Wädenswil 1893: Strom für Licht und Kraft

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1993 von Christian Rogenmoser

Rund um den Eiffelturm erstrahlt Paris im neumodischen Licht elektrischer Lampen. Edisons Erfindung der Glühlampe hat den Weg über den grossen Teich gefunden. Bereits einige Jahre früher, an der ersten elektrizitätstechnischen Weltausstellung von 1881, hatte der «Wizard of Menlo Park» die 1879 patentierte Erfindung vorgestellt. Eine Sensation! Jetzt aber kam das elektrische Licht erstmals im grossen Stil zum Einsatz.
Staunend und suchend bahnen sich Walter und Jakob Treichler aus Wädenswil ihren Weg durch die verwunderten Besucher der Weltausstellung von 1889. In der Schweiz grassiert zu dieser Zeit eine massive Teuerungswelle. Die Kohlenpreise steigen, Kohle wird allmählich knapp. Deshalb haben sich die Wolltuchfabrikanten Treichler nach Paris aufgemacht, wo die neuartige Energie namens Elektrizität erstmals in Europa einem breiten Publikum vorgestellt wird. In der Schweiz hat diese Energie erst an einzelnen Orten Einzug gehalten. Eine Aura aus Angst und Unverständnis umgibt die geheimnisvolle Kraft, welche geruch- und geschmacklos, unsichtbar und unhörbar ist und bei unvorsichtigem Gebrauch heftige Schläge austeilen kann. Walter und Jakob Treichler sind schnell begeistert von der Aussicht, aus einheimischem Wasser eine eigene saubere Energie für vielfältige Einsatzzwecke produzieren zu können. Elektrizität heisst ihre Lösung für das leidige Kohleproblem.

VOM GAS ZUM STROM

Seit 1874 produzierte das Wädenswiler Gaswerk, damals fortschrittlich Gasanstalt genannt, das sogenannte Stadtgas. Das Privatunternehmen übernahm auch die Aufgabe der öffentlichen Beleuchtung von der in finanziellen Schwierigkeiten steckenden «Dorfbeleuchtungsgesellschaft». Die 28 Öllaternen konnten ausser Betrieb genommen werden. Fortan versorgte ein Leitungsnetz von 6 Kilometern Länge die Einwohner und Betriebe mit Koch- und Leuchtgas. Bald schon brannten über 1000 Gasflammen in den Wädenswiler Fabriken und Wohnhäusern. Die gasbetriebenen Laternen galten als grosser Fortschritt. 72 Gaslampen erhellten von der Dämmerung bis ungefähr um 10 Uhr nachts die Strassen und Gassen des Dorfes. In den Anfangsjahren produzierte man aus 300 Tonnen bester Steinkohle aus dem Saarland rund 90000 m3 Gas. Die Kohle kam weiterhin in den Dampfmaschinen der Fabriken zum Einsatz. Ratternde Transmissionen übertrugen die Kraft auf die einzelnen Maschinen und kosteten wohl manchem Arbeiter einen Finger oder einen ganzen Arm.
Gegen Ende des Jahrhunderts produzierten rund 70 meist kleinere «Gasanstalten» in der Schweiz Koch- und Leuchtgas. Mit der Elektrizität erwuchs ihnen rasch eine zunehmende Konkurrenz. In dieser Phase des technischen Übergangs bäumte sich das Gas nochmals auf. Der Wiener Chemiker Carl Auer von Welsbach erfand den Gasglühstrumpf. An Leuchtkraft übertraf die gleissende Neuheit die stärksten elektrischen Lampen bei weitem und verbrauchte dabei erst noch fünfmal weniger Gas. Eine Art Gassparlampe war geboren und kämpfte noch während einiger Jahre um die Vorherrschaft bei der Beleuchtung. Auer selbst erfand wenig später aber das probate Gegenmittel gegen das rauchende Gaslicht. Der neue Metallfaden für elektrische Glühlampen machte den Gaslampen den Garaus und schickte sie sukzessive ins Museum. Als dann 1910 die ersten Osram-Lampen 75 Prozent weniger Strom verbrauchten, war der Kostenvorteil der Gasbeleuchtung endgültig wettgemacht. Der Siegeszug der Elektrizität setzte mit voller Kraft ein.

