Milly Ganz (1882–1969)

Zum hundertsten Geburtstag der Schriftstellerin

Quelle: «Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee», 10. März 1982 von Peter Ziegler

Ihr Leben

Im Haus zur «Alten Kanzlei» in Wädenswil kam am 20. März 1882 Emilie Ganz auf die Welt, als jüngste Tochter des Robert Ganz (1848 bis 1913) und der Emilie geborenen Betz (1852 bis 1939) von Schwamendingen. Ihr Vater war 1873 als junger Arzt nach Wädenswil gezogen und führte zuerst in der «Alten Kanzlei», dann im «Merkur» eine Allgemeinpraxis. Zusammen mit den älteren Geschwistern Alois Otto, Robert Max und Alfred August − eine Schwester Emilie Fanny starb früh − verlebte Emilie Ganz ihre Jugendzeit in Wädenswil. In der Familie des einfachen Landarztes, der seit den 1890er Jahren auch als Bezirksarzt wirkte, wurde viel musiziert und bisweilen von den Kindern verfasstes und einstudiertes Theater gespielt. Während der Schulferien durften die Doktorkinder ihren Vater auf den Visiten begleiten, die oft auch in die entlegenen Weiler und Höfe des Wädenswiler Berges führten.
Am 1. August 1903 verheiratete sich EmiIie Ganz mit dem ebenfalls aus Wädenswil stammenden Kaufmann Otto Hürlimann (1875 bis 1938). Zuerst lebte die 1905 hier eingebürgerte Familie in Wädenswil, wo noch drei Kinder zur Welt kamen: Otto 1904, Milly 1906 und Erich 1907. Armin Hürlimann wurde 1911 in Lugano geboren und Niobe Margot 1919 in Massagno. Die neue Heimat der Familie Hürlimann-Ganz war ab 1907 während 13 Jahren das Tessin. Ein grosses Haus, gesicherter Reichtum und gesellschaftliches Ansehen ermöglichten eine komfortable Existenz. Aber Wirtschaftsschwankungen nach dem Ersten Weltkrieg zerstörten die Sicherheit. Spekulationen des Kaufmanns erfüllten sich nicht; die Familie stand schlagartig vor dem Nichts und wanderte um 1920/21 nach Neapel aus. Dort wollte sie neu anfangen, neu aufbauen.
Auch hier galt es aber, schwere Jahre kämpfend durchzustehen. «Es war ein schweres Leben», äusserte Milly Ganz 1962 in einem Interview anlässlich ihres 80. Geburtstages. Im Sommer 1927 ertrank der 20-jährige Sohn Erich beim Baden im Golf von Pozzuoli bei Neapel; geschäftliche Schwierigkeiten und Krankheit des Mannes belasteten die Ehe in grossem Ausmass: Im August 1930 kam Emilie Hürlimann-Ganz nach Wädenswil zurück und lebte vorübergehend im Haus ihres vor zwei Jahren verstorbenen Bruders, des ledigen Arztes Dr. Otto Ganz (1874–1928), an der Eidmattstrasse 15. 1931 wurde die Ehe geschieden. Nach einem längeren Aufenthalt in Kalifornien liess sich Frau Ganz − so nannte sie sich wieder − in Zürich nieder.

Dr. Robert Ganz,
Millys Vater.

