Digitaler Einblick ins 19. Jahrhundert

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2016 von Adrian Scherrer

Link zum Jahrbuch 2018: stutz-medien.ch/jahrbuch-der-stadt-waedenswil-2018

Sie gilt als eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte Wädenswils im 19. Jahrhundert: die Chronik der Lesegesellschaft. Bislang war sie aber nur schwer zugänglich. Seit Januar 2016 sind die ältesten Bände digitalisiert und online einsehbar. Das Projekt entstand aus einer Kooperation der Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee mit dem Kulturgüterschutz der Zivilschutzorganisation Wädenswil-Schönenberg-Hütten. Es hatte Modellcharakter, weil die Zusammenarbeit Synergien ermöglichte.
Digitalisierungsprojekte laufen in grossen Bibliotheken und Archiven seit mehr als zehn Jahren. Ihr gemeinsames Ziel ist es, Bestände möglichst einfach online zugänglich zu machen. Viele Dokumente sind zudem aufgrund ihres Alters sehr fragil. Werden sie in Internetportalen zur Verfügung gestellt, bleiben die empfindlichen Originale geschont. Daher dient die Digitalisierung auch dem Bestandserhalt. Sie ist ein wichtiges Instrument zur langfristigen Sicherung von Kulturgut.
Auf nationaler Ebene sind Digitalisierungsprojekte seit 2008 im Projekt «Elektronische Bibliothek Schweiz» gebündelt. Verschiedene Universitätsbibliotheken sind unter der Federführung der ETH-Bibliothek daran beteiligt. Die Digitalisierung alter Drucke aus dem 16. Jahrhundert (e-rara.ch) und die Digitalisierung wissenschaftlich oder historisch bedeutender Zeitschriften (e-periodica.ch) gehören zu den grössten Digitalisierungsprojekten in der Schweiz. Auch die Staatsarchive und das Bundesarchiv digitalisieren Teile ihrer Bestände. Im Vordergrund stehen dabei die am häufigsten nachgefragten Dokumente, die auf diese Weise zeit- und ortsunabhängig zugänglich werden. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschungen werden so deutlich einfacher.

Wissenschaftliche Standards

All diesen Digitalisierungsprojekten war eine Erfahrung gemeinsam: Sie waren und sind personalintensiv und teuer. Grossen Institutionen wie Staatsarchiven und Universitätsbibliotheken stehen die entsprechenden Mittel zur Verfügung, weil sie von den Kantonen und teilweise vom Bund finanziert werden. Kleine Archive und Sammlungen verfügen hingegen nicht über die Gelder und personellen Ressourcen, um Digitalisierungsprojekte im grossen Stil umzusetzen. Trotzdem verfügen auch sie über einzelne interessante Dokumente, die sich für die Digitalisierung eignen würden. Denn gerade für kleinere Sammlungen sind die leichtere Zugänglichkeit und die verbesserte Sichtbarkeit digitalisierter Dokumente besonders interessant. Die Nutzung der Bestände nimmt zu.
Vor diesem Hintergrund startete das Wädenswiler Digitalisierungsprojekt im Frühjahr 2013. Der Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee bot sich die Möglichkeit, mit dem damals vierköpfigen Kulturgüterschutz der Zivilschutzorganisation Wädenswil-Schönenberg-Hütten zusammenzuarbeiten. Dank der Kooperation waren die personellen Ressourcen vorhanden, um ein Digitalisierungsprojekt anzupacken. Erst durch diese Ressourcenbündelung rückte auf kommunaler Ebene ein Digitalisierungsprojekt überhaupt in greifbare Nähe. Daher hatte das Vorhaben Pilotcharakter.
Zunächst galt es, das entsprechende Know-how aufzubauen. Digitalisierung bedeutet nicht einfach, Dokumente abzufotografieren oder einzuscannen. Die digitalen Daten müssen wissenschaftlichen Standards genügen, damit sie langfristig nutzbar bleiben. Nur wenn Daten in entsprechender Qualität entstehen, ist der grosse Aufwand eines Digitalisierungsprojekts sinnvoll.
Für die technischen Parameter stützte sich das Projekt auf die Vorgaben in den Leitfäden der ETH-Bibliothek und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Beide beruhen auf langjährigen Erfahrungen mit der Digitalisierung unterschiedlicher Dokumente und gelten als «Good Practice». Dennoch waren allein aufgrund der technischen Mittel leichte Abstriche zu machen. Für das Wädenswiler Vorhaben stand kein mehrere Zehntausend Franken teures Scan-Gerät wie in grossen Bibliotheken zur Verfügung. Eingesetzt wurde stattdessen eine hochwertige Canon-Kamera, die einer der Zivilschützer privat zur Verfügung stellte. Mit ihr liessen sich Bilder in der geforderten Auflösung erstellen. Das notwendige Licht, um die einzelnen Seiten gleichmässig auszuleuchten, wurde mit handelsüblichen Scheinwerfern erzeugt. Umso mehr Wert musste auf die Nachbearbeitung der Daten gelegt werden, damit das Ergebnis der Aufnahmen alle Standards erfüllte.

