Vor 50 Jahren: Eisenbahnkatastrophe in Wädenswil

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1998 von Peter Ziegler

Die Gesamtaufnahme zeigt mit erschütternder Deutlichkeit das Ausmass der Katastrophe.

Sonntag, der 22. Februar 1948 war ein schwarzer Tag in der Geschichte von Wädenswil: Das Dorf wurde Schauplatz eines Eisenbahnunglücks, das 22 Tote und 131 Verletzte forderte. Noch heute, fünfzig Jahre später, ist dieser Schreckenstag allen, die ihn miterlebt haben, in deutlicher Erinnerung.

DER DURCHGEBRANNTE ZUG

Bei günstigen Schneeverhältnissen führten die SBB an Wintersonntagen für Sportbegeisterte, welche die Region Hochstuckli aufsuchten, einen direkten Sportzug Sattel–Wädenswil–Zürich. Gemäss Vereinbarung mit der Südostbahn, welche die Benützung ihrer Geleise gestattete, stellten die SBB die Lokomotive, die Personenwagen und das Zugspersonal.
Am Sonntagabend, 22. Februar 1948, setzte sich die Zugskomposition aus einer Güterzugslokomotive CE 6/8 («Krokodil») und neun Personenwagen, zur Hauptsache Dreiachsern, zusammen. Von Sattel bis Biberbrugg verlief die Fahrt des Zuges, der Sattel um 16 Uhr 49 mit 349 Passagieren verlassen hatte, normal. Bei offenen Signalen wurden die Stationen Schindellegi und Samstagern durchfahren, doch fiel am letztgenannten Ort intensives Bremsgeräusch auf. In Burghalden überfuhr der Zug vier geschlossene Signale – Vor-, Einfahrts-, Durchfahrts- und Ausfahrtssignal – und setzte die Fahrt gegen den Bahnhof Wädenswil fort. Der Stationsbeamte auf Burghalden sah den Lokomotivführer bei der Vorbeifahrt mit dem Arm gegen das Ohr zu eine kreisende Bewegung machen und fasste dies richtigerweise als Zeichen dafür auf, den Bahnhof Wädenswil telefonisch vom Vorfall zu verständigen.

Der zweite Personenwagen des Unglückszuges bohrte sich in den ersten Wagen hinein.

Zur Einfahrt der SOB-Züge in den Bahnhof Wädenswil standen die Geleise 1 und 2 zur Verfügung. Die Weiche der SOB-Strecke bergseits des Niveauübergangs Seestrasse war normalerweise auf Ablenkung ins Stumpengeleise vor dem Gebäudekomplex der Obst- und Weinbaugenossenschaft am Zürichsee (OWG) gestellt. Erst bei freier Fahrt zum Bahnhof wurde die mit dem Einfahrtsignal kombinierte Weiche in gerade Stellung umgelegt.
Als von Burghalden die plötzliche Kunde vom durchgebrannten Zug eintraf, stand im Bahnhof Wädenswil auf Geleise 1 ein SOB-Motorwagen mit zwei Anhängern, aus denen eben die Passagiere stiegen. Und auf Geleise 2 hielt der stark besetzte Schnellzug Chur–Wädenswil–Zürich. Der Beamte auf dem Reiterstellwerk suchte telefonische Verbindung mit dem Abfertigungsbeamten im Bahnhof. Er wollte ihn auffordern, unverzüglich ein Geleise frei zu machen, damit man den nahenden Sportzug darauf leiten könne. Die Verbindung klappte nicht sofort, und mittlerweile raste der Zug, dessen Lokomotivführer Pfeifsignale gab, mit mehr als 60 Stundenkilometern Geschwindigkeit und funkensprühenden Rädern dem Reidholz entlang und auf der Rampe von 50 Promille Gefälle hinunter Richtung See.