Ihr schriftstellerisches Werk

Lebensrückhalt fand Emilie Ganz in Jugenderinnerungen, die sie − nun als Milly Ganz − im Jahre 1943 unter dem Titel «Der Narr seines Herzens» im Verlag Orell Füssli in Zürich veröffentlichte. Der im 59. Lebensjahr geschriebene Erstlingsroman, angeregt durch die aussergewöhnliche Persönlichkeit ihres Vaters, wurde ein Bestseller und erlebte 1959 die sechste Auflage.
1944 folgte der zweite Roman von Milly Ganz: «Der Unbekannte von San Michele». Er handelt in Neapel und hält in romantischer, leidenschaftlicher und doch lebensnaher Welt Aufzeichnungen fest, welche die Autorin einer italienischen Familie abgelauscht hat. Nur ein Jahr später konnte der Roman «Regina Vonderach» erscheinen. Schauplatz der Handlung sind das Tessin und Neapel; die Erzählung trägt stark autobiographische Züge: Die verwöhnte, schöne Regina Vonderach (Milly Hürlimann-Ganz) führt mit ihren fünf Kindern in einer herrlichen Tessiner Villa ein geradezu fürstliches Leben, bis plötzlich der völlige finanzielle Ruin über die Familie hereinbricht. Reginas Gatte, ein Grosskaufmann (Otto Hürlimann), vermag nichts aus dem Konkurs zu retten, muss fliehen und schliesslich seine Schuld abbüssen. Die Frau aber bricht gesundheitlich zusammen und findet nur an den Kindern eine Stütze. Nach Neapel übergesiedelt, muss die Familie dennoch schwere Not leiden; oft fehlt sogar das tägliche Brot. Der Sohn Hannes Vonderach (Erich Hürlimann) ertrinkt beim Baden im Golf von Neapel. An Arno Vonderach, Reginas Gemahl machen sich Zeichen geistiger Umnachtung bemerkbar; nach der Rückkehr der Familie in die Schweiz wird die Einweisung in eine Irrenanstalt nötig.
Einem Roman «Das Opfer eines Wahns», 1949 erschienen, liess Milly Ganz 1956 «Esther und Wendelin» folgen, in dem sie Jugenderinnerungen ihrer Mutter Emilie Ganz-Betz verarbeitete. Wendelin, ein junger Arzt und Sohn des Zürcher Stadtpräsidenten, liebt Esther, die frische, warmherzige Bauerntochter und Nähmamsell, doch ist er gezwungen, eine reiche Stadtbürgerin zu heiraten. Auch Esther begräbt ihre Liebe im tiefsten Herzen und widmet ihre ganze Fürsorge einem tüchtigen, rechtschaffenen Mann und seinen mutterlosen Kindern. Nach langen, prüfungsreichen Jahren aber kommt die glückverheissende Wendung. Mit der Liebesgeschichte aus Zürich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts sind Nebenhandlungen verflochten: der Lebensweg eines kleinen Schneiders, die Schicksale zweier wahngetriebener Frauen, eines unschuldig Verurteilten, der jahrelang um seine Ehrenrettung kämpft, und eines Sektenpredigers in seinem unheilvollen Wirken. Anschauliche Bilder von Wendelins Walten als Armendoktor, von einer Cholera-Epidemie, von der Zurzacher Messe, von Arbeit und Freude biederer kleiner Leute versetzen den Leser zurück ins Leben im Zürich des vergangenen Jahrhunderts.
Dem 1958 erschienenen Roman «Der Gespensterbaum» und dem 1960 veröffentlichten Roman eines jungen Arztes, «Die Begegnungen» liess Milly Ganz 1962, also im Alter von 80 Jahren, ihr letztes Werk folgen. Es trägt den Titel «Alle Herrlichkeit des Herzens» und ist die in sich abgeschlossene, wieder in Wädenswil spielende Fortsetzung von «Der Narr seines Herzens», des erfolgreichsten Buches der Schriftstellerin. Frau Ganz, die zuletzt an der Viktoriastrasse 29 in Zürich gewohnt hatte, starb im Alter von fast 87 Jahren. Sie wurde am 13. Februar 1969 auf dem Friedhof Nordheim beigesetzt.

«Der Narr seines Herzens»