Über 1250 Seiten digitalisiert

Auch die Wahl der zu digitalisierenden Dokumente musste sorgfältig bedacht werden. Erstens war das Projekt auf zwei Jahre beschränkt, bis der lokale Kulturgüterschutz Ende 2015 im neuen bezirksweiten Zivilschutz Zimmerberg aufging. Der Umfang musste so überschaubar bleiben, dass das Projekt im Rahmen von drei Wiederholungskursen abgeschlossen werden konnte. Zweitens sollten die Kriterien in den Leitfäden berücksichtigt werden: Für die Digitalisierung eignen sich in erster Linie Dokumente, die hohe Relevanz haben und deswegen stark nachgefragt sind, gleichzeitig aber fragile Unikate sind, die es für die Nachwelt zu erhalten gilt.
So fiel die Wahl auf die ersten beiden Bände der Chronik der Lesegesellschaft. Sie dokumentiert Wädenswiler Ereignisse ab 1797. Aus den Protokollen der 1790 gegründeten Lesegesellschaft geht hervor, wie die Chronik entstand. Sie war ein Gemeinschaftswerk der anfänglich gut 30 Vereinsmitglieder. An jeder der alle zwei Monate stattfindenden Zusammenkünfte wurden zwei oder drei Personen bestimmt, welche alle wichtigen Ereignisse notieren mussten. An der nächsten Versammlung lasen die Chronisten ihre Notizen vor und die Anwesenden machten Vorschläge für Änderungen und Ergänzungen. Anschliessend wurden für die nächsten zwei Monate neue Chronisten bestimmt.
Titelblatt der Chronik der Lesegesellschaft über die Jahre 1797−1856.

Zum Jahresende wurden die gesammelten Notizen in einem grossformatigen Folioband ins Reine geschrieben. Bis 1838 übernahm Geometer Rudolf Diezinger (1770–1847) diese Aufgabe. Seine Handschrift dominiert über 400 Seiten. Pro Jahr erstellte er durchschnittlich zehn bis zwölf Seiten. In besonders ereignisreichen Jahren konnte es aber auch mehr sein. Begonnen wurde das Unterfangen 1813. Für die ersten 15 Jahre – den Zeitraum 1797 bis 1812 – sammelten die Mitglieder der Lesegesellschaft «Scripturen» zusammen und ergänzten sie aus dem Gedächtnis.
Dass die Chronik 1797 einsetzt ist kein Zufall: Den Anfang bildet die Entstehung der Helvetischen Republik im Zuge der Französischen Revolution, die den Zürcher Landgemeinden die langersehnte Unabhängigkeit von der stadtzürcherischen Obrigkeit ermöglichte. Insgesamt entstanden so zwei Bände, die den Zeitraum von 1797 bis 1886 abdecken. Sie umfassen zusammen 1256 Seiten. Beide Bände sind mit einem nachträglich erstellten, handschriftlichen Stichwortverzeichnis erschlossen.
Ab 1890 verzichtete die Lesegesellschaft auf den Turnus und bestimmte einen festen Chronisten, der die Ereignisse zusammenfasste. Ab den 1930er Jahren sammelten die Chronisten zunehmend auch Zeitungsausschnitte und klebten sie in die Bände ein. So entstanden bis 1945 neun weitere Bände mit über 3500 Seiten. 1948 erhielt die Chronik schliesslich eine neue Form. Es wurden maschinengeschriebene Jahreszusammenfassungen erstellt, die je nach Chronist als mehr oder minder persönlicher Blick auf das jeweilige Jahr ausfielen. Fortgeführt wurde die Chronik bis 1975. Danach übernahm das Jahrbuch der Stadt Wädenswil diese Aufgabe. Aufbewahrt werden die Chronikbände in der Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee, einer von der Stadt Wädenswil geführten Institution. Dort sind sie auf Anfrage zugänglich und benutzbar.

