GRUSS AUS WÄDENSWEIL - EINE SAMMLUNG VON ANSICHTSKARTEN AUS WÄDENSWIL

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1997 von Hans Scheidegger

Bis zur Orthographiereform von 1902 erscheint unser Dorf, welches seinen Namen von einem Alemannen namens Wado oder Watto ableitet, als Wädensweil auf Ansichtskarten und Stempeln; seither heisst es Wädenswil. Natürlich sind auch noch Jahre später Karten mit dem alten Namen verkauft und verschickt worden.
Fotos aus dem früheren Wädenswil existieren zu Tausenden; an echten Ansichtskarten dürften kaum mehr als eintausend hergestellt worden sein. (Bilder von Umzügen, von Firmung oder Konfirmation usw., also Fotos, denen man einfach auf der Vorderseite ein paar Adresslinien aufgedruckt hat, zählen nicht; sie wurden auch kaum je verschickt.)
Ansichtskarten unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von «gewöhnlichen» Fotos.
- Sie geben neben dem Bildinhalt Auskunft über Verordnungen und Leistungen der Post.
- Sie sind in ganz verschiedenen Techniken gedruckt worden. Die verschickten Karten enthalten Texte
- Bildauswahl und Gestaltung der Karten verraten den Zeitgeschmack.
 
Aber: Die Bildauswahl ist beschränkt; man zeigte, was einem wichtig war; man druckte, was die Leute kaufen wollten: das Neue, das Moderne, das Zukunftgerichtete. (Deshalb erscheinen die heute so beliebten Fachwerkhäuser als Einzelobjekte kaum je auf Karten.)
 

SAMMELN VON ANSICHTSKARTEN

Schon im letzten Jahrhundert wurden − vorab von Mädchen − Ansichtskarten gesammelt. Freundinnen schickten einander aus den Ferien, vom Ausflug, von der Reise möglichst seltene Karten, die sie in prachtvoll verzierte Alben steckten. − Man lebte eben damals noch ohne die heutige Bildüberflutung; Fotografieren war mit den schweren, hölzernen Kästen auf Stativ umständlich und − sehr teuer. Auf einer meiner Karten steht: «Liebes Berti! Diese Karte hast Du bestimmt noch nicht in Deinem Album.» (Berti erhielt ein besonders schönes Exemplar von der Halbinsel Au.)
In den letzten Jahren ist auch das Sammeln von Ansichtskarten wieder aufgekommen, wobei natürlich mit ganz verschiedenen Zielen gesammelt wird: als Ergänzung der Briefmarkensammlung, aus Interesse am Postalischen, an Porti, an Marken, an Stempeln aller Art; Motivsammlungen sind gross in Mode gekommen; es werden Karten mit Abbildungen von Kutschen gesucht, von Eisenbahnen, Bergen, Soldaten, Raubvögeln, Alpenblumen usw.
In die vorliegende Sammlung werden nur Karten von Wädenswil, selbstverständlich samt Ort und Au, aufgenommen. Die grosse Nachfrage hat natürlich die Preise in die Höhe getrieben. Als ich vor gut 25 Jahren zu sammeln anfing, habe ich für viele Karten weniger als 10 Franken pro Stück bezahlt; heute sind mir auch schon zugegeben besonders hübsche − für 350 bis 400 Franken angeboten worden. (Ich habe sie allerdings nicht gekauft!)

EINE KARTE ERZÄHLT

Sie ist an den Ecken bestossen und ist offenbar lange Zeit an gut sichtbarer Stelle aufbewahrt worden; davon zeugen die Reissnägellöcher. Das Bild zeigt den Blick von der Schlossgass gegen das Dorf. Vermutlich hat dem Zeichner eine Foto vorgelegen; das Dorf ist jedenfalls sehr sorgfältig gearbeitet, das rechte Seeufer erscheint dagegen nur noch als unstrukturiertes Band, und auf den See hat er irgendwelche Schiffe gezeichnet, darunter auch eines mit zwei hintereinanderliegenden Kaminen. So etwas ist meines Wissens auf dem Zürichsee nie gefahren.
Das Bild steht in einem Rahmen; ein hübsches Vergissmeinnicht-Sträusschen in Prägedruck schmückt ihn, ein paar Blütchen sind abgefallen. Der Absender hat seinen Text auf die Bildseite der Karte geschrieben:

L.J. Ein Kärtchen aus Freundeshand
Als kleines Liebespfand
Mit Gruss u. K. Jacques
Blick vom Schloss gegen das Dorf, zirka 1903.
 
