DIE GEBURTSTAFEL ZEIGT EIN FREUDIGES EREIGNIS AN

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2007 von E. Magdalena Preisig

Storch draussen = Kindlein drinnen. Diese Gleichung gilt für die Geburtstafeln. Sie sind an Hausfassaden oder Balkongeländern befestigt und zeigen mit einem Storch, einem Baby oder einem anderen bei Kindern beliebten Sujet an, dass ein Kind zur Welt gekommen ist. Aufgetaucht sind diese Tafeln etwa in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Ein Massenphänomen sind sie nicht, und doch kann von einem neuen Brauch gesprochen werden. Über die Jahre habe ich mein Augenmerk auf die Tafeln gerichtet und bemerkt, dass sie zahlreicher werden. Den Anteil schätze ich auf zehn Prozent der Geburten, mit steigernder Tendenz. Wenn Wädenswil sich in der Berichtsperiode um 185 Neugeborene vermehrt hat, haben demzufolge etwa zwanzig Familien ihren Nachwuchs mit einer Tafel angezeigt.

NICHT WISSENSCHAFTLICH UNTERSUCHT

Auf der Suche nach möglichen Erklärungen und Hintergründen der Geburtstafeln lag eine Anfrage an das Institut für Populäre Kulturen an der Universität Zürich nahe. Doch dieses hat sich mit diesem jungen Brauch noch nicht befasst. Die Assis­tentin Gisela Unterweger erinnert sich allerdings an diverse Anfragen von Journalisten zu diesem Thema. Sie erklärt: «Wir sind ein kleines Institut und können nicht alle Bereiche abdecken.» De facto ist es, vorerst wenigstens, den Journalisten überlassen, ihre Entdeckungen und Recherchen zu diesem Thema in Artikel zu fassen. Silvia Gisler und Martin Clavadetscher zum Beispiel orten im «Höfner Volksblatt» vom 17. August 2007 den modernen Brauch «in Wohnquartieren am Laufmeter». Nichts über die Häufigkeit sagt Wolfgang Holz in der «Neuen Luzerner Zeitung» vom 21. Juni 2007. Er lokalisiert den Brauch im Luzernischen und im Bernbiet. Dort seien frischgebackene Eltern mit einer Tanne aus dem Wald überrascht worden. Der Autor be­zeichnet den Brauch deshalb als alt. Eine in der Nähe von Cham wohnhafte Herstellerin von Geburtstafeln lässt er sagen, heutzutage bekämen die Eltern eben Tafeln statt Tannen. Und oft möchten Eltern nicht auf eine geschenkte Tafel warten und holten sich gleich selber eine. Über die Gründe des neuen Usus mutmasst der Autor: «Immer weniger Kinder werden geboren. Umso mehr freuen sich Eltern über ihre Sprösslinge und lassen dies gerne alle wissen.»

URSPRÜNGE IN DER ZENTRALSCHWEIZ

Gemäss eigenen Beobachtungen und Recherchen ist der Brauch im Luzernischen und in den Gebieten der Kantone Schwyz, Zug und Aargau lebendig. Das sind vorwiegend katholische Gegenden, in denen die visuelle Kultur weit stärker verankert ist als in den reformierten Gebieten, wo Wort und Predigt mehr zählen. Da­durch, dass die Geburtstafeln in den katholischen Regionen oft an langen Stangen befestigt sind, ergibt sich eine Verbindung zu den Maibäumen. Um diesen Frühlingsbrauch, um das erwachende Leben nach der Winterszeit, ranken sich so viele Bräuche und Brauchdeutungen, wie es im Internet Webseiten darüber gibt. Fest steht, dass es schon in der vorchristlichen Zeit Frühlingsfeste gab. Und lange und hohe Objekte, die so genannten Menhire, stellten im angelsächsischen Raum schon die Kelten auf. Auch der Baum ragt himmelwärts und war in den westlichen, später auch in den christlichen Kulturen ein starkes Lebenssymbol, das mit Fruchtbarkeit, Wachstum und Erneuerung in Verbindung gebracht wurde. Naturverbundene Eltern vergraben noch heute nach der Geburt die Plazenta und lassen darauf einen Baum wachsen. Das taten schon die Kelten, um das gesunde Wachstum des Kindes mit einem starken Baum zu verknüpfen.
 

SCHAUEN, WAS IST

Da über die Herkunft des Geburtstafel-Brauches nur gemutmasst werden kann, ist es umso wichtiger, die tatsächlichen Beispiele auszuleuchten. Deshalb sensibilisierte ich mein Auge auf die überdimensionalen Geburtsanzeigen. Von den fünf angefragten Familien waren vier bereit, über ihr Geburtsschild zu erzählen. Eine Familie fand ich beim Besuch eines Treffpunktes für Mütter mit Krabbelkindern. Die Geburtstafel-Geschichten bilden den Schluss dieses Artikels.
 

