Zeitgeist

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1993 von Ueli Fausch

Gestern und Vorgestern

Es gibt kaum etwas interessanteres als in Jahrbüchern zu blättern. Druckfrisch zeigen sie uns in geraffter Form ein verflossenes Jahr mit seinen Ereignissen und Höhepunkten. Im lokalen Bereich kaum etwas Weltbewegendes, aber letztendlich doch das, was unseren Alltag bedeutet. Es berichtet, was wir diskutiert haben, was uns gefreut oder vielleicht geärgert hat. Was Anlass war für eine Feier, oder wo es Abschied zu nehmen galt.
Über mehrere Jahrbücher hinweg lässt sich der Zeitgeist erspüren. Eine Grundhaltung, die in vielerlei Formen ihren Ausdruck findet. In der Kunst, in der Politik, in den wirtschaftlichen Bedingungen und auch den gesellschaftlichen Werten. Jahre des Auf- und Umbruchs, sogar der Euphorie, wechseln mit Rückbesinnung auf gehabte Werte, manchmal verbunden mit Unsicherheit und Angst.
Diesen Zeitgeist, in einem grösseren Rahmen, finden wir bei einem Gang durch Wädenswil auch in der Architektur. Die stattlichen Riegelhäuser zu Wohlstand gekommener Bauern aus dem 18. Jahrhundert. Der Klassizismus als Rückbesinnung auf die Antike. Der einmalige, durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges jäh unterbrochene Jugendstil, der, als Zeichen des Aufbruchs, neue, ganz eigene Wege suchte. Wir denken an die grossen Architekten unseres Jahrhunderts, Corbusier, Aalto, Gropius mit dem Bauhaus, die versuchten, zukunftsweisende Formen des Zusammenlebens in ihre Architektur und städtebaulichen Konzepte zu integrieren. Wir sehen die klare und nüchterne Flachdacharchitektur der sechziger Jahre, in denen achtlos wertvolle alte Bausubstanz zerstört wurde.

Heute

Das ausgehende 20. Jahrhundert hingegen wird als bewegte Zeitwende, in der sich die globale Situation der Ideologien und der Mächte verändert hat, aber wahrscheinlich kaum als eigenständige Epoche in die Geschichte eingehen. Zu viel hat sich zu schnell verändert. Vermeintlich Sicheres ist unsicher geworden, und niemand weiss, wie und wo es weitergehen soll. Nirgends zeigt sich das wieder so offensichtlich wie in der Architektur, wo sich die widerstrebendsten Stilrichtungen den Rang streitig machen. Die Bauten, die in den letzten Jahren in unserem Zentrum erstellt wurden, versuchen sich, glück- und charakterlos, dem Bestehenden anzupassen. Auch in der Politik passiert wenig Eigenständiges mehr. Kann nicht mehr passieren, weil immer mehr Gruppierungen in der Lage sind, Lösungen zu blockieren und zu verhindern, nicht aber, Neues durchzusetzen. Gruppen, die vor wenigen Jahren neue Wege suchten und ökologische Fragen in einen grösseren Zusammenhang stellen wollten, sind zu Neinsagerparteien irgendwo im linken Politspektrum geworden. Ist es nicht eigenartig, wenn junge Menschen orthodoxer und fundamentalistischer politisieren als ihre Eltern?
Zu grossen politischen Unternehmungen ist es wohl nicht die richtige Zeit. Eher für kleine, bedachtsame Schritte, aber keineswegs mut- und hilflos. Dafür mit Tatkraft und Zuversicht.

Blick von der Engelstrasse in die 1992 aufgehobene Altpoststrasse. Aufnahme um 1934.
 
Haus Merkur, Fassade gegen den See, nach der Aussenrestaurierung von 1992/93.

Morgen

Ich wünsche mir Lehrer, und es gibt sie glücklicherweise, denen es gelingt, der kommenden Generation lebensbejahende Grundwerte zu vermitteln, gleichzeitig aber auch, eine Leistung zu verlangen. Politikerinnen und Politiker wünsche ich den Willen, den Mut und die Kraft, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Uns allen, dass wir miteinander an unserem Staatswesen arbeiten, und unserer Demokratie wieder zum richtigen Stellenwert verhelfen.




Ueli Fausch
Gemeinderatspräsident 1992/93