Warum auf die Bildseite? Ab 1873 erlaubte die UPU (Union postale universelle-Weltpostverein) die Herausgabe privater «Correspondenzkarten», also das, was wir Postkarten nennen. Sie bestimmte aber, dass die Vorderseite ausschliesslich für Adresse, Marke und Stempel reserviert sei; die Rückseite war frei verwendbar, für Text und/oder Bild. Erst ab Dezember 1903 durfte die Vorderseite halbiert werden, sodass dort Platz für einen kurzen Text zur Verfügung stand, genauso, wie wir es von den heutigen Ansichtskarten her kennen. Vorher musste eben der Text auf der Bildseite angebracht werden. Die Handschrift des Verfassers zeigt ein hübsches Durcheinander zwischen deutscher und lateinischer Kurrentschrift, gut erkennbar etwa im Wort Kärtchen, dessen erste drei Buchstaben in lateinischer Schrift erscheinen, das t ist in beiden gleich, und die letzte Silbe ist deutsch geschrieben. Die Karte stammt eben aus der Zeit der Umstellung.
Auf der Vorderseite die Adresse: Fräulein Julie Gimpel in Basel. Die Fünfermarke ist am 21.9.1905 um 9 Uhr abgestempelt. Weil Datum und Zeit auf der Marke oft schlecht lesbar waren, musste der Abgangsstempel auf einem freien Platz nochmals geschlagen werden; links unten ist das Datum sehr schön sichtbar. Der Ankunftsstempel von Basel steht auf dem Kopf. Er trägt das Datum vom 22.9.1905, 8 Uhr. In einem Tag ist also die Karte nach Basel befördert worden.
Das Inlandporto betrug ab 1870 5 Rappen, 1918 wurde es auf 7½ Rappen erhöht und 1921 auf 10 Rappen; also zunächst zahlte man während 48 Jahren 5 Rp., dann verdoppelte sich der Preis innert dreier Jahre und blieb dann 39 Jahre lang (bis 1960) gleich hoch. Das Porto von 72 Rappen veranlasste die PTT, Marken zu 2½ (für jene Kunden, die noch einen Vorrat an Fünfermarken besassen) und zu 7½ Rappen herauszugeben.
Adressseite obiger Karte.
 
Verlegt hat die Karte Arnold Eschmann aus Wädenswil, gezeichnet und gedruckt wurde sie aber von der «Kunstanstalt Rosenblatt, Frankfurt a.M.». Daher das Schiff mit den beiden Kaminen: als Angehöriger einer seefahrenden Nation waren dem Frankfurt Zeichner Meerschiffe mit mehreren Kaminen vertraut, dass sie auf dem Zürichsee fehl am Platze waren, konnte er nicht wissen.
Im Folgenden sollen nun einige Aspekte der Kartensammlung anhand ganz weniger Beispiele dargestellt werden.

MEHR EINWOHNER – NEUE QUARTIERE

Wädenswils Bevölkerung ist schubweise zahlreicher geworden; das zeigt ein Blick in die Statistik.
1836      5094 Einwohner
1880      6209 Einwohner
1910      9067 Einwohner
1950    10155 Einwohner
In den 30 Jahren zwischen 1880 und 1910 stieg die Bevölkerungszahl um 46 Prozent. Das ist die Zeit der grossen Industrialisierung; Menschen aus der Innerschweiz, aus dem Tessin, aus Italien und Deutschland zogen zu uns, um in der Industrie Arbeit zu finden. Für sie mussten Wohnungen gebaut werden; es entstanden neue Quartiere, an der Oberdorf- und der Stegstrasse sowie das Neudorf an Glärnisch- und Neudorfstrasse.
Das kleine Bild rechts zeigt den Blick von der Fuhrstrasse gegen Norden. An der Gabelung von Oberdorf- und Zugerstrasse steht ein einzelnes Haus, das Haus «Freieck». Dahinter stehen die neuen Häuser an der Neudorf- und der oberen Glärnischstrasse, eben das Neudorf. Im Hintergrund rechts ist Gessners Bürgli zu erkennen. Die Karte stammt aus den ersten Jahren unseres Jahrhunderts, sie ist am 1. November 1905 verschickt worden. Der Schwungvolle Rahmen, Kleeblätter und Schweizerfahne sind in farbigem Prägedruck hergestellt, das Bild schwarz-weiss. Diese Karte ist auch von vielen anderen Gemeinden her bekannt, man hat − in einem zweiten Durchgang − das Bild und den Titel «Neudorfquartier m. Bürgli» hineingedruckt. Dieses Verfahren der Eindrucke machte die Karten billiger; es ist zu Anfang des 20. Jahrhunderts sehr oft praktiziert worden.
Das Neudorf um 1900.
 