Wädenswiler dürften sich vor allem für die Romane «Der Narr seines Herzens» und «Alle Herrlichkeit des Herzens interessieren, die zwischen 1873 und etwa 1910 in Wädenswil spielen: Hier der Inhalt der beiden Bücher:
Der junge, idealistische Dr. med. Jost Christen eröffnet 1873 im aufblühenden Zürichseedorf Sonnwil (= Wädenswil) seine Praxis. Vom ersten Tag an lädt er sich nichts als Mühsal auf den Hals. Ein Hitzkopf ist er, ein Neuerer, der seine Patienten statt mit den beliebten Mixturen und Tabletten nur mit Wasser und Wickel kurieren will, und ein Narr dazu mit seiner hemmungslosen Mildtätigkeit. Sobald er Not sieht, verschenkt er fast das Hemd vom Leibe. Dazu verficht er seine Ansichten und bekämpf er Missstände so heftig, dass die Funken stieben, wo immer er hinkommt. Der Armleutearzt wird von vielen geachtet, erringt sich das Ansehen immer weiterer Kreise, wird Anstaltsarzt und Bezirksarzt.
Mehr und mehr zieht er aber auch die Feindschaft seines älteren Kollegen Dr. Glatt auf sich, der mit Vorliebe vornehme Leute behandelt und teure Rechnungen schreibt, dessen verfuhrwerkten Fälle Dr. Jost Christen teilweise weiterbehandelt. Dem Aufstieg folgen schwere Zeiten teilweise Invalidität als Folge einer Rückenverletzung bei einem Fabrikbrand, die Entlassung als Bezirksarzt, der frühe Tod der Frau − Schicksalsschläge, die ihn bis zum Selbstmordversuch treiben. Doch die fünf Kinder − namentlich aber Felicitas, die Jüngste − setzet sich für ihren Vater ein und helfen ihm über die Krisen hinweg. Michael, der Älteste, wird selber Arzt und führt das Werk des Vaters mit ihm zusammen weiter.
Dieser Neuanfang ist Inhalt des 1962 erschienenen letzten Buches von Milly Ganz, betitelt

«Alle Herrlichkeit des Herzens»

Da finden wir Dr. Jost Christen als gebrochenen Mann wieder: bekümmert humpelt er am Stock durch sein verödetes Haus «Wiesenhof» und weder das Lieblingskind Felicitas noch die langjährige treue Haushälterin Ursula aus dem Schwarzwald vermögen in ihm die alte Tatkraft zu wecken. Einigen wohlmeinenden Freunden aber, die geheimnisvoll im Hintergrund stehen, gelingt es. Das grosse Doktorhaus wird in ein Erholungsheim umgewandelt, vornehme Gäste halten Einzug, und mit ihnen kehrt Leben in den «Wiesenhof» zurück. Muntere Geschäftigkeit und fröhliche Vorfälle füllen die Tage aus, und die Praxis blüht wieder. Nach und nach erfährt der Leser auch, was aus des Doktors eigenen Kindern und seinen drei Pflegekindern − darunter dem Sohn eines unentdeckten Mörders − geworden ist. Lauter erfreuliche Nachrichten sind es. Die schönste aller Überraschungen aber bereitet Felicitas, die auf fast märchenhafte Weise das Glück ihres Lebens findet.
 