INEINANDERGESCHACHTELTE PERSONENWAGEN

Die 149 Meter lange Zugskomposition wurde über die Weiche vor der Seestrasse auf das Industriegeleise der OWG gelenkt, die Lokomotive rammte um 17 Uhr 30 den Prellbock am Ende des Stumpengeleises, bohrte sich in ihrer ganzen Länge in die Seeseite des dahinter stehenden dreistöckigen Verwaltungsgebäudes Seestrasse 73 und brachte dessen ganze Vorderseite zum Einsturz. Beim heftigen Aufprall schoben sich die drei vordersten Personenwagen derart ineinander, dass der Zug nur noch 120 Meter mass. Der vierte Wagen erlitt grosse Beschädigungen, die folgenden fünf Personenwagen dagegen blieben fast völlig intakt und entgleisten auch nicht.

AUGENZEUGEN BERICHTEN

In der Mittagausgabe der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 23. Februar 1948 wurde unter anderem dieser Bericht eines Augenzeugen abgedruckt:
...«Ich befand mich mit meinem Knaben in einem vorderen Wagen. Zuerst schien es, als ob der Zug gemächlich dahinfahre. Aber plötzlich wird sein Tempo rascher. Der Insassen bemächtigt sich ein Gefühl des Unbehagens. Ich öffne das Fenster und sehe die rotglühenden, Funken werfenden Räder der Lokomotive, die offenbar erfolglose Bremsversuche anstellt. Der Zug rollt immer schneller. Ehe man nähere Überlegungen anstellen kann, gibt es einen furchtbaren Ruck. Skis, Skistöcke und Rucksäcke fliegen auf den Boden. Die Fahrgäste werden von ihren Sitzen geschleudert. Ich sehe einen kleinen Knaben mit zerrissenen Hosen und ein Mädchen mit blutender Hand. Es muss sich jetzt um den Augenblick handeln, da das Zugsunglück die Passagiere in den ersten Schock wirft, denn über allem liegt eine unheimliche Stille.
Meine erste Reaktion ist: Hinaus aus dem Wagen! Ich reisse das Fenster auf und stosse meinen Knaben hinaus. Da sich ein eigenartiger, stechender Rauch verbreitet, denken etliche an die Möglichkeit einer Explosion. Während alles aus dem Wagen flüchtet, fallen draussen langsam die Schneeflocken. In der Dämmerung erblicken wir gleichsam als Erstes eine offene Hauswand. Im Trümmerschutt sehen wir angebrochene Zimmer, Betten hängen in der Luft. Alles erinnert an ein bombardiertes Haus aus dem Kriege.

Die Lokomotive brachte das Gebäude der OWG zum Einsturz.

Die Lokomotive hat das Haus buchstäblich gerammt und ist nun mit Steinen und Schutt überschüttet. Hinter ihr liegt ein kleiner Berg von Eisen und Holzsplittern... Ich nehme meinen Knaben (und ich kann es nicht verschweigen, dankbaren Herzens) an der Hand und verlasse mit ihm die Unglücksstätte... Dann sitzen wir im Zug, der uns nach Zürich bringt, und in unserem Wagenabteil erzählt die Mutter dreier Töchter, sie sei im ersten Wagen gesessen, in dem der Kondukteur den Passagieren den Rat erteilt habe, die Brillen abzunehmen...»