Die nebenstehende Karte ist kurz nach der Einweihung des alles überragenden GIärnisch-Schulhauses, also nach 1909, hergestellt worden. Ganz im Vordergrund ist ein Fabrikgebäude zu sehen, darin sind von 1926 bis 1937 Schallplatten gepresst worden; heute dient das umgebaute «Auerehuus» der Pfingstgemeinde. Rechts anschliessend das Haus der Buchdruckerei Villiger an der Oberdorfstrasse mit dem Anbau des Fotoateliers Listenow. Im Hintergrund wiederum die Häuser an der oberen Glärnischstrasse. Die beiden vorderen sind von Privaten erstellt worden, die hinteren, etwas kleineren, von der Seidenweberei Gessner, welche sie in der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre hat verkaufen müssen.
Neuerstelltes Schulhaus Glärnisch, Karte um 1909.

FÜRSORGE

Im letzten und zu Anfang unseres Jahrhunderts war die Fürsorge fast ausschliesslich privat organisiert. Manche dieser Institutionen sind das auch heute noch; als einziges Beispiel sei der Pestalozziverein erwähnt. Bei der Gründung der verschiedenen Fürsorge-Vereine haben auffallend viele Frauen mitgewirkt, so regte 1877 Elisabeth Rellstab die Gründung eines Spitals an (und präsidierte den Verein lange Jahre) und Anna Schnyder-Blattmann gab den Anstoss zur Einrichtung einer Kinderkrippe.
1886 konnte der Asylverein an der Schönenbergstrasse das erste Krankenhaus − damaligem Gebrauch entsprechend «Krankenasyl» genannt − mit 26 Betten einweihen. Der Bau gehört noch heute zum Wädenswiler Spital. Derselbe Verein trug sich längere Zeit mit dem Gedanken, ein Altersheim zu führen und äufnete zu diesem Zweck einen Altersheimfonds, der 1903 die stattliche Summe von 87‘400 Franken enthielt. 1904 erstellte Baumeister Dietliker an der Kreuzung Rotweg/Fuhrstrasse das Zweifamilienhaus «Fuhreck» und bot es dem Asylverein nietweise an. So konnte 1905 das Altersasyl eröffnet werden. Nach zwanzig Jahren − der Platz war mittlerweile immer knapper geworden − konnte 1928 das neue Altersheim auf der hintern Fuhr eingeweiht werden.
Der Fotograf Listenow hat das Altersasyl mehrmals aufgenommen. Die vorliegende Foto entstand einige Jahre nach der Eröffnung. Man erkennt das an den grossen Büschen im Vordergrund, denn auf der frühesten Aufnahme sind sie kaum erst meterhoch. − Heute dient das Gebäude als Wohnhaus.
Altersasyl an der Fuhrstrasse, Aufnahme um 1910.