Dichtung und Wahrheit

Schauplatz des ersten und des letzten Romans von Milly Ganz ist WädenswiI. Die Autorin wollte aber nicht Ortsgeschichte schreiben, sondern ihre Leser unterhalten und zum Nachdenken über menschliche Probleme und Schicksale anregen. Darum ist zum selber Erlebten manch erfundene Situation getreten, darum mischen sich Jugenderlebnisse und spätere Ereignisse in dichterischer Freiheit zu einem neuen, stimmigen Bild.
Manche Örtlichkeiten lassen sich aber noch ohne weiteres lokalisieren; manche Szene trägt unverkennbar Wädenswiler Züge. Hinter verstellten Namen sind hier ansässige Familien wiederzuerkennen. Das eine oder andere Ereignis hat sich tatsächlich zugetragen, lässt sich auf den Tag genau datieren. Einige Auszüge aus dem Roman «Der Narr seines Herzens» sollen dies belegen.
An Örtlichkeitan sind erwähnt das Haus zur alten Kanzel (= alte Kanzlei), der Wiesenhof (= Mattenhof an der Eidmattstrasse, 1963 abgebrochen), das Armenhaus (abgebrochen 1912), das Kinderheim Bühl, das Waisenhaus und die Kirche. In dieser Kirche predigte damals Dekan Jakob Pfister, im Buch als «Pfarrer Pfisterli»: «Zur selben Stunde, da der Pfarrer Pfisterli als Propagandist Gottes auf der einem königlichen Thron vergleichbaren Kanzel, aus kostbarem Marmor stand und sich seinen Sonntagsbraten dadurch verdiente, dass er im Kampf um die Herzen der kantigen Sonnwiler die hübschen Fransen des Bibelpültleins zerknüllte, begnügte sich Christen mit der Rolle eines Gelegenheitsarbeiters desselben Meisters. Er kam dabei bedeutend schlechter weg als der Pfarrherr, der bei den in einem rauchgeschwängerten StudierzImmer fabrizierten Reden höchstens etwas Lungenkraft verausgabte, denn ihm entglitten bei seinen Handlangerdiensten gar viele Fünffränkler ... »
An einem andern Ort schildert Milly Ganz die Sitzverhältnisse in der Wädenswiler Kirche: «Da würden sie an diesem Adventssonntag wieder dichtgedrängt in dem prächtigen Haus Gottes sitzen. Er sah sie vor sich: direkt gegenüber der Kanzel, in eigens für sie reservierten Stühlen die Bessersituierten, die Miete bezahlen konnten.
Milly Ganz.
Seitwärts, ganz hinten bei den Türen, die Mühseligen und Beladenen, die Christus am nächsten standen, weil sie in seiner Armut wandelten. Sie mühten sich, durch Halsverrenken einen Blick des Pfarrherrn zu erhaschen, indem sie mit hungrigen Augen den göttlichen Verheissungen lauschten. Dieses Grüpplein Armseliger war die Dr. Jost Christen verbliebene Klientschaft ... »
Hutfabrikant Niederweg im Roman «Der Narr seines Herzens» dürfte wohl mit Hutfabrikant Hochstrasser gleichzusetzen sein. Von ihm findet sich im Buch folgende vergnügliche Begebenheit: «Noch bildete er (Dr. Christens Konkurrent Dr. Glatt) sich ein, die vornehme-Praxis fest in Händen zu halten, als er plötzlich eines Tages feststellen musste, dass der Hutfabrikant Niederweg, der Rentabelste, seiner Klienten, den Weg in Christens Sprechzimmer gefunden hatte. Dieser Industrielle machte sich nämlich ein Vergnügen daraus, seinem Hausarzt die Hüte gratis zu liefern, und zwar stets in einer etwas ungewöhnlichen Form und Farbe. Und da lief nun seit kurzem Kollega Christen mit so einem auffallenden «Niederwegerhut», Modell Hausarzt, umher! Dass sich dieser simple Armendoktor nicht aus eigenen Mitteln diese kostspielige Kopfbedeckung angeschafft hatte, war sonnenklar ... »
Auch die nachstehenden Abschnitte aus dem Buche beruhen wohl auf Anschauung:
«Immer kursierten im Dorf Erzählungen übe Begebenheiten aus seiner (Dr. Christens) Sprechstunde. Man wollte wissen, dass er Zeugnis verweigerte, auch wenn es mit dem Verlust eines seiner besten Patienten verbunden war. Oder dass er eine Dame der Dorfaristokratie höflich gebeten habe, ihn ein andermal zu konsultieren, wenn sie weniger mit Schmöckiwasser behaftet sei − er liebe den Duft der Blumen zu sehr, um ihn gemischt mit andern Gerüchen zu ertragen. Einer andern habe er angeraten, sich ein sauberes Schnürleibchen anzuziehen, wenn sie wieder untersucht werden wolle − die Farbe ihres Korsetts beleidige sein ästhetisches Empfinden …»
Auch Stimmungen sind immer wieder festgehalten, wie sie viele schon erlebt haben am See: «Als der See von einer ungewöhnlich dicken Eisschicht bedeckt war, kamen über seine spiegelglatte Fläche fröhliche Schlittenpartien aus der Stadt nach den Dörfern zu Besuch. Sie klingelten daher, als ob sie über sichere Landstrassen glitten. Schwarz wimmelte es von Menschen, die Schlittschuh liefen oder von einem Ufer zum andern zu Fuss marschierten.»
Auch soziale Verhältnisse spiegeln sich im Buch von Milly Ganz wider. Dem Beschriebenen dürften Verhältnisse in der Kinderkrippe und im Pestalozziverein Wädenswil um 1900 bis 1910 zugrunde liegen: «Oft steckte er (Dr. Jost Christen) seine Spürnase auch in Angelegenheiten, die ihn im Grunde genommen gar nichts angingen. So gab es zum Beispiel in Sonnwil einen Verein der Kinderfreundinnen. Er wurde von Damen der oberen Gesellschaftskreise, besonders von beschäftigungslosen «alten Jungfern», die sich gerne durch irgendeine Sache hervorgetan hätten, geleitet.
