WÄDENSWIL IST REICH AN OBSTSORTEN

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1998 von Markus Kellerhals

Haben Sie schon einmal in einen Wädenswiler Rosenapfel gebissen? Wohl kaum, denn bekannter sind immer noch Berner Rosen und Stäfner Rosen. Oder haben Sie schon von Pacific Rose, Pink Lady und Beni Shogun gehört? Diese Apfel-Neuheiten gehören zu den fernöstlichen züchterischen Hoffnungsträgern, die in Wädenswil geprüft werden. Drei Institutionen befassen sich in Wädenswil mit Obstsorten: die Eidgenössische Forschungsanstalt (FAW) versucht Neuheiten aus aller Welt zu erhaschen und züchtet selber neue Sorten. Die Hochschule Wädenswil (HSW, früher Ingenieurschule) vermittelt Sortenkenntnisse und Fructus, die Vereinigung zur Förderung alter Obstsorten, möchte diese vor dem Aussterben bewahren. Daneben ist auch die Obst- und Weinbaugenossenschaft (OWG) an guten Mostobstsorten interessiert. Dies alles führt dazu, dass Wädenswil wohl die obstsortenreichste Gemeinde der Schweiz ist.
Allein an der FAW entsteht bei der Apfelzüchtung eine enorme Vielfalt. Jährlich sind es 10‘000 Sämlinge, die aus gezielten Kreuzungen von zwei Elternsorten entstehen. Normalerweise werden Obstbäume vegetativ vermehrt, also durch okulieren oder pfropfen. Beim Okulieren wird in der Baumschule ein Edelauge in eine Veredlungsunterlage eingesetzt. Die Veredlungsunterlage bildet das Wurzelwerk und aus dem Auge wächst der oberirdische Teil des Obstbaumes. Beim Pfropfen werden Stücke von Trieben der Edelsorte gegen Ende der Vegetationsruhe auf bestehende, zurückgeschnittene Äste aufgepfropft. In der Züchtung sind es aber die Apfelkernchen, die interessieren; aus jedem einzelnen entsteht genau genommen eine neue Sorte. Nur werden die meisten dieser Sämlinge den Anforderungen an eine neue Handelssorte nicht gerecht. Nur ganz ganz wenige schaffen es, die vielen Hürden der Züchtung und Sortenprüfung zu überspringen. Gegenwärtig fruchten an der FAW rund 2500 Zuchtnummern aus eigenem Hause, und auf 20‘000 sollte eine Handelssorte drinliegen. Das erfolgreichste Wädenswiler Apfelkind ist zweifellos der Maigold, auch wenn sich sein Anbaugebiet praktisch auf die Schweiz beschränkt. Dennoch gibt es auch in den USA einige Maigold-Fans, dort heisst diese Sorte Winegoldt, Die FAW-Sorte Arlet wird in den USA gar «Swiss Gourmet» genannt. Das jüngste Kind der FAW heisst «Ariwa», eine gegen Schorf und Mehltau resistente Sorte, die 1996 lanciert wurde. Die Endung «wa» im Sortennamen weist auf Wädenswil hin. Diese Sorte wurde in einer Rekordzeit von nur zehn Jahren nach der Kreuzung lanciert.

VIELFALT DER OBSTSORTEN: WÄDENSWIL AM BALL

Wenn es um die Vielfalt der alten Obstsorten geht, dann darf der leidenschaftliche Einsatz von Dr. Karl Stoll, Präsident der Vereinigung «Fructus», nicht unerwähnt bleiben. Stoll, 