DIE HILFSAKTION

Vom Bahnhof Wädenswil aus, wo man das Krachen gehört und am Unglücksort eine Staubwolke aufsteigen gesehen hatte, wurde unverzüglich eine Hilfsaktion eingeleitet. Um 17 Uhr 40 waren Polizei, Feuerwehr, Krankenhaus, Platzärzte, Rotkreuz-Sektion und Bezirksanwaltschaft avisiert. Da das öffentliche Telefon rasch überlastet war, übernahm man es im Zürcher Hauptbahnhof, weitere Hilfe anzufordern, darunter einen Hilfszug mit Materialwagen.
Die Rotkreuz-Sektion Wädenswil brachte aus ihrem Materialmagazin im Rosenhof Sanitätsmaterial, Bahren, Decken und weitere Hilfsmittel auf den Platz und half mit rund 25 Sanitätern beim Bergen der Verletzten und beim Einladen in die aus vielen Seegemeinden und aus der Stadt Zürich eingetroffenen Krankenwagen. Auch alle Wädenswiler Ärzte waren erschienen, legten erste Verbände an und gaben den eingeklemmten Verletzten lindernde Spritzen. Die durch Alarm aufgebotene Feuerwehr besorgte den Absperrdienst, hielt die aus nah und fern herbeigeeilten Neugierigen von der Unglücksstätte fern und beteiligte sich beim Aufräumen. Bis zum Eintreffen der Polizeiorgane übernahmen rund 20 Mitglieder des Unteroffiziersvereins Zürichsee linkes Ufer den Ordnungsdienst. Sie hatten im Raum Schindellegi eine Felddienstübung durchgeführt und waren mit dem Vorläufer des Unglückszuges in Wädenswil eingetroffen.

Alle zur Hilfe aufgebotenen Männer arbeiten stumm und verbissen. Schneefall hat eingesetzt.

Während die Passagiere im hinteren Zugsteil unverletzt blieben und mit dem Schrecken davonkamen, sah es in den drei ineinander geschobenen vordersten Personenwagen umso furchtbarer aus. Viele Verletzte und Tote waren in den Wagentrümmern eingeklemmt und konnten erst nach und nach befreit werden. Bei einem Wagen musste eine Seitenwand mit Schneidbrennern aufgetrennt werden, in einen andern gelangten die Helfer durch das aufgebrochene Dach.
Überlebende Zugspassagiere bestätigten übereinstimmend die rasche und vorbildliche Hilfe: «Von allen Seiten eilen Menschen herbei, die Hilfe bringen; wie man überhaupt den Eindruck hat, dass hier auf Hilfeleistung nicht lange gewartet werden muss. Wir erkennen Feuerwehrleute und Soldaten, an der Spitze einen initiativen Oberleutnant. Frauen bringen ihren Männern die Feuerwehrhelme. Ein Trupp Männer mit Äxten, Sägen und Hämmern eilt an uns vorüber.» Und ein anderer Augenzeuge: «... Ich gewinne durch das Fenster das Freie, drei bis vier andere folgen mir. Zuerst herrscht eine unheimliche Ruhe. Sind alle Zurückgebliebenen tot? Retter eilen herbei, dringen durch die Fenster in den Wagen. Die Hilfeleistung beginnt.»

22 TOTE

Kurz nach 20 Uhr waren die Verletzten geborgen und in die Krankenhäuser Wädenswil, Richterswil, Horgen, Thalwil und ins Kantonsspital Zürich eingewiesen. Die Toten wurden in der Halle beim Gasiplatz aufgebahrt. Die Identifizierung der teilweise schrecklich verstümmelten Opfer gestaltete sich schwierig und war erst nach 18 Stunden abgeschlossen. Denn die Skifahrerinnen und Skifahrer trugen keine Ausweispapiere auf sich. Und wenn sie überhaupt welche dabei hatten, steckten diese in den aufgehängten Jacken und liessen sich nicht sofort zuordnen. Die meisten Verstorbenen hatten in Zürich gewohnt. Unter den Toten befand sich aber auch der Betriebschef der SOB, Albert Sieber aus Wädenswil. Er hatte den Sportzug begleitet und war - die Gefahr ahnend - während der Fahrt von der Lokomotive zum ersten Wagen hinübergeklettert, um die Wagenbremse zu bedienen. Beim Aufprall wurde er - in Ausübung seines Berufes - zwischen Lokomotive und Wagen eingeklemmt und getötet.