VERFÄLSCHTE BILDAUSSAGE

Wer Ansichtskarten verschickt, möchte dem Empfänger etwas Schönes zeigen können. Da liegt die Vermutung nahe, die Kartenhersteller hätten der Wirklichkeit wacker nachgeholfen. Das ist aber nur bedingt der Fall. Nur auf alten Karten, die ohnehin gezeichnet werden mussten − meist anhand einer fotografischen Aufnahme − ist die Wirklichkeit hie und da verfälscht worden, vorab bei der Darstellung von Industriebetrieben oder Ausflugszielen.
Brauerei Wädenswil: Die Fabrikationsgebäude und die den Brauereibesitzern gehörenden Häuser sind zwar, mit Ausnahme der recht bescheiden wirkenden Fabrikantenvilla, etwas arg gross geraten aber dennoch recht getreu wiedergegeben. Der Wasserfall des Giessbachs aber schäumt auch nach dem heftigsten Gewitter nicht derart mächtig, und die Burgruine ist wohl wegen des Brauerei-Besitzers Fritz Weber-Lehner, der sich sehr für ihre Erhaltung einsetzte, so gross geraten. – Die Halbinsel Giessen, auf welcher auch damals bereits der umfangreiche Gebäudekomplex der Tuchfabrik Pfenninger stand, ist auf einen idyllischen, baumbestandenen Landvorsprung reduziert. − Die Karte zeigt einen aus kleinen Anfängen gewachsenen Fabrikationsbelrieb mit einer grossen Anzahl Erweiterungsbauten im jeweiligen Stil ihrer Baujahre. Oft ist dann in neuester Zeit ein rationeller Betriebsablauf in den alten Gebäuden nicht mehr möglich: auch ein Grund, weshalb solch alte Betriebe oft aufgelassen worden sind. − Der Text richtet sich an einen Dienstkameraden; die Karte ist im Jahre 1915 aufgegeben worden. «Prosit! Ein Glas unseres feinen Gerstensaftes auf das Wohl unserer treuen Kameradschaft! «Sta bene», heisst es da.
Stark von der Wirklichkeit abweichende Ansicht der Brauerei, um 1910.

HERSTELLUNG DER KARTEN

Die fotografische Aufnahme war schon zu Beginn der Ansichtskarten-Produktion im letzten Jahrhundert Grundlage für das Bild. Kleine Auflagen wurden vom Glasnegativ im Tageslicht-Kopierverfahren hergestellt. Grössere Auflagen wurden aber gedruckt.
Lithographie: Der Name kommt aus dem Griechischen; lithos heisst der Stein, graphein bedeutet zeichnen. Als Druckträger diente ein flacher, gekörnter Jurakalkstein. Anhand von kolorierten Vorlagen (Farbfotos waren noch unbekannt) wurde für jede Farbe ein eigener Stein mit Fettkreide, Tusche und Federehen vorbereitet. Dieses Verfahren − die Hand- oder Chromolithographie − ist sehr aufwendig, bringt aber wunderschöne Drucke.
Photochromie: In Terpentin und Benzol aufgelöster Asphalt ist lichtempfindlich. Man goss eine solche Schicht auf die gekörnten Lithosteine, belichtete sie durch das Glasnegativ hindurch an der Sonne oder mit der Bogenlampe; dann wurden die Steine entwickelt. Auch bei dieser Technik ist für jede Farbe ein eigener Stein erforderlich. Man druckte die manchmal zehn bis sechzehn Steine in der Reihenfolge hell, mittel, dunkel. – Die meisten alten Ansichtskarten sind in diesem Verfahren hergestellt worden.
Lichtdruck: Gekörnte Glasplatten wurden mit einer Emulsion aus Gelatine und lichtempfindlichen Substanzen begossen. Die trockenen Platten wurden dann belichtet und mit Wasser entwickelt. Dieses Verfahren lässt nur relativ kleine Auflagen zu.
Tiefdruck: In Kupferplatten werden durch Ätzung oder mit der Nadel Vertiefungen angebracht. Die eingefärbte Platte muss abgewischt werden, sodass nur in den Vertiefungen mehr oder weniger Farbe liegt. Sie wird beim Pressen vom feuchten Papier aufgenommen. Auch hier gilt: pro Farbe eine Platte.
Buch- oder Hochdruck: Ein Klischee, vergleichbar einem Stempel, bringt die Farbe aufs Papier. Dieses Verfahren wurde für Ansichtskarten selten verwendet ausser für kleine Texteindrucke in vielerorts verwendbare Karten.
Daneben wurde eine grosse Anzahl kombinierter Druckverfahren angewendet.