Kurrentschrift als Herausforderung

Die ersten beiden Bände über den Zeitraum 1797 bis 1886 sind nun digital verfügbar. Sie enthalten zahlreiche Schilderungen lokaler Begebenheiten, die von so einschneidenden Ereignissen wie dem Bockenkrieg von 1804 bis hin zu Schilderungen von Unfällen und Anekdoten reichen. Was Dorfgespräch war, wurde aufgeschrieben: Der Bau des Armenhauses im Jahr 1818 ebenso wie die Neuorganisation der Volksschule von 1831, die Aufnahme des Dampfbootbetriebs auf dem Zürichsee 1835 oder der Ausbruch einer Cholera-Epidemie 1854. Historisch bemerkenswert sind Augenzeugenberichte zu kantonalen und eidgenössischen Themen: Die Teilnahme einer lokalen Delegation am Ustertag oder die Auswirkungen des Sonderbundskrieges auf Wädenswil.
Gerade diese lokale Perspektive ist oft sehr aufschlussreich. So wird etwa deutlich, dass im Hungerjahr 1816 nichts über die Ursachen für die schlechte Witterung bekannt war, die zu einer Missernte führte. Man wusste schlicht nicht, dass am anderen Ende der Welt im heutigen Indonesien ein Vulkan ausgebrochen war. Bis in Details zeigt die Chronik auch, wie grosse Projekte organisiert waren. So wurde beim Bau der Seestrasse in den 1830er Jahren teilweise noch auf Frondienste gesetzt. Und auch der Zehnten-Loskauf beschäftigte die Gemüter jahrelang, bis 1838 die alten Zinsabgaben abgeschafft waren. Enthalten sind ausserdem Nachrufe auf einzelne prägende Personen, zum Beispiel auf Pfarrer Philipp Bruch (1767–1818) oder den Textilunternehmer Johannes Diezinger (1767–1835), der die Lesegesellschaft mitbegründete und später Gemeindepräsident wurde. Für die meisten Jahre sind zudem Beschreibungen des Wetters, eine Bevölkerungsstatistik, eine Übersicht der Lebensmittelpreise und Wahlergebnisse beigefügt, die einen sehr tiefen Einblick in den Alltag im 19. Jahrhundert ermöglichen.
Chronikeinträge auf Seite 238 zum Jahr 1818.

Würdigung des verstorbenen Pfarrers Paul Philipp Bruch auf Seite 239.

Wie bei allen älteren Handschriften stehen Leserinnen und Leser allerdings auch bei der Chronik vor einer Herausforderung, wenn sie etwas nachschlagen möchten: Die Texte sind in Kurrentschrift geschrieben. Die Entzifferung ist daher nicht jedermanns Sache. Noch gibt es keine technischen Verfahren, um alte Handschriften automatisch in computertaugliche Texte zu übersetzen. Texterkennungsverfahren – nach dem englischen «optical character recognition» auch OCR genannt – gibt es nur für gedruckte und moderne Schriften.
Um aus der Chronik ein leicht lesbares Dokument zu machen, müsste sie nach dem heutigen Stand der Technik transkribiert werden. Der Aufwand wäre angesichts von über 1200 eng beschriebenen Seiten gigantisch. Hinzu kommt die rasante Weiterentwicklung der Informationstechnologie: Es kann durchaus möglich sein, dass in näherer oder fernerer Zukunft Texterkennungsverfahren für Kurrentschriften zur Verfügung stehen. Dann wäre mit der Digitalisierung der Chronik die Grundlage für eine Übertragung bereits gelegt. Vorderhand muss man jedoch mit dem handschriftlichen Stichwortverzeichnis Vorlieb nehmen, das an jedem Band-Ende angefügt ist und die Texte inhaltlich erschliesst.