ERSCHÜTTERNDE BILDER

Als sich die Eisenbahnkatastrophe ereignete, begann es in Wädenswil einzudunkeln, und es schneite leicht. Bei damaligen Beleuchtungsmöglichkeiten war das Fotografieren bei Nacht weit schwieriges als heutzutage. Dass die «Schweizer Illustrierte» dennoch Bilder veröffentlichen konnte, war dem Wädenswiler Fotografen Marcel Hoffmann zu verdanken. Der Inhaber des Fotogeschäfts an der Seestrasse 89, in der Nähe des Unglücksortes, hatte sofort zur Kamera gegriffen und auf der Stätte des Grauens Aufnahmen gemacht. Ein Teil der erschütternden Bilder, welche durch die Schweizer Presse gingen, sind diesem Bericht beigegeben.

WELLE DER TRAUER

Weitherum in der Schweiz löste die Eisenbahnkatastrophe von Wädenswil Bestürzung aus. An der Bundesratssitzung vom 24. Februar berichtete Bundespräsident Enrico Celio aus eigener Anschauung und auf Grund der vorliegenden Berichte über das Unglück und kondolierte den Angehörigen. Der Regierungsrat des Kantons Zürich gedachte in seiner nächsten Sitzung ebenfalls der Opfer und sprach den Hinterbliebenen und den Verletzten seine Anteilnahme aus. Vom Erlebten tief geprägt war die Wädenswiler Bevölkerung, waren vor allem die zahlreichen Helfenden auf der Unglücksstätte.

AUGENSCHEIN AM UNGLÜCKSORT

Der «Allgemeine Anzeiger» vom Zürichsee berichtete in der Montagausgabe ausführlich über die «Furchtbare Eisenbahnkatastrophe in Wädenswil» und veröffentlichte eine Namen- und Adressliste der Verstorbenen und der in die Spitäler eingelieferten Verletzten. Am Dienstag, 24. Februar, erschienen weitere Berichte. Unter anderem hiess es: «Die Unglückslokomotive ist in ihre drei Teile auseinander geborsten. Der lange und niedere Vor- und Hinterbau hängt nur noch am verkrümmten Untergestell mit dem Mittelbau zusammen, und die 16 Räder stehen nicht mehr auf der gleichen Ebene. Vorn und hinten fehlen die Puffer, und vorn ist auch die Verschalung eingedrückt. Der Mittelbau ist aber kaum zusammengestaucht, womit sich auch erklären lässt, dass der Lokomotivführer Aebi heil davonkam. Ein Entfernen der Lokomotive wird erst möglich sein, wenn die Haustrümmer darüber weggeräumt sind...» Das war am Samstag, 28. Februar der Fall. Das 128 Tonnen schwere Fahrzeug wurde soweit gehoben, dass die darunter liegenden Trümmer des Prellbocks und die verschobenen Achsen und Räder entfernt werden konnten. Dann zeigte sich, dass die Lokomotive mit den verbliebenen Rädern noch fahren konnte, wodurch sich Demontage und Verlad an Ort erübrigten. In der Nacht auf den Sonntag - in der verkehrsfreien Zeit zwischen 22.30 und 3.30 Uhr - wurde die Unglücksmaschine im Fahrtempo von 7 bis 10 Stundenkilometern von Wädenswil in die SBB-Werkstätten Zürich überführt.

TRAUER- UND GEDENKGOTTESDIENSTE

Der Abschied von Albert Sieber, dem verunglückten Betriebschef der SOB, wurde am Mittwoch, 25. Februar, zur eindrucksvollen Kundgebung. «Einige hundert Bahnbedienstete aller Grade der SOB, der SBB und anderer Bahnverwaltungen, aber auch viele Freunde und Bekannte gaben ihm nach den Angehörigen das letzte Geleite. Eisenbahner in Uniform schritten neben dem Leichenwagen oder folgten mit grossen Kränzen... Auch die andern Todesopfer wurden gestern in ihren Wohnorten zu letzten Ruhe gebettet.» So berichtete der «Allgemeine Anzeiger vom Zürichsee» in der Donnerstagausgabe.
Am Sonntag, 29. Februar 1948, fand in der reformierten Kirche Wädenswil ein Gedenk- und Trauergottesdienst statt, an welchem nebst der Bevölkerung u.a. eine Dreierdelegation des Regierungsrates des Kantons Zürich, ein Vertreter des Regierungsrates des Kantons Schwyz, der Stadtpräsident von Zürich und der Gemeinderat Wädenswil in corpore teilnahmen. Die Predigt hielt Pfarrer Hans Suter. Der «Allgemeine Anzeiger vom Zürichsee» schrieb am 1. März über die ergreifende Kundgebung der Trauer und des Mitgefühls: «... Herr Pfarrer Suter brachte in zu Herzen gehenden Worten die Mittrauer unserer Bevölkerung an dieser schweren Katastrophe zum Ausdruck, seine Predigt barg Trost für die Betroffenen, Mahnung auch an die versammelte Gemeinde an das Wort Gottes.