MENSCHEN AUF ANSICHTSKARTEN

Auf den Karten meiner Sammlung spielt das Abbild des Menschen eine eher untergeordnete Rolle − Ausnahmen bilden die vielen Fotos von Umzügen; aber die zählen wir nicht zu den Ansichtskarten; sie wurden und werden im Album aufbewahrt und kaum verschickt −, Hauptmotiv sind sie nirgends. Wo sie auf alten Karten erscheinen, sind sie entweder nachträglich hineingezeichnet worden, sind sie gestellt (denn Schnappschüsse liessen sich mit den damaligen Kameras auf Stativen kaum machen), oder es sind neugierige Kinder und Erwachsene, die auch aufs Bild wollten.
Hie und da verdeutlichen die Menschen den Bildinhalt. So zeigen auf einer Foto der 1905 abgebrochenen Säge am Sagenrain die Arbeiter ihre Werkzeuge, vor dem Velogeschäft Meier im Haus «zum Zyt» an der Seestrasse startet ein Junge eben zu einer Velofahrt, ein Wirt präsentiert sich im Sonntagsgewand vor der Gasthaustüre, oder die ganze Belegschaft steht herausgeputzt in Reih und Glied vor dem Verkaufsladen usw.
Gelegentlich verdeutlicht der Mensch auch die Bildaussage. Der nachträglich in die farbige Karte hineingezeichnete Ruderer verstärkt die Feierabendstimmung, die über See und Dorf liegt, und die beiden stillen Betrachter der Aussicht von der Schlossterrasse auf das Dorf vermitteln Ruhe und Beschaulichkeit.
Als der Fotograf den Bazar von J. Schubiger im noch heute bestehenden Haus «Fortuna» aufnehmen wollte, was mit den damaligen Geräten viel Zeit in Anspruch nahm, eilten Neugierige hinzu und posierten sittsam bis herausfordernd vor der Kamera. − Die Balkone ganz links gehören zum damals neuen Postgebäude, das nächste Haus steht noch heute, alle übrigen sind abgebrochen worden. Im Garten vor der Fortuna wurde 1906 der bergseitige Teil des Hauses «Merkur» erstellt. (Die Karte ist am 16. Juli 1900 aufgegeben worden.)
Seestrasse, Blick seeabwärts. Aufnahme kurz vor 1900. Im Zentrum das Haus «Fortuna».

Um die Schönenbergstrasse vor der Bäckerei von P. Schaerer-Blesy (heute Leo Gantner) ein wenig zu beleben, hat der nicht eben sehr begabte Zeichner einige Menschen hingesetzt, ein Kind, zwei Paare − die Frauen je mit grossem, hellem Sonnenschirm − einen Velofahrer und im Hintergrund einen weiteren Menschen, alle eigentlich ohne Bezug zum Karteninhalt, reine Staffage.
Schönenbergstrasse, heutige Bäckerei Gantner.
 

TEXTE AUF KARTEN

Zwar nicht als Bildmotiv, wohl aber als Verfasser der Kartentexte steht der Mensch im Mittelpunkt. In meiner Sammlung liegen etliche Karten doppelt, gar dreifach, wenn der Text darauf aus irgendeinem Grunde besonders interessant, erheiternd merkwürdig oder ergreifend ist.
Im Jahre 1894 zählte Wädenswil bereits über 7000 Einwohner; es waren aber lediglich 23 Telefonanschlüsse in Betrieb und die waren gewiss nicht in Privathaushalten installiert, sondern in Handelshäusern und Industriebetrieben. Deshalb wurden damals und noch bis weit in unser Jahrhundert hinein Einladungen, Besuchsanzeigen, Anfragen und andere Mitteilungen, die wir heute telefonisch erledigen, auf Ansichtskarten geschrieben.
Da heisst es zum Beispiel:

Lb. Clara!
Teile Dir mit, dass ich morgen nicht am Bahnhof sein kann, da ich in Wädensweil bin, erwarte Dich aber am Sonntag ganz bestimmt bei mir im Martahof.
Deine Luise H.
 
Die Karte wurde am 5. Januar 1904 abgeschickt; das war ein Freitag. Luise H. konnte ohne weiteres annehmen, dass Clara, die in Erlenbach wohnte, den Bericht noch frühzeitig erhalten werde. − Dass Karten sehr schnell befördert wurden, zeigen die Exemplare, die am nächsten Tag in Basel, in Bern oder in der Ostschweiz angekommen sind.
Der folgende Text steht auf einer Karte vom 14. April 1906.

Werther Herr Knecht!
Möchte Sie höflich ersuchen, mir eine Flasche Fornis Blutbeleber per Nachnahme zu senden. Grüsst Sie freundlich
Frl. E. Hess Akazie, Wädenswil
 
Seltsam mutet der nächste Text an.