Zugang auf e-codices

Die beiden Bände wurden Seite für Seite berührungsfrei fotografiert, weil so alte Dokumente zu fragil sind, um auf einem gewöhnlichen Flachbett-Scanner digitalisiert zu werden. Die hochauflösenden Farbaufnahmen wurden anschliessend einzeln nachbearbeitet, um die Farbnuancen jeder Seite am Bildschirm optimal wiederzugeben. Den Standards entsprechend wurden die Seiten mit 300 Pixeln pro Zoll digitalisiert – bezogen auf das Originalformat der Vorlage von 25 x 40 cm. Dies ermöglicht eine grosszügige Zoomfunktion, um kleine Details sichtbar zu machen. In einem Digitalisat dürfen gegenüber dem Original keine Informationen verloren gehen. Aus diesem Grund wurden alle Seiten immer mit vollständig umlaufendem Rand aufgenommen, um kenntlich zu machen, dass nichts von der Vorlage abgeschnitten wurde.
Am Projekt beteiligt waren Markus Hofstetter, Moritz Schenk und Steve Portoyan vom Kulturgüterschutz. Sie setzten die Digitalisierung im Rahmen von drei mehrtägigen Wiederholungskursen technisch um. Begleitet wurde das Projekt von Christian Winkler, der die Dokumentationsstelle betreut, sowie vom Schreibenden, der als Historiker und wissenschaftlicher Archivar in beratender Funktion ehrenamtlich beteiligt war. Insgesamt entstanden knapp 1300 Dateien mit durchschnittlich 40 Megabyte Umfang – ein Gesamtumfang von über 50 Gigabyte. Diese unkomprimierten Originaldateien dienen im Format TIFF der Langzeitarchivierung. Für die Online-Nutzung wurden daraus weniger speicherplatzintensive Arbeitskopien erzeugt.
Lebensmittelpreise und Bevölkerungsstatistik für das Jahr 1830 auf Seite 372.

Bemerkungen zum Jahr 1831 auf Seite 373.

Für die Online-Präsentation wurde das Portal e-codices.ch angefragt. Dabei handelt es sich um ein Projekt der Universität Fribourg, das digitalisierte Handschriften aus Bibliotheken in der ganzen Schweiz im Internet zugänglich macht. E-codices startete 2005 mit einem Pilotprojekt mit der Stiftsbibliothek St. Gallen, in dem mittelalterliche Handschriften digitalisiert wurden. Seither wuchs das Portal Jahr für Jahr und bietet mittlerweile den Zugang zu fast 1500 verschiedenen Handschriften vom Mittelalter bis in die Neuzeit aus 63 verschiedenen Sammlungen. Über eine halbe Million Einzelseiten sind über eine eigens entwickelte, komfortable Webanwendung mit verschiedenen Such- und Blätterfunktionen zugänglich, die auch stufenloses Zoomen ermöglicht. Zudem hat e-codices eine App für mobile Geräte entwickelt.
Das Projektteam von e-codices signalisierte Interesse an der Wädenswiler Chronik – nicht zuletzt wegen des Pilotcharakters dieses lokalen Digitalisierungsprojekts einer kleineren kommunalen Institution. Die Dateien erfüllten die grundlegenden technischen Vorgaben knapp, so dass der erste Band der Chronik im Januar 2016 schliesslich freigeschaltet wurde. Der zweite Band folgte bis Ende 2016. Zu beiden Bänden sind minimale Metadaten abrufbar, die die Dokumente in ihren Kontext einordnen und den Zugang verbessern. Auf diese Weise kann man nicht nur blättern, sondern auch im Register am Band-Ende nach einem Stichwort oder Namen suchen und darauf gezielt die entsprechende Seite aufrufen.
Sie digitalisierten die Chronik: Von links Christian Winkler, Adrian Scherrer, Markus Hofstetter (Kulturgüterschutz) und Moritz Schenk (Kulturgüterschutz).

Gleichzeitig mit der Freischaltung der Chronik auf e-codices.ch lancierte die Dokumentationsstelle ihre überarbeitete Homepage. Sie bietet zusätzlich zum Online-Katalog neu auch den Zugang zu verschiedenen Materialien an, darunter auch zur Chronik. Die Aufnahme der digitalisierten Chronik in eine national und international gut verankerte Plattform hat für die Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee viele Vorteile: Sie ist als historische Quelle bedeutend leichter auffindbar, digital jederzeit von überall her zugänglich und in einem professionellen Umfeld präsentiert, das allen wissenschaftlichen Standards genügt. Zudem hat die Chronik eine DOI-Nummer (Digital Object Identifier), mit der sie auch langfristig über eine gleichbleibende Web-Adresse aufgerufen werden kann. Denn eine digitale Quelle gilt als selbständiges Werk, wenn sie einmal online zugänglich ist. Sie kann und soll nicht mehr einfach vom Netz genommen werden.




Adrian Scherrer