ZEIGEN, WAS KOMMT UND ANGEKOMMEN IST

Der in Wädenswil lebende Kulturwissenschaftler Fritz Franz Vogel sieht die Brauchentwicklung als Folge der «Ich-Dekade», als welche die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Diese habe die Individualisierung des Menschen verstärkt. Da statistisch gesehen bei der schweizerischen Wohnbevölkerung die entsprechende Geburtenrate sinke, werde das Einzelkind zum Ein und Alles. «Es wird zum Fetisch stilisiert und mit vielen Wunschbildern ausgestattet», erklärt er das Bedürfnis der Eltern, das innerfamiliäre Ereignis öffentlich anzuzeigen. Dieser Trend habe die Kleidermode, und damit auch die Umstandsmode, beeinflusst. Nicht nur grundsätzlich wird mehr Bauch gezeigt. Auch schwangere Bäuche werden nicht mehr unter Zeltkleidern versteckt. Vielmehr darf sich der Bauch in seiner ganzen Form an den Kleidern abzeichnen. Statistisch gesehen bekommen Schweizer Frauen seit 1992 immer weniger Kinder. Die Geburtsrate liegt zurzeit bei 1,3 Kindern je Frau und Jahr. Umso grösser ist das Bedürfnis, eine Geburt anzuzeigen. Vogel findet, die Geburtstafeln hätten ihre Aufgabe dann erfüllt, wenn das Kind gehen könne und dadurch als eigene Person auch in der Nachbarschaft sichtbar werde.

HERZIGE MOTIVE

Die meisten Geburtstafeln bestehen aus Sperrholz, sind mit Baby- oder Tiersujets bunt bemalt und verkünden den Vornamen und oft auch das Geburtsdatum des Kindleins. Meist überrascht der Götti oder die Gotte des Kindes die Eltern mit der Geburtstafel. Die Tafel hat damit auch die Funktion eines Glücksbringers. Oft werden die Kinder einer Familie mit demselben Schild angekündigt. In einem anderen, weiter unten geschilderten Fall geht die Geburtsfigur von einer Familie zur andern. Eine Familie mit drei Kindern schmückte die Hauswand dreimal mit den gleichen Blumen, jedes Mal mit einem anderen Namen. Als Sujets sind all die herzigen Tiere zu sehen, die Kinder mögen: etwa Schnecken, Löwen, Schmetterlinge oder Käfer. Ein weiteres, beliebtes Motiv sind Blumen und natürlich Babys in allen Varianten. Vertreten sind auch viele Märchenfiguren des Fernsehzeitalters: Bugs Bunny, der Hase; Mickey und Minnie Mouse; die Biene Maja und der liebenswürdig-freche Kobold Pumuckel. Die Darstellungen sind durchwegs farbig und niedlich.

Dreimal hefteten Marco und Christine Canclini-Maurer Blumen ans Haus. Zum letzten Mal am 28. Dezember 2006 für ihre Pinia.

DER KLAPPERSTORCH

Eine besondere Stellung unter den Sujets nimmt noch immer der Storch ein. Er ist der Glücksbringer, der Frühlings- und Kinderbote Nummer eins. Noch im letzten Jahrhundert sagten manche Eltern ihren Kindern, der Storch habe das Brüderchen oder das Schwesterchen gebracht. Diese Aussage suggeriert, dass der Säugling – in einer Windel hängend – und vom Schnabel des Storches gehalten, den Eltern überbracht wird. Diese Darstellung widerspricht allen physischen Gesetzen, und doch hat sie sich eingebürgert. Im jungen Brauch der Geburtstafeln setzt sich die «Aufgabe» des Stelzenvogels fort. Höchstens, dass er soweit entlastet wird, dass er nur noch die Namentafel tragen muss. Dem Kinderbringer wird besondere Weisheit zugemessen, weshalb er als Meister Adebar in die Tierfabeln eingegangen ist. Der knapp ein Meter grosse Vogel lebt in Feuchtgebieten und frisst Frösche und Fische, Insekten und Mäuse. Die Vogeleltern pflegen und füttern ihre Brut gemeinsam. Als Zugvogel verbringt der Storch den Winter in Afrika. Weil zum Paarungsritual das Klappern mit dem Schnabel gehört, wird er auch Klapperstorch genannt. Etwa bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nistete er auf Kirchturmspitzen und Kaminen. Heutzutage sehen die Kinder den Vogel kaum je in der Natur, höchstens im Zoo.

