Kinder spielen Theater

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1979 von Hans Scheidegger

«Spiel nicht Theater!» entgegnen wir demjenigen, der uns etwas vorspielen, vielleicht gar vortäuschen will. Wer wegen jeder Kleinigkeit ein grosses Getue vollführt, dem halten wir vor, er mache ein Theater. Theaterspielen bedeutet in der Umgangssprache demnach: übertreiben, sich verstellen. Kinder denken offenbar genau gleich; wenn sie untereinander Theater spielen, wird die einfachste Bemerkung pathetisch vorgetragen, und die Kostümierung – das Verkleiden – spielt eine bedeutende Rolle. Das bezeugen die Unmengen abenteuerlicher Tücher und Requisiten, die alljährlich am Schulsilvester mitgeschleppt werden.
Da knüpfe ich beim Theaterspielen mit meinen 10- bis 13-jährigen Kindern an. Wir versuchen anfangs, einfache Szenen aus dem Stegreif zu spielen, selbstverständlich ohne Kostüme, Kulissen und Requisiten. Zunächst ahmen die Kinder jeweils alle möglichen Menschen nach: die schnippische Käuferin im Modegeschäft, den Fussballstar während einer Befragung, den polternden Polizisten, die überstrenge Mutter, wobei wacker übertrieben wird. Bald einmal entdecken sie aber, welch vielfältige Möglichkeiten in einer Rolle stecken können, wie spannend und doch befreiend es sein kann, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, sich in der neuen Person zu verstecken. Dabei geschieht etwas ganz Wesentliches: im Spiel kann das Kind gefahrlos geheime, ihm kaum bewusste Neigungen und Wünsche offen darstellen.
Wie schön ist es, einmal ein Räuber, ein Frechdachs, eine Hexe oder – auf der anderen Seite – ein König, eine Prinzessin, eine Mutter zu sein. Die Faszination, welche Kindertheater immer wieder auf uns alle ausübt, gründet zum guten Teil darin, dass die Kinder ihre Rolle eben nicht spielen; sie sind während der Proben und in der Aufführung die Hexe, der Polizist oder die Grossmutter; sie verkörpern ihr geheimes momentanes Ich.
Mit beginnender Pubertät fällt es manchem Kinde schwer, vor Publikum zu spielen. Hier bietet sich das Puppentheater in seiner ganzen Vielfalt an. Man ist hinter einer Wand, hinter einem Tuche versteckt; man braucht sich nicht zu zeigen, die Puppe ist stellvertretend auf der Bühne. (Auf das Spiel mit Oberstufenkindern und mit Jugendlichen, in welchem andere Probleme zu bewältigen sind, soll hier nicht eingegangen werden.)
Die psychohygienische Funktion des Spiels ist aber keineswegs der einzige Grund, um mit Kindern Theater zu machen, zum al dann nicht, wenn auch das Stück selber geschrieben wird.
Wir gehen in der Regel so vor: Zunächst wählen wir den Stoff – die Geschichte – aus, zum Beispiel ein Märchen. (Ein Stück nach Andersens Märchen «Des Kaisers neue Kleider», wurde im letzten Frühling von Viertklässlern geschrieben und gespielt.)
Dann versuchen wir, die Geschichte in Szenen einzuteilen. Dabei merken die Kinder schnell, dass Erzählung und Theater oft völlig anderen Gesetzen gehorchen. Die Beschreibung einer königlichen Prozession nimmt in der Geschichte einen breiten Raum ein, während auf der Bühne Kulissen, Requisiten und Spieler schon fast alles zeigen. Dagegen verlangt der Satz «Das Gerücht verbreitete sich in der ganzen Stadt» eine eigene Szene, die ganz neu erschaffen werden muss. – In einer Erzählung kann der Ort der Handlung fast beliebig oft gewechselt werden, während ein Theater – soll nicht ein aufwendiges Ausstattungsstück gezeigt werden – mit möglichst wenigen Bühnenbildern auskommen muss.
Da selbstverständlich jedes Kind spielen soll, müssen etwa 30 Rollen vor eschen werden. (Manche Kinder spielen gerne zwei oder gar drei kleine Rollen.) Das bedeutet, dass Szenen oft erweitert werden müssen.
Erst wenn der Inhalt der einzelnen Szenen, die Personen und der Ort der Handlung festgelegt sind, kann das Stück verfasst werden. Die Kinder arbeiten unter sich in Gruppen oder in der Halbklasse mit mir. Die Redaktion wird von der ganzen Klasse besorgt. So entsteht aus Einzelszenen – angefangen bei den einfachen – mit der Zeit das ganze Stück. Nicht selten erweist es sich als nötig, längst abgeschlossen geglaubte Szenen nochmals umzuarbeiten.
Daneben müssen Kulissen gemalt und Versatzstücke geschreinert werden. Auch dabei arbeiten die Kinder in Gruppen, oft auf mehrere Räume verteilt: Schulzimmer, Gang Winde.
Erst jetzt werden die Rollen verteilt. Jedes Kind hat sich die ihm zusagenden notiert. Gewöhnlich treten genügend Kinder zurück, wenn mehrere dieselbe Rolle wünschen. Wenn nötig entscheidet das Los. Schwierigkeiten oder gar Tränen hat es bei der Zuteilung der Rollen noch nie gegeben. Ist das Stück nämlich erst einmal geschrieben, ist es nicht mehr so wichtig, welche Figur man spielen kann, zumal die Kinder meistens bald merken, dass Nebenrollen oft wichtiger sind als die Hauptrollen.f
In Sprech-, Stell- und Umbauproben entsteht nun langsam das fertige Stück. In dieser Zeit kann gut verfolgt werden, wie sehr sich durch die Probenarbeit einzelne Szenen verändern können. Die Kinder stellen Sätze um, erweitern sie, lassen andere weg und setzen neue hinzu. Ständig arbeiten sie so am Stück, bis es ihren Vorstellungen entspricht.
Man mag einwenden, für ein solches Theater werde sehr viel Zeit aufgewendet. Das ist richtig. Ich meine aber, der Aufwand lohne sich, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zunächst einmal lernen die Kinder, in der Gruppe zu arbeiten. Sie müssen aufeinander hören, aufeinander eingehen, gemeinsam ein Ziel zu erreichen suchen. Sie lernen, die Arbeit anderer Gruppen anzunehmen und die eigene danach auszurichten. – Sie bekommen eine enge, lebendige Beziehung zur Sprache und lernen, deren Mittel auszuschöpfen, etwa wenn es gilt, einen Satz so zu formulieren, dass er höhnisch wirkt oder ernst klingt oder zum Lachen reizt. – Ferner können sie entwerfen, zeichnen und malen; Versatzstücke und Requisiten können geschreinert werden, und oft ist auch Musik auszuwählen und zu spielen.
Auch Kinder haben oft Lampenfieber – nur vereinzelte sind so extravertiert, wie gewisse Leute alle zu sehen belieben –, aber nach gelungener Aufführung ist alle Angst vergessen, zählt alle Mühsal des langen Weges nicht mehr. Man strahlt und ist glücklich.




Hans Scheidegger