Diese natürlich allgemein gelobten und anerkannten Wohltäterinnen kauften aus den Mitgliederbeiträgen und freiwilligen Zuwendungen weitherziger Sonnwiler den bedürftigen Mädchen Schuhe und Strümpfe und fertigten ihnen Kleider an, deren Stoff aus dem Laden einer Kinderfreundin stammte, die sich die fehlerhafte Ware oft bezahlen Iiess.
Die Idee, die diesem Verein zugrunde lag, war gewiss im Allgemeinen gesehen, höchst lobenswert; sie wurde jedoch dadurch entwertet, dass sie mehr dem Geltungsbedürfnis und der Langeweile als wirklichem Mitgefühl ihre Geburt verdankte.». Christen empörte die Art und Weise, wie man die armen „Hüdel“ durch die ihnen erwiesenen Wohltaten sozusagen vor der Öffentlichkeit zur Schau stellte. Er wusste, dass er es den Damen eines Tages sagen musste, wenn er nicht an innerem Zorn ersticken wollte. Die Göttinnen der Barmherzigkeit mussten erfahren, was er von den rauen, hässlich geschnittenen Kutten und den schweren, plumpen Schuhen dachte, mit denen sie ihre Opfer beglückten ...»
Wenn auch mit zeitlicher Verschiebung und in anderen Zusammenhängen in den Roman eingebaut, finden sich drei genau datierbare Ereignisse: «Ein fürchterliches Zischen und Krachen, und vor Ursulas entsetzten Augen lohte im Unterdorf eine gewaltige Feuergarbe zum Nachthimmel empor … Inzwischen war Christen auf dem Brandplatz angelangt und meldete sich beim Kommandanten. Er stand und staunte in das Flammenmeer, das eine bedeutende Tuchfabrik in Schutt und Asche legte ... Fieberhaft arbeitete die Löschmannschaft, aber sie konnte nichts anderes tun als die umliegenden Häuser schützen, die Fabrik war rettungslos verloren ...» Beschrieben wird hier der Brand der Wolltuchfabrik Treichler am Sagenbach vom 6. Dezember 1895.
«Da rannte unten auf der Strasse ein Feuerwehrmann vorbei. Man hörte ihn rufen: „Im Seeheim brennt's − bei den Schwachsinnigen!“ In wenigen Augenblicken stand Christen vor dem lichterloh brennenden Kinderheim. Es war schon kein Haus mehr, sondern nur noch eine riesige Feuersäule, die sich schaurig schön in den unbewegten Fluten des Sees spiegelte. Entsetzliche, tierische Schreie gellten durch die Nacht. Ein Teil des Personals hatte sich retten können: die Kinder verkrochen sich unter die Betten und in alle erdenklichen Schlupfwinkel, wo sie den Tod durch Ersticken fanden ... Die Überreste der unglücklichen Pfleglinge fand man bei den Räumungsarbeiten unter den verkohlten Balken und eingestürzten Mauern. Es waren nur noch zusammengeschrumpfte Stücke verbrannten Fleisches. Diese grässlichen Klumpen wurden in einem Massengrabe auf dem Friedhof Sonnwils beigesetzt ...»
Das «Seeheim» für geistesschwache Kinder, dessen Brand Milly Ganz hier beschreibt, stand in Wirklichkeit nicht am See: Es handelt sich um das Kinderheim Bühl am Rotweg, das in der Nacht auf den 10. November 1932 einer Brandkatastrophe zum Opfer fiel.
«Das Züglein stand bereit zu seiner Jungfernfahrt. Eine dünne Rauchwolke stieg aus dem Kamin der Miniaturlokomotive kerzengerade in den blauen Sommerhimmel hinauf. Die Sonne glänzte auf dem neuen Lackkleid der wenigen Personenwagen. Ein fröhlicher Marsch der Dorfmusik klang auf, und geschickte Hände waren noch mit der Ausschmückung des eisernen TäufIings beschäftigt. Hinter den Fenstern der Wagen wurden die durch schwarze Seidenhüte verlängerten Köpfe der Verwaltungsräte sichtbar. Sie waren aber alle dem See zugekehrt, den man an dieser Stelle (auf der Höhe des Reidholzes) tiefblau und glitzernd zu Füssen liegen sah. Indes verschwand die bunte Schlange, noch einige Male, ferner und ferner, zwischen den Tannen auftauchend … Doch … was war denn das? Kam da nicht Vater und Tochter blickten in jäher Überraschung nach dem Schienenstrang. War das nicht das Züglein, das wieder daherkam, jedoch rückwärtsfahrend und in immer rasender werdendem Tempo? Bei Gott, ja! Da musste nicht Gewolltes passiert sein! ... Die Bremsen haben versagt!, stotterte Christen und blickte entgeistert dem entschwindenden Schattengebilde auf dem Schienenstrang nach. Das also ist das Resultat von dem jahrelangen Streit: ob mit oder ohne Zahnrad! Und mit wie viel Fässern Bier ist diese Diskussion begossen worden! ... Im Dorf erfuhren Christen und seine Tochter, dass es beim neuen Bahnhof den Unglückszug am Prellbock über den Haufen geworfen habe. Der Lokomotivführer sei tot; den Herren Verwaltungsräten jedoch habe die Rekordfahrt nicht viel geschadet ... »
Milly Ganz beschreibt hier das Eisenbahnunglück anlässlich der Versuchsfahrten der Wädenswil−Einsiedeln-Bahn, am 30. November 1876. Die Ereignisse stimmen mit den Tatsachen überein, auch die Diskussion um das System Wetli wird erwähnt. Allerdings fand das Unglück nicht anlässlich der Einweihung der Wädenswil-Einsiedeln-Bahn und nicht im Sommer statt, sondern rund ein halbes Jahr früher.