Das Eisenbahnunglück forderte 22 Menschenleben.

Wohl noch selten wurden von der Gemeinde in dem dicht besetzten Gotteshause die Lieder: ‘Mitten wir im Leben sind’ und ‘Wenn ich einmal soll scheiden’, welche die Predigt umrahmten, mit so viel Ergriffenheit gesungen. Der Männerchor unter der Leitung von Musikdirektor Sidler sang die Motette ‘Es ist viel Not vorhanden’ von Joh. Eccard und den Schlusschor aus der Matthäuspassion von Heinrich Schütz, und umrahmt wurde der Gottesdienst durch Orgelwerke von Johann Sebastian Bach in h-moll …»

DIE URSACHE DES EISENBAHNUNGLÜCKS

In den ersten Zeitungsmeldungen verlautete, der Zug habe nicht mehr gebremst werden können. Maschineningenieure, Experten der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt und Konstrukteure der Maschinenfabrik Örlikon begannen am Morgen des 23. Februars im Auftrag der Bezirksanwaltschaft die Ursache des Unglücks abzuklären. Sie führten unter anderem auch Versuchsfahrten mit einer gleich zusammengesetzten Zugskomposition aus und passierten die Steilstrecke mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit von 10 Stundenkilometern. Am 24. April 1948 lag der 31 Seiten starke Schlussbericht der Experten vor. Sein Kern: «Der Lokomotivführer muss aus einem verhängnisvollen Irrtum unterlassen haben, den Wendeschalter vor der Einfahrt ins Gefälle in die Bremsstellung umzuschalten... Der Lokomotivführer hat wichtige Sicherheitsvorschriften und Instruktionen nicht beachtet bzw. ihnen zuwider gehandelt und dadurch das Unglück verursacht.»