WASSERSUCHE

Doch zurück zu den Wädenswiler Wolltuchfabrikanten. Die Faszination der Elektrizität liess sie nicht mehr los. Bereits seit 1878 brannten im «Engadiner Kulm» des Hoteliers Joachim Badrutt die ersten Glühlampen der Schweiz. Zum 600-Jahr-Jubiläum der Schweiz führten die Stadtberner die elektrische Strassenbeleuchtung ein. Und auch an einigen anderen Orten machte die Elektrizität den herkömmlichen Gas und Kohle Konkurrenz. Warum also nicht auch in Wädenswil?
Zuerst galt es, ein geeignetes Gewässer zu finden. Die Wädenswiler Dorfbäche mit ihrer meist geringen Wasserführung erschienen als ungeeignet. Aber 10 km weiter frass sich die Sihl durch ihr enges Tal. Auf einer Flußstrecke von 4 km, zwischen der Hüttner Säge und dem Sihlmätteli, müsste sich das Gefälle von rund 70 Metern nutzen lassen. Hier wollten die Treichlers den Strom für ihre Fabrik produzieren. Damit war der erste Schritt zum Kraftwerk Waldhalde getan, welches wenige Jahre später das 60. Elektrizitätswerk der Schweiz war, mit einer installierten Leistung von 2000 PS (1400 kW) aber das weitaus grösste.
Die Pläne hatten sich schon bald herumgesprochen. Die neue Kraft erzeugte eine neue Solidarität. Schliesslich forderte schon Dichterfürst Goethe «Mehr Licht!» Nun aber sollten alle von der Entwicklung profitieren können, nicht nur die mondänen Hotels der ersten Pioniere. Die Wasserkapazität der Sihl, das zeichnete sich bald einmal ab, könnte auch Stromlieferungen an die Gemeinden am linken Seeufer erlauben.

Zu den Treichlers gesellten sich daher bald weitere Interessenten: der Wädenswiler Textilfabrikant Emil Gessner, der Gemeindepräsident und spätere Bundesrat Robert Haab und schliesslich auch der Thalwiler Seidenfabrikant Julius Schwarzenbach. Ergänzt wurde die Kerngruppe schrittweise mit Emil Hauser (Wädenswil), Oberst C.C. Ulrich (Zürich), Schmid-Pfister (Richterswil), Vogel-Fierz und R. Bruppacher (beide Zürich). Diese Herren bildeten dann auch den ersten Verwaltungsrat der am 29. Mai 1893 gegründeten «Aktiengesellschaft Elektricitätswerk an der Sihl». Als Sachverständigen verpflichteten sie den 1862 in Zürich geborenen Walter Wyssling. Er sollte die Planungsphase begleiten und später den Bau des Werkes übernehmen.
Walter Wyssling absolvierte eine Lehre als Schlosser, um sich später als Physiklehrer zu betätigen. Etwas später findet man ihn bei der Zürcher Telefongesellschaft. Um 1888 wirkte er als Konstrukteur für Gleichstromgeneratoren bei der Schweizerischen Lokomotiven-und Maschinenfabrik in Winterthur. In Zürich leitete er 1891 den Bau des ersten Flusskraftwerkes im Letten. Sein persönliches Interesse für den Strom und sein Einsatz für die neue Energie machten ihn schliesslich zu «Mr. Electricity» in der Schweiz. Davon profitierte auch der Bau des Kraftwerkes Waldhalde, welcher im Sommer 1893 beginnen sollte. Bis dahin war aber noch ein weiter Weg, gespickt mit allerlei technischen, politischen und administrativen Hindernissen.

Professor Walter Wyssling (1862–1945), «Mr. Electricity» in der Schweiz.
 
Bau von Wehr und Stolleneingang bei der Hüttner Sihlbrücke, 1894.
 
Der künstlich angelegte Tiefenbach-Weiher, 1894.

Maschinenhaus an der Waldhalde, 1895.

Maschinensaal des Werks Waldhalde, 1910.

