Haus, in welchem der Dichter Robert Walser gelebt habe. Ansonsten war jedoch allenthalben zu beobachten, dass die Zeiten im Ort offenbar andere geworden waren. «Seine Gassen und Strassen gleichen Gartenwegen», hatte Robert Walser über sein «Bärenswil» noch geschrieben. Dies konnte man nun leider nicht mehr ohne weiteres behaupten. Dem Roman zufolge liessen sich die Bärenswiler «reizende, villenartige Gebäude aufrichten, deren unaufdringliche, aber graziöse Form der zufällige Beschauer noch heute bewundern und im Stillen beneiden» könne. Derartige schöne Villen riss man gerade verschiedentlich nieder, um an ihre Stelle moderne Banken- und Warenhausklötze zu setzen. Trotz allem aber konnte der Besucher, der aus Deutschland kam, Walsers Charakterisierung des Orts noch zustimmen: «Ja, Bärenswil ist ein hübsches und nachdenkliches Dorf.» Er bejaht diesen Satz heute umso mehr, als es ihn kurz darauf beruflich ins Robert Walser-Archiv verschlug, wo er unversehens zwanzig Jahre lang an der Entzifferung von Walsers Winzigschrift-Manuskripten hängen blieb, bis er schliesslich die Nachfolge des Dichters so weit trieb, dass er die vom Abbruch bedrohte «Villa zum Abendstern» erwarb, um sie zu erhalten und sie nach Möglichkeit wieder in ihren früheren Zustand zu versetzen.
1899 bezog die Familie Hürlimann die neue Villa «Abendstern». Ansicht von der Bergseite, Turm noch ohne Kuppel. Unten: Ansicht von der Seeseite.
Vieles, so stellte er nämlich bei genaueren Nachforschungen fest, hatte sich an dem Haus unterdessen verändert. Schon Dubler hatte seinerzeit kräftig umgebaut, obwohl die «Villa» noch beinah gänzlich neu war, als er sie erwarb. Erbaut hatte sie Emil Hürlimann «zur Alpina in Wädenswil», wie ein erhalten gebliebener Schuldbrief aus dem Errichtungsjahr 1899 festhält. Als er mit seiner Frau Luise und den vier Kindern Emil, Luise, Werner und Heinrich das Haus bezog, liess sich die ganze Familie voll Stolz zweimal vor dem neuen Besitztum photographieren. Fürwahr eine «schmucke» kleine Villa: Die elegante Terrasse wird von schlanken gusseisernen Säulen getragen, die Fenster schmücken ornamentierte Blenden und darüber gelagerte Simse, vom Turmzimmer mit seinen gerundeten Aussichtsfenstern kann man auf eine geräumige Dachterrasse treten, ein Gartenhäuschen ist zu erkennen, von dem aus man einen freien Blick auf den See geniesst, zierliche Gartengitter grenzen kleine Wege ab, die den Abhang geschwungen hinunterführen.
Dennoch: Schon im Herbst 1902 verliess Hürlimann das Haus bereits wieder und verkaufte es an den Ingenieur Carl Dubler, Bürger von Wohlen im Aargau. Dieser hatte in Winterthur das Technikum besucht und dort bereits im Juni 1900 ein neuartiges «Rührwerk» zum Patent angemeldet. Nach beendeter Ausbildung liess er sich zunächst in Bremgarten nieder. Auch Dubler und seine Frau Frieda, geb. Grässli, hatten vier Kinder: zwei ältere Söhne Walter und Edwin sowie die jüngeren Töchter Silvia und Dora. Im November 1902 siedelte die Familie nach Wädenswil über und bezog die «Villa zum Abendstern». Im Souterrain des Hauses richtete sich Dubler ein Büro ein, wo er weitere technische Erfindungen auszuarbeiten begann. Das Eidgenössische Patent Nr. 28543 weist ihn unter dem Datum des 13. April 1903 als Erfinder einer «Uhr für Lokomotiven, Tramwagen und andere Transportmittel» aus, die den Vorzug habe, dass ihr «Gang durch Erschütterungen nicht beeinträchtigt wird.» Zu kombinieren war diese Erfindung mit einer zweiten, die der Ingenieur bereits am 11. Juli 1902 unter dem Begriff «Reklameschild» hatte schützen lassen. In das Wesen dieser Erfindung einzudringen, bildete denn auch die Hauptaufgabe, der sich der Angestellte Walser ab Juli 1903 zu widmen hatte. Von seinem Alter Ego Josef Marti heisst es im Roman, er habe sich mit der «Reklame-Uhr dadurch bekannt gemacht, «dass er begreifen lernte, dass dieses gewinnbringende Unternehmen eine dekorative Uhr sei, die Herr Tobler im Begriff war, an Bahnverwaltungen, Restaurateure, Hoteliers usw. zu verpachten ... Diese Uhr ist wahrhaftig nicht schlecht, meinte er allen Ernstes, umso weniger, als sie den Vorzug hat, mit dem Reklamewesen verbunden zu sein. Zu diesem Behufe hat man ihr ja ein einfaches oder doppeltes Adlerflügelpaar aus scheinbarem Silber oder gar Gold angehängt, zwecks zierlicher Bemalung. Und was wird man anderes darauf malen wollen als die genauen Adressen von Firmen, die sich dieser Flügel oder Felder, wie der technische Ausdruck lautet, zur nutzbringenden Insertion bedienen? Solch ein Feld kostete Geld; infolgedessen hat man sich nur an erste Handels- und Fabrikfirmen zu wenden.»
Werbung und Reklame scheinen dem Wesen des extrovertierten Erfinders Dubler entsprochen zu haben; fast ist man versucht zu meinen, er sei seiner Zeit in dieser Hinsicht gewissermassen voraus gewesen. Reklameflächen durften denn auch bei einer weiteren seiner Entwicklungen nicht fehlen:
Ingenieur Carl Dubler.