L.B. (Es handelt sich um ein Fräulein namens Berta.) Ich habe leider bis heute aus Mangel an Zeitüberfluss dir nicht antworten können. Jetzt sage ich dir nur dass du in den Briefen Behauptungen aufstellst, die gar nicht wahr sind. Übrigens wollte ich das lieber mündlich erledigen wenn du nur noch etwas zu warten vermöchtest. − Am Samstag ehe du verreistest wollte ich noch zu dir kommen aber da warest du wie schon manchmal gar nicht zu treffen. ich glaub nicht dass wie du schreibst ich dich nicht mehr sehen werde. Gruss U.K. von deinem alten bösen L.
 
An mangelndem Selbstbewusstsein scheint der junge Mann nicht gelitten zu haben. Man stelle sich Berta vor, welche diesen Text auf einer offenen Karte erhalten hat!
Zahlreich sind natürlich die Grüsse und Glückwünsche aller Art: Grüsse aus den Ferien in Wädenswil, vom Ausflug (z.B. auf die Au) und Glückwünsche zum Namenstag, zum Geburtstag usw. Darunter sind auch Texte, die in bierseliger Stimmung geschrieben worden sind, etwa der folgende von einer Maifahrt in den «Engel»:

Der Maikäfer kriecht und summt.
Herr Ammann lacht und brummt
und alles gumpt.
 
Oder der etwas forciert heiter wirkende Feriengruss:

Meine Lieben!
Ein Gruss aus den schönen Ferien sendet Ihnen allen. Anna Bl.
Bin gesund, lustig u. immer noch ledig, was die Hauptsache ist. Adiö auf Wiedersehn.
 
Manche Kartenschreiber haben sich im Reimen versucht.

Liebes Linj!
Zu erfüllen Deinen Willen
Und zugleich den Durst zu stillen
Schreibe ich beim Glase Bier
Heute die Karte Dir.
 
Oder der Gruss an einen Sanitätsrekruten in Basel aus dem Jahre 1907.

Du bist ein hübscher Bursche
Du bist ein hübscher Knab
Jetzt rat von welchem Mädchen
Wohl diese Kart sein mag?

Diese Karte ist sehr abgegriffen, die Ecken arg bestossen, an einer Stelle fehlt die Farbschicht; sie ist zerknittert, und irgendeinmal ist sie nass geworden, sodass die Tinte zerflossen ist. Man kann sich gut vorstellen, wie der Empfänger die Karte in seinen Waffenrock gesteckt und so während des Exerzierens bei sich getragen hat.
Die abgebildete Karte − ein schönes Beispiel eines schwarz-weissen Eindrucks in eine farbige, im Prägedruck hergestellte, für den ganzen Kanton verwendbare Landschaft samt Helvetia − ist an eine verheiratete Frau geschickt worden, welche zur Zeit (im Mai 1903) bei Ihren Eltern weilte. Ihr Mann hat vermutlich einen Kurs an der «Schweiz. Obst- und Weinbauversuchsanstalt» besucht. Den Text hat er in einer Geheimschrift notiert. Obwohl ich noch eine weitere Karte des gleichen Verfassers mit wesentlich mehr Text habe, ist es mir nicht gelungen, die Schrift zu entziffern, was ja vom Verfasser auch bezweckt worden ist.
Die schweren Zeiten während und nach dem Ersten Weltkrieg haben auf Karten ebenfalls ihren Niederschlag gefunden.
Auf einer Karte aus dem Jahre 1917 wird eine junge Frau dringend zum Sparen aufgefordert; man könne nicht wissen, wie lange die Not noch andauere.
Im Dezember 1918 sind Freunde an der Grippe erkrankt. Man spürt dem kurzen Kartentext an, wie gross die Furcht vor dieser Epidemie war; viermal erscheint in den 14 Zeilen das Wort von Herzen oder herzlich.
Zu Anfang der zwanziger Jahre erhielt eine Familie im Vorarlberg folgenden Kartentext:

Werter Freund, werte gnädige Frau Heute sandte ich Euch ein Liebespacket & wünsche guten Empfang. Lasst bald was von Euch hören & seid herzt. gegrüsst in treuer Freundschaft.