GERICHTLICHES NACHSPIEL

Anfang Mai 1950 fand vor dem Bezirksgericht Horgen der Strafprozess gegen den Lokomotivführer des am 22. Februar 1948 in Wädenswil verunglückten Sportzugs statt. Am Vortag des Prozesses wurden auf Anordnung des Gerichts zuerst auf der Strecke Biberbrugg–Einsiedeln, dann auf dem Steilstück zwischen Burghalden und Wädenswil nochmals Versuchsfahrten mit einer Komposition durchgeführt, die gleiches Gewicht hatte wie der Unglückszug. Trotz 50 Promille Gefälle konnte der seewärts fahrende Zug bei 40 Kilometern Stundengeschwindigkeit mit vorschriftsmässiger Manipulation durch Schnellbremsung problemlos zum Stillstand gebracht werden.
Am 4. Mai 1950 leitete Vizegerichtspräsident Dr. Eduard Rübel die Hauptverhandlung. Einleitend machte er auf die schwierige Aufgabe des Gerichts aufmerksam, das ein tragisches menschliches Versagen beurteilen müsse. Die Anklage gegen den nun 46jährigen Lokomotivführer Ernst Aebi lautete auf fahrlässige Störung des Eisenbahnbetriebs, mehrfache fahrlässige Tötung und mehrfache fahrlässige Körperverletzung und der Strafantrag der Staatsanwaltschaft auf ein Jahr Gefängnis. Auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne, antwortete der Angeklagte, es sei ihm heute klar, dass er Fehler begangen habe. Warum er die falsche Stellung des Wendeschalters nicht bemerkt habe, sei ihm aber noch immer unerklärlich.
Bezirksanwalt Dr. W. Kunz begründete die Anklage und führte gemäss Berichterstattung im Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee» unter anderem aus: «Vor dem Gefällsabbruch vor Schindellegi wollte Aebi richtigerweise die elektrische Motorbremse in Funktion setzen, drehte auch den Stufenschalter (Geschwindigkeitsschalter) auf 0 zurück, unterliess es nun aber, den Wendeschalter auf Stellung BV (Bremsung) zu stellen, so dass bei der nachfolgenden Aufdrehung des Stufenschalters eine Zugwirkung erfolgte, statt der bezweckten Bremsung. Bereits hier wurde die Maximalgeschwindigkeit überschritten, und bereits jetzt erkannte Aebi die ungenügende Bremswirkung. Er hätte pflichtgemäss eine Schnellbremsung vornehmen müssen, um den Zug zum Stehen zu bringen, unterliess dies jedoch... Vor der Station Samstagern betrug die Geschwindigkeit 47 km statt der höchstzulässigen 35 km. Auch hier fuhr Aebi durch, obwohl auch hier eine Schnellbremsung noch Erfolg gehabt hätte. Nach Samstagern betrug die Geschwindigkeit 58 km, so dass Aebi nun eine Schnellbremsung versuchte. Zugleich schaltete er den Stufenschalter auf die hohe Stellung 17, um die vermeintliche Bremswirkung der Maschine zu erhöhen. Natürlich trat das Gegenteil ein, zudem fielen nun hier die Bremsklötze der Lokomotive infolge Abnützung aus. Bei geschlossenen Signalen durchfuhr der Zug Burghalden mit einer Geschwindigkeit von 60 km. Statt vorschriftsgemäss den Stromabnehmer zu senken, wodurch die Zugkraft der Maschine ausgefallen wäre, gab Aebi nun Bremssignale und forderte durch Zeichen den Stationsbeamten in Burghalden auf, die Station Wädenswil zu verständigen... Aebi erkannte seinen Fehler, nämlich die falsche Stellung des Wendeschalters, nicht. Stur hielt er an seiner Ansicht, alles richtig gemacht zu haben, fest, und senkte deshalb weder den Stromabnehmer, noch trat er vom Totmann-Pedal. Ohne dass es ihm bewusst wurde, auf verlorenem Posten kämpfend, jagte der Lokomotivführer auf der rasenden Maschine zu Tal, bis zuletzt auf seinem Posten ausharrend, hinter sich die 350 Passagiere.»
Die Anklage stellte im weiteren fest, dass es dem Lokomotivführer nach dem Aufprall ins Verwaltungsgebäude der OWG bewusst wurde, dass er das Unglück durch eigenes Verschulden verursacht haben könnte. Aebi sah nun nämlich die falsche Stellung des Wendeschalters. Er versuchte, Manipulationen am Schalter vorzunehmen, was ihm aber nicht mehr gelang, da der Schalter verbogen war. Der Lokomotivführer verliess nun die Maschine und begab sich zum Vorstand der Station Wädenswil.
Der Verteidiger des Angeklagten dankte vorerst den Geschädigten für ihren Verzicht auf Zivilansprüche gegenüber Ernst Aebi, machte auf dessen mangelnde praktische Erfahrung im Einmannsystem aufmerksam, kritisierte die Einrichtung des Stumpengeleises vor der OWG und beantragte eine Herabsetzung des Strafmasses sowie bedingte Verurteilung.
Am 5. Mai 1950 fällte das Gericht des Urteil. Es erklärte den Lokomotivführer als der fahrlässigen Eisenbahnbetriebsstörung, der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zehn Monaten mit vierjähriger Bewährungsfrist und zur Übernahme der Verfahrenskosten.

Noch heute, 50 Jahre später, erinnern sich viele an das Eisenbahnunglück vom 22. Februar 1948.




Peter Ziegler