Frieda Dubler, geb. Grässli.

beim sogenannten «Schützenautomaten», dessen Patent am 10. September 1903 eingetragen wird und Dubler als in Wädenswil ansässig ausweist. Natürlich ist im «Gehülfen» auch von dieser Erfindung einlässlich die Rede, ja, Walser lässt dem Gerät seine ganze liebevoll ironischer Beschreibungskunst angedeihen. «Der Schützenautomat erwies sich als ein Ding, ähnlich den Schokoladenautomaten, die die reisenden Menschen auf Bahnhöfen und in allerlei öffentlichen Lokalen antreffen, nur entsprang dem Schützenautomat nicht eine Platte Süssigkeit, Pfefferminz oder dergleichen, sondern ein Paket scharfer Patronen. Die Idee als solche war also keine gerade neue, sondern nur eine verfeinerte und verschärfte ... Auch war der Tobler‘sche Automat bedeutend grösser, er war ein dickes, hohes Gestell von einem Meter und achtzig Höhe und dreiviertel Meter Breite. Der Leibesumfang des Apparates war der eines vielleicht hundertjährigen Baumstammes ... Aber noch mehr! Der Automat hatte den Vorzug mit dem Reklamewesen verbunden zu sein, indem eine kreisrunde Öffnung am oberen Teil desselben jeweils bei Einwurf der Münze und Ziehen am Griff des Hebels eine schön bemalte Reklamescheibe zeigte.» Auch hier hatte der Gehülfe Walser zu lernen, dass man sich «zur Erlangung von Bestellungen und Aufträgen wiederum, wie bei der Reklame-Uhr, nur an erste Firmen zu wenden» habe.
Indes, die kühne Sicherheit, sich mit jenen Erfindungen exklusiv geben zu dürfen, trog ebenso wie Dublers hochfliegende Selbsteinschätzung, die noch einer Renaissancenatur zur Ehre gereicht hätte. Ohne kleinliche Bedenken inszeniert der Ingenieur das Leben einer Kraftnatur; freigiebig und verschwenderisch begeht er die Tage, als habe er mit den Erfindungen, von denen gerade nur ein Prototyp existiert, schon ein Vermögen gemacht. Mit Vorliebe werden Feste gegeben, sei es zum 1. August, an dem ein üppiges Feuerwerk in die Luft geschossen wird, sei es zur Einweihung der neu erbauten Grotte, bei welchem Anlass Tobler, vom reichlich fliessenden Wein befeuert, zu einer pathetischen Rede anhebt, um seine heldenhafte unternehmerische Risikobereitschaft zu beschwören. Die schaffigen, heimlifeissen Bärenswiler hören's mit Erstaunen und denken sich ihr Teil. Es geht nicht lange, und Tobler sieht sich mit immer zahlreicheren Mahnungen, Zahlungsbefehlen und Betreibungen konfrontiert.
Das Patent Nr. 28543 vom 13. April weist Carl Dubler als Erfinder einer «Uhr für Lokomotiven, Tramwagen und andere Transportmittel» aus.