Ausblick

Die angeführten Beispiele mögen genügen. Sie zeigen, dass der Leser hier vielen Begebenheiten aus Wädenswil begegnet. Sie dürften auch belegen, dass sich die Lektüre dieser wohl nur noch in Archiven greifbaren Bücher immer noch lohnen kann. Bei meinen Nachforschungen und bei der Lektüre der Bücher bin ich noch auf manche Fragen gestossen, die es noch zu klären gälte. Das Erscheinen des Buches «Der Narr seines Herzens» soll im Jahre 1943 in Wädenswil einige Diskussionen und Aufregungen verursacht haben, da man allzu viele Personen und Tatsachen noch zu klar erkannte. Was im Speziellen? Ich konnte es bis jetzt nicht in Erfahrung bringen. Ich ersuche darum Leser, welche darüber mehr wissen, mir Angaben zukommen zu lassen. Interessieren würde mich auch, ob noch Nachkommen von Frau Ganz leben und wo ihr Nachlass verwahrt wird. Sollten aus dem Leserkreis weitere Angaben zu Personen und Sachverhalten in den beiden Büchern «Der Narr seines Herzens» und «Alle Herrlichkeit des Herzens» gemacht werden, auch ein Mord spielt mit hinein, würde ich über die Resultate wieder berichten.

Anmerkung

Es gab tatsächlich Reaktionen. Ich lernte noch eine Tochter von Milly Ganz kennen, die mir Bücher und den Nachlass von Milly Ganz vermachte. Sie befinden sich heute in der Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee am Hoffnungsweg 5.




Peter Ziegler