BEVORZUGTE KARTENMOTIVE

Gut die Hälfte aller Karten meiner Sammlung ist von Einheimischen verschickt worden. Sie bevorzugten folgende Motive:
Gesamtansichten des Dorfes
Bilder aus dem Dorfkern, vom Bahnhof
Bilder des Quartiers, in dem man wohnte
Die Vorliebe der Gäste galt:
Ansichten des Bürgli
Aufnahmen der Halbinsel Au
Gesamtansichten vom Schloss aus
Ganz allgemein liebte man das Moderne, das Neue, das Spektakuläre auch.
Für eine Gesamtansicht des Dorfes, hier der Abwechslung halber aus Nordwesten, stand der Fotograf in der Gegend der heutigen Dahlienstrasse; im Vordergrund ist das Neudorf zu sehen, dahinter das alte Sekundarschulhaus und die beiden Kirchen. Die Karte ist am 11. Juli 1902 nach St. Margrethen geschickt worden. Der Absender bedankt sich für einen jüngst erhaltenen Kartengruss.
Gesamtansicht aus Nordwesten, im Vordergrund das Neudorf.
 
Gegenüber dem alten Bahnhof, erkennbar am Randstein, steht der 1902 vollendete seeseitige Teil des Hauses «Merkur». Dahinter schaut der 1957 abgebrochene Saalbau des Hotels «Du Lac» hervor. Das Haus «Friedau» im Vordergrund ist 1931 für den Bau des neuen Bahnhofs abgetragen worden. − Verleger der Karte ist «Arnold Eschmann z. Merkur, Agentur des Norddeutschen Lloyd Bremen». Auf einer ganz ähnlichen, aber farbigen Karte hat er die Fahne des Norddeutschen Lloyd gross aufs Dach zeichnen lassen. Auf dem Platz hat der Textverfasser notiert: 9 Wohnungen sind jetzt besetzt.
Seeseitiger Teil des Hauses «Merkur», Aufnahme von 1902.


Die Seefahrtstrasse, die heutige Seeferen, mit den Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten Häusern erscheint auf Ansichtskarten eher selten. Bis 1925 war die Bahnlinie einspurig und liess viel Platz frei für den Seeweg. Der Rahmen des Kartenbildes ist sehr sorgfältig in Silber geprägt, die Blümchen rosa, die Blätter lichtgrün und bräunlich getönt; ein schönes Beispiel eines Eindrucks aus der Jahrhundertwende.
Seeferen um 1900.

Das Bürgli erscheint auf einer Karte, die am 26. Januar 1907 verschickt worden ist. Peter Ziegler bringt die Karte in seinem Buch «Das einstige Wädenswil im Bild» auf Seite 190 ebenfalls, mit dem Unterschied, dass er die «Sommerversion zeigt. Die vorliegende basiert auf genau derselben Aufnahme, nur dass das Laub der Bäume wegretuschiert worden ist; dafür hat der Zeichner sehr geschickt Schnee angebracht. Links sind das untere, rechts das obere Bürgli zu sehen, am rechten Bildrand Seestrasse und Bahnlinie.
Das Bürgli im Winterkleid.
 
Gruss aus Halbinsel Au. Die Übersichtszeichnung verfälscht die Wirklichkeit kräftig: das Hotel ist viel zu gross, und überdeutlich erscheinen die Spazierwehe auf dem relativ flach gezeichneten Hügel. Abfahrender Zug und wegfahrendes Schilf sind hineingezeichnet worden; es soll doch dokumentiert werden, dass das Hotel und weit herum bekannte Ausflugsrestaurant gut erschlossen ist. Der Hintergrund ist sehr summarisch gezeichnet. Dieselbe Zeichnung ist auch für weitere Karten verwendet worden: auf einer von ihnen erscheint der südöstliche Himmel nicht im zarten Morgen-, wohl aber im satten, feurigen Abendrot. – Das Bild unter den stilisierten Rohrkolben zeigt das Hotelgebäude samt vielbesuchter Gartenwirtschaft aus Osten.
Au, alles Wichtige ist gross gezeichnet.
 
Der sauber aber etwas vereinfacht gezeichnete Ausblick vom Schloss herunter auf das Dorf ist in ein auch farblich gut getroffenes Efeublatt gedruckt worden. − Die Grossmutter sendet Bertha Huber im Alkoholfreien Restaurant an der Josephstrasse in Zürich «wieder einmal eine Karte».
Ansicht aus Südosten, in Efeublatt gedruckt.
 
Zum Schluss lassen wir den in Rosa gekleideten Engel fröhliche Weihnachtsgrüsse übermitteln, grad so, wie es Martha am 24. Dezember 1903 an einen Herrn Kühne in Winterthur getan hat.
Nordwestausschnitt des Dorfes.
 




Hans Scheidegger