Am 10. September 1903 liess sich Carl Dubler den von ihm entwickelten «Schützenautomaten» patentieren.
 
Sein Angestellter oder Gehülfe wusste indes von Beginn weg, wie es in Wahrheit um das Haus Tobler stand, denn Geld für seinen Lohn gab es schon zur Zeit seines Stellenantritts nicht mehr. Über die Skurrilität der Erfindungen macht er sich zu keinem Zeitpunkt Illusionen, liebt sie jedoch deswegen vielleicht umso mehr. Schon die innere Architektur des Hauses «Abendstern», das von aussen, d.h. vom See her gesehen so stattlich wirkt, offenbart ihm bei seinem ersten Eintritt das Hochstaplerische der Toblerschen Unternehmung: Die Treppe, die ins «technische Büro» hinunterführt, «schien» − wie es bereits auf der ersten Seite des Romans heisst − «eher für Hühner als für Menschen gemacht» zu sein. «Anders als die tief in den lieben, alten Gärten versteckten Herrenhäuser älteren Ursprungs», schreibt Walser gegen Ende des Buches, protze das sichtbar am Abhang prangende Gebäude «ein ganz klein wenig». Ungeachtet dessen fühlt er sich − je länger je mehr − mit dem Haus verbunden. So sehr sein Josef Marti vor den Jähzorns-Ausbrüchen des Ingenieurs zittert, so sehr ihm auch die ungleiche Erziehung der Kinder, die Zurücksetzung der «verschuggten» Silvi widerstrebt, so fühlt er sich dennoch der «Villa zum Abendstern» zugehörig. In den wenigen Monaten zwischen Sommer und Jahresende 1903 ist es ihm zu einem Ort geworden, an dem er sich zu Hause fühlt, so dass er zuletzt, als das Ende naht, ausruft: «Wie liebe ich dies Haus! ... Wie können meine Gedanken ohne alltägliche Gegenstände wie Reklame-Uhr, Schützenautomat, Krankenstuhl und Tiefbohrmaschine um sich zu haben, ferner auskommen? Ja, das wird mich unglücklich machen, ich weiss es. Ich bin hier gebunden, ich lebe hier. Wie sonderbar anhänglich ich bin! Und Toblers tiefe grollende Stimme, wie bitter werde ich ihren Klang entbehren ... Wo wird wieder solch ein Sommer mich in die üppigen grünen Arme und an die blühende und duftende Brust drücken, wie der war, den ich hier oben habe erleben und geniessen dürfen? Wo, in welcher Gegend der Welt, gibt es solche Turmzimmer?»
Tatsächlich sollte Walser in seinem Leben keine Gelegenheit mehr finden, ein «gewissermassen romantisches und vornehmes» Zimmer wie jenes zu bewohnen. Zum Jahresende 1903 verliess er die «Villa zum Abendstern» und musste sich zeitweise wieder durch Arbeit auf der «Schreibstube für Stellenlose» an der Zürcher Schipfe durchschlagen, wo Dubler ihn ein halbes Jahr zuvor aufgelesen und engagiert hatte. 1905, nach Erscheinen seines ersten Buches «Fritz Kochers Aufsätze» wagte er schliesslich den Sprung nach Berlin und in den Schriftstellerberuf. Fast 25 Jahre hat Walser daraufhin als freischaffender Schriftsteller durchgehalten und dabei 15 Bücher sowie über 1000 kurze Prosastücke publiziert. Sein Werk umfasst insgesamt mehr als 6000 Seiten Text, wobei noch mindestens drei Romane als verloren angesehen werden müssen. In keinem der erhalten gebliebenen Werke findet sich jedoch eine so vorbehaltslose und ungebrochene Hommage an einen realen geographischen Ort wie im «Gehülfen»: In der «Villa zum Abendstern» wäre Walser ohne Zweifel gern länger geblieben, als ihm vergönnt gewesen ist. Tröstlich immerhin, dass sein Roman über jene Wädenswiler Zeit heute fast auf der ganzen Welt gelesen werden kann, z. B. sogar auf Hebräisch oder Litauisch. Dessen dürfte man sich in «Bärenswil durchaus ein wenig mehr rühmen.



Bernhard Echte