GLÜCK VERKÜNDEN UND BRINGEN

Obwohl die Geburtstafeln auch als überdimensionale Geburtsanzeigen dienen, tangieren sie nicht den Brauch, per Post Geburtsanzeigen zu verschicken. Vielmehr ergänzen sie dies in augenfälliger und weithin sichtbarer Weise. Die Geburtstafeln können bis zu einem Meter gross sein. Die einen Eltern lassen die Tafeln jahrelang hängen, andere entfernen sie nach einem Vierteljahr. Für all jene, die nicht handwerklich begabt sind, fabrizieren künstlerisch Talentierte, Schreinereien oder Sozialprojekte Geburtstafeln und preisen sie im Internet an. Ihr Preis kann bis zu 150 Franken betragen. Vielfach stellen diese Betriebe auch Werbetafeln her. Als Anbieter waren sie denn auch die ersten, die für die neumodischen Geburtsanzeigen einen Sammelbegriff kreieren mussten. «Ge­burts­tafeln» ist der gebräuchlichste. Oft wird auch der Ausdruck «Geburtsschilder» verwendet. Sind die abgebildeten Sujets ihren Konturen nach ausgesägt, werden sie «Geburtsfiguren» genannt. Wie immer sie bezeichnet werden, sie wollen alle dasselbe: Kinderglück verkünden und dem Kinde Glück wünschen.

«DA, WO DER STORCH WOHNT, WOHNEN WIR»

Janic Deflorin, geboren am 24. Dezember 2006
Eltern: Reto (30) und Claudia Deflorin-Lange (30)
«Das Erklären unseres Wohnortes wurde einfacher, weil wir auf den Storch verweisen konnten», sagt Claudia Deflorin, die Mutter des kleinen Janic. Bevor der fast metergrosse Storch am Geländer der Terrasse vor ihrem Haus befestigt war, musste das junge Paar den Eingang ihres Reihenhauses genau beschreiben. «Jetzt genügt es zu sagen: ‹Beim Storch!»
Janics Götti hatte das Glückssymbol als Geschenk zur «Eintrinkete» für den neuen Erdenbürger mitgebracht. Sie fand im Freundeskreis und am Abend statt, bevor seine Frau mit dem Neugeborenen aus der Klinik nach Hause kam. Das Befestigen des Storches aus Sperrholz gehörte zum Ritual des Abends.
Die Geburtsfigur hat der Götti in Handarbeit hergestellt, ausgesägt und in den Farben Weiss, Rot und Schwarz bemalt. Zusammen mit einer separaten Tafel mit dem Vornamen und dem Geburtsdatum des Söhnchens, ergab die Installation eine überdimensionale Geburtsanzeige. Sie wirkte. «Wir wurden auf der Strasse oft auf unser Kind angesprochen», sagen die Beiden übereinstimmend. Sie empfinden ein Kind als Geschenk, ja als ein Wunder. Auch wenn es nicht am Heiligabend zur Welt kommt, wie Janic.
Am Heiligabend kam bei Deflorins der Storch vorbei und brachte den kleinen Janic.

«Am liebsten wäre ich vor Freude von Tür zu Tür gegangen, um unser frohes Ereignis zu verkünden», sagt der 30-jährige stolze Vater. Die Idee einer Installation am Haus gefällt ihm gut. «Als Götti würde ich etwas Ähnliches kreieren», hat er schon beschlossen. Den Storch wollen sie entfernen, wenn Janic vier Monate alt ist.
 

«ES SÜNELI FÜR DE THEO»

Theo Erdlen, geboren am 4. Dezember 2006
Eltern: Michael (37) und Claudia (35) Erdlen-Wölfle
«Ich ha mir es Süneli gwünscht», sagt Claudia Erdlen-Wölfle, die 35-jährige Mutter des sieben Monate alten Theo. Diesen Wunsch hatte sie für die Geburt ihres ersten Kindes ausgesprochen. Es war ein Mädchen namens Eline. Ihr Götti stammt aus dem Luzernischen. Die strahlende und lachende Sonne jedoch bastelte Elines Onkel. Der Papa selbst und sein 8-jähriger Göttibub bemalten sie. Zusammen mit einer Namenstafel baumelte das «Schildli», wie das junge Paar die Geburtstafel nannte, an der Nordfassade des Hauses. Obwohl es hoch über der Neudorfstrasse hängt, sahen es die Leute. Das fanden Erdlens ganz kommod: «Wenn wir den Leuten begegneten, wussten sie schon, dass wir ein Mädchen bekommen hatten.» Drei Monate liess das Paar die Geburtsanzeige am Haus hängen, dann verschwand das «Schildli» im Estrich.
Hervorgeholt hat Michael Erdlen, der 37-jährige Familienvater, die Sonne wieder, als das zweite Kind, ein Bub, zur Welt kam. Er findet, eine Geburtstafel vereinfache vieles: «Sie beantwortet schon mal die Fragen nach dem Geschlecht und dem Namen des Kindes.» «Theo» stand auf dem neuen Namenstäfelchen.
Das «Süneli» strahlte zweimal: erst für Eline und im übernächsten Jahr für Theo Erdlen.

Es waren die heftigen Frühlingsstürme, die das Paar bewogen, die Geburtsanzeige an der Hauswand vor Ablauf der drei Monate herein zu nehmen. Und für ein Familienfoto samt «Süneli» montierten sie es kurzfristig noch einmal auf der Terrasse.
 




E. Magdalena Preisig