Vorwort

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1975 von Walter Rusterholz
 
«Alles was in unserer kleinen Welt passiert, ist uns wichtiger, als ungleich grösseres Geschehen in irgendeiner Ferne.»
Nicht wahr, ein Körnchen Wahrheit steckt doch wohl in diesem Gedankensplitter. Die kleine Welt, was ist das? Ein Land, ein Flecken Erde? Für die kleinen Kinder die Ecke zum Spielen oder gar die farbig glitzernde Seifenblase, die, vom leichten Winde weggetragen, irgendwo zerplatzt, als wäre sie in nichts zerronnen. Und für den betagten Mitmenschen liegt sie, die kleine Welt, vielleicht am längstgewohnten Platz am Fenster, wo sich das Tun und Treiben auf der Strasse ohne grosse Mühe überblicken lässt.
Für viele ist es das Dorf, die Wohngemeinde. Die Stadt. Wädenswil, mit allem was dazu gehört − den Menschen die hier wohnen, den Häusern, die Kirchen, Wäldern und Wiesen, Fabriken und auch dem See.
Wädenswil ist gross geworden in den letzten Jahren. Was einst mehrere Generationen brauchte, ist in kurzer Zeit passiert. Die Bevölkerung hat sich in den letzten drei Jahrzehnten nahezu verdoppelt. Rund 9‘000 Einwohner zählte unser Dorf im Jahre 1940 – ungefähr 18000 werden es Ende dieses Jahres sein. Nur wenige Gemeinden und Städte weisen ähnlich hohe Zuwachsraten auf. Folgende Zahlen über die Zunahme zwischen 1960 und 1972 bestätigen diesen Trend: Wädenswil 50 %, Hombrechtikon 45 %, Stäfa 44 %, Herrliberg 34 %, Richterswil 29 %, Horgen 27 %, Thalwil 24 %.
Die relativ kurze Distanz zu Zürich, die Autobahn, das bis Mitte der sechziger Jahre günstige Wohnungsangebot, freie Landflächen, sowie möglicherweise die Wohnqualität − Wohnen auf dem Land, Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz − werden einige der Gründe dieses raschen Wachstums sein.
Rapid hat sich seit Jahresfrist die Situation verändert. Die Zuwachsrate ist gesunken, und ungefähr 200 Wohnungen stehen heute leer. Die fundiert wirkenden Aussagen über die zukünftige Entwicklung unserer Bevölkerung und der Wirtschaft haben sich nur zum Teil als richtig erwiesen. Ob es uns gut geht oder schlecht, hängt nicht allein von Prognosen ab, und so ganz präzis lässt sich eben doch die Zukunft nicht im voraus bestimmen. Das gilt es zu bedenken, wenn wir den Blick nach vorwärts richten und unsere Ziele setzen.
Stadthaus an der Florhofstrasse, 1811 als Spinnereigebäude der Firma Blattmann-Diezinger & Co. errichtet, ab 1905 Gemeinderatskanzlei und seit 1914 im Besitz der Politischen Gemeinde.

Mit sieben anderen Gemeinden des Kantons Zürich ist Wädenswil im Frühjahr 1974 Stadt geworden. Der Wechsel von der ordentlichen zur ausserordentlichen Gemeindeorganisation (parlamentarisches System) hat zu dieser Änderung der Bezeichnung geführt. Der Abschied vom wohlvertrauten Dorf fällt schwer. Noch jahrelang wird die alteingesessene Bevölkerung im «Dorf» einkaufen und die Amtsgeschäfte im der «Gemeindekanzlei» erledigen. Das ist nicht nur verständlich, das ist sogar gut so. Jahrzehntelanger Wortgebrauch lässt sich nicht plötzlich ändern − auch nicht durch eine systembedingte Notwendigkeit. Ob man sich wohlfühlt in der Wohngemeinde, hängt nicht von der Bezeichnung ab. Andere Faktoren entscheiden diese Frage. Wohnlage, Verkehrswege und Verkehrsmittel, Arbeitsplatz, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, Sport und Freizeit, Kulturelles sind ausschlaggebende Kriterien für die einen, allein das gute oder schlechte Verhältnis zum Nachbarn vielleicht für die anderen. So bunt wie die Bevölkerung einer Stadt zusammengewürfelt ist, so breit gestreut sind wohl die Ansichten zu diesen vielschichtigen Fragen.
Der enorme Bevölkerungszuwachs in den vergangenen Jahren hat viele Neuzuzüger nach Wädenswil gebracht. Neue Wohnsiedlungen sind entstanden, und die grünen Wiesen, die vor kurzem noch zwischen Dorf und Au wertvollen Erholungsraum bedeuteten, sind jetzt überbaut.
Die Gewöhnung an eine andere Umgebung an andere Mitbewohner und Nachbarn, und an die neue Wohngemeinde ist nicht einfach. Es braucht Zeit, auf beiden Seiten Verständnis und ein wenig Mut, den ersten Schritt zu tun. Das «Jahrbuch der Stadt Wädenswil» versucht in diesem Sinne, die Wohngemeinde näherzubringen, ihre Probleme aufzuzeigen und über das Geschehen in der Stadt zu informieren. Es ist zu hoffen, dass es den beiden Redaktoren, Peter Ziegler und Peter Friedli mit ihrem ersten Werk gelingt, das Verständnis für unser Gemeinwesen in breiten Kreisen zu wecken und zu vertiefen. Der Versuch ist das Risiko wert.

Wädenswil, 3. November 1975




W. Rusterholz
Stadtpräsident


In der reformierten Kirche fand am 22. Januar 1974 die von 886 Stimmberechtigten besuchte letzte Gemeindeversammlung in der Politischen Gemeinde Wädenswil statt.