Erinnerungen an den «Frohsinn»

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1983 von Adolf Stutz

Gegenüber unserem Haus «zum Frieden» an der Seestrasse befand sich das Restaurant «Frohsinn». Der Wirt, Simon Müller, aus dem badischen Rottweil gebürtig, war ein grosser, wohlbeleibter Mann, auf dessen wuchtigem Haupt immer ein schwarzseidenes Käppchen ruhte. Wenn er jeweils am Morgen unter der Haustüre stand, im Mundwinkel die glimmende Brissago, und er mich am Fenster stehen sah, winkte er mich zu sich. Ich nehme an, man war froh, mich für einige Zeit los zu sein, denn schon stand ich dem dicken Mann gegenüber. Dieser führte mich an der Hand in die düstere Gaststube im Parterre. Noch verspüre ich das Gemisch von kaltem Rauch und Bier in meiner Nase, das mir einfach als zu einer Wirtschaft gehörend vorkam. Gäste waren um diese Zeit, etwa halb neun Uhr morgens, noch keine da, den die Handwerker, die sich einen Frühschoppen leisten konnten, erschienen erst reichliche zwei Stunden später. Mein Vater gehörte nicht zu ihnen. Doch, was geschah in der Zwischenzeit? Herr Müller setzte sich an den hintersten Tisch zu einer Tasse Tee und hiess mich, mich neben ihn zu setzen. Dann begann der Unterricht. Anhand von Bierglasuntersätzen, die damals aus massivem Steingut bestanden, lehrte er mich zählen. Zwei, drei, vier je nachdem die Zahl lautete, hatte ich Untersätze aufeinanderzuschichten. «Zwei weg» lautete das Kommando, «wieviele sind noch?» Dergestalt wurden mir die Anfänge von Addition und Subtraktion beigebracht. Wenn dann der «dicke Suger», von Beruf Schlossermeister, herangeschlurft kam, wurde ich von meinem Freund verabschiedet. Dieser Morgenbesuch mit Unterricht hatte sich zwischen uns beiden so eingebürgert, dass ich seinen Wink gar nicht mehr abwartete, sondern mich einfach von der Grossmutter verabschiedete mit den Worten: «ich gane zum Herr Müller!»
Weil gerade vom «Frohsinn» die Rede ist, so sei festgehalten, dass er zu jener Zeit – um 1900 – das Restaurant war. Das Lokal im ersten Stock war für die «Herren», die Honoratioren in unserem Dorf, reserviert. Noch sehe ich Herrn Emil Gessner in seinem Havelock und breiten Schlapphut, Herrn Louis Diezinger aus der «Reblaube» in seinem schwarzen Gehrock zum Abendschoppen in das Haus einbiegen und die Treppe hinaufsteigen. Sobald die ersten Gäste erschienen waren, wurden die Gardinen gezogen, sonst hätte man sich gegenseitig auf den Tisch schauen können.
Restaurant «Frohsinn» an der Seestrasse, 1983.
 
Frohe Gäste im «Frohsinn». Wie lange noch?

 
In der Wirtschaft im Parterre tranken die «Bürgerlichen» ihr Bier: Handwerker, Lehrer, Beamte usw. Am Sonntagnachmittag erschien sozusagen die ganze Lehrerschaft zum Kaffeejass. Besonderes Vergnügen bereitete mir das Abzeichnen der Anschriften an unserem Vis-à-vis. Unten hiess es «Restaurant zum Frohsinn», und zwischen dem ersten und zweiten Stock prangte eine grosse Tafel mit der Aufschrift: «Bierhaus zum Frohsinn». Ich weiss natürlich nich mehr, wie oft ich diese Worte abgezeichnet hatte. Man wehrte dieser meiner Tätigkeit nicht, ja, ich glaube, dass mein Vater ein klein wenig stolz war, dass mich so sehr nach Buchstabenzeichnen dürstete. So lernte ich halb bewusst, halb unbewusst die Buchstaben des Alphabets kennen, so dass ich im Jahre 1900 meiner im Welschland weilenden Schwester auf einem langen Papierstreifen zum Geburtstage die Buchstaben malen konnte «Ich gratuliere dir». Rechts neben dem «Frohsinn» hatte Herr Bollier sein Schuh- und Pelzwarengeschäft. Ich weiss nicht, was es war; vor diesem Herrn fürchtete ich mich immer ein wenig. Waren es die scharfen Brillengläser oder sein Grollen durchs offene Fenster auf die Strasse hinunter, wenn ein vorbeisprengendes Fuhrwerk seine Schaufenster mit Strassenkot bespritzte?
Gaststube im «Frohsinn».
Oder war es der ausgestopfte Nachtheuel, der auf dem Sekretär in der Stube seinen Platz hatte? Denn es sei festgehalten, dass ich täglich vor dem Mittagessen dieses Nachbarhaus zu betreten hatte, um Herrn Bollier die «NZZ» zu bringen, die man gemeinsam abonniert hatte! Meine Visite war jeweils kurz, denn zu Hause wartete die Grossmutter mit dem Mittagessen.
 




Adolf Stutz