STREIT UM WASSERRECHTE

Die Initianten beauftragten die Zürcher Baufirma Locher & Co. mit dem Aus­arbeiten eines ersten Projektes. Dieses sah bei der Hüttner Säge ein Wehr mit umlegbaren Brettern vor und einen bergmännisch zu erstellenden, begehbaren Stollen von 2195 m Länge und 2,48 m2 lichtem Querschnitt. Mit einem minimalen Gefälle von knapp zwei Metern sollte dieser Stollen das Sihlwasser zu einem Wasserschloss oberhalb der Waldhalde leiten. Von dort stürzte sich das Wasser durch eine eiserne Druckleitung auf die Turbinen im Maschinenhaus am Sihlufer.
Die Vergabe von Wasserrechten war schon vor 100 Jahren ein hochbrisantes Politikum. Die Sihl bildet in jenem Abschnitt die Grenze zwischen den Kantonen Zug und Zürich. Die Zuger Regierung verzögerte eine Einigung, um Zeit für ein eigenes Projekt zu gewinnen. Erst sieben Jahre später, am 4. Februar 1897, erhielt das neugegründete «Zugerische Sihlwerk» die Erlaubnis zur Wasserkraftnutzung. Zu jenem Zeitpunkt produzierte das Kraftwerk Waldhalde bereits seit zwei Jahren. Der wegen der Wasserrechte entbrannte Streit zwischen den Nachbarkantonen wurde bis vors Bundesgericht getragen und schliesslich im Jahre 1904 durch einen Vergleich beigelegt. Ende 1892 forderte der Kanton Schwyz ein Bauverbot. Die Schwyzer befürchteten, durch den Stollen in unmittelbarer Nähe des Hüttnersees würde diesem Wasser entzogen. In Wirklichkeit darf auch in diesem Fall angenommen werden, dass eher ein eigenes Projekt mitgespielt hat. Auch die weiter sihlabwärts angesiedelten Industriebetriebe fürchteten um ihr Wasser. Die spätere Konzession sicherte ihnen schliesslich ganzjährig eine minimale Restwassermenge zu.
Einsprachen und Detailplanung führten zu diversen Projektänderungen. Die Wasserfassung wurde etwas sihlaufwärts als gemauertes Werk erstellt. Dadurch verlängerte sich der Zuleitungsstollen, neu mit einem Knick um den Hüttnersee herumgeführt, auf 2206 m. Er wies nun bei einem Gefälle von 1 Promille eine Schluckfähigkeit von etwa 3 m3/s auf. An die Stelle des Wasserschlosses trat ein künstlicher See: der Tiefenbachweiher mit rund 220 000 m3 Inhalt. Als Weiherabschluss plante man einen 15 m hohen Erddamm, der an der Basis 65 m dick war. Von hier sollten 7,3 m lange, genietete Rohrschüsse aus 5 mm dickem Siemens-Martin-Flusseisenblech zum kleinen Grat an der Waldhalde leiten. Dort nimmt ein 21 m hoher Expansionsschacht die Druckstösse auf, welche beim Abschalten der Turbinen entstehen. Der schwierigste Teil der Leitung, die eigentliche Druckleitung, führt von der Höhe der Waldhalde an den neu gewählten Standort des Maschinenhauses am Sihlufer. Bei 62,8 Prozent weist die Druckleitung aus bis zu 13 mm dickem Blech eine Länge von 110 m auf. Im Maschinenhaus sind fünf Girard-Turbinen zu 400 PS vorgesehen, direktgekuppelt mit fünf Zweiphasengeneratoren von Brown Boveri. Für die ganze Anlage wurde eine Bausumme von rund 1,6 Millionen Franken errechnet. Kapital, das zuerst aufgetrieben werden musste.

WÄDENSWIL ENGAGIERT SICH

Trotz der moralischen Unterstützung aus der Region scheint die Initianten im Hinblick auf die Finanzierung eine gewisse Skepsis befallen zu haben. Sie weiteten die Kapitalsuche über Zürich bis nach Basel aus. Für die Gründung einer Aktiengesellschaft sollten 1400 Aktien zu 500 Franken Nennwert ausgegeben werden, das restliche Kapital war in Form von Obligationen vorgesehen. Die Subskription fand vom 25. bis 27. April 1893 bei vier Bankinstituten statt. Aus Wädenswil beteiligte sich die Leihkasse, in Zürich die AG Leu & Co. Dazu gesellten sich die Basler Bankhäuser der Herren Speyr & Co. und Riggenbach & Co. Der überraschende Erfolg der Subskription lässt auch Rückschlüsse zu auf den damaligen Zukunftsglauben und die herrschende Aufbruchstimmung. Innert vier Tagen wurde das vorgesehene Aktienkapital massiv überzeichnet. Allein aus Wädenswil wollten sich 73 Aktionäre mit total 533 Aktien beteiligen. 1045 Aktien verteilten sich auf das Gebiet rund um den Zürichsee, und in der Stadt Zürich konnten 612 Aktien plaziert werden. Einen Monat später, am 29. Mai 1893, konstituierte sich die «Aktiengesellschaft Elektricitätswerk an der Sihl» mit einem Aktienkapital von einer Million Franken. Die verbleibenden 600000 Franken wurden durch Obligationen beigebracht. Damit war der Startschuss für den Bau des Elektrizitätswerkes gegeben. Die Arbeiten begannen im Herbst 1893 und sollten etwa zwei Jahre dauern. Wädenswil war auf dem besten Weg, sich der Reihe fortschrittlicher Gemeinden anzuschliessen, die bereits über Elektrizität verfügten oder kurz vor deren Einführung standen. Seit 1887 rumpelte zwischen Vevey und Montreux die erste elektrische Strassenbahn der Schweiz. In Zürich löste die elektrische Trambahn das erst zwölf Jahre alte Rösslitram ab. Der Siegeszug der Elektrizität war nicht mehr aufzuhalten.





Christian Rogenmoser




LITERATURVERZEICHNIS

Geschäftsbericht der Aktiengesellschaft Electricitätswerk an der Sihl.
Peter Ziegler, Wädenswil, Bd. 2, Wädenswil 1971.
Jubiläumsschrift «50 Jahre Elektrizitätswerke des Kantons Zürich», 1958.
EKZ-Bericht über die Erneuerung des Werkes Waldhalde, 1967.
Sonderdruck aus Bulletin SEV, 1969, Nr. 25.
Hans Peter Treichler, «Die stillen Revolutionen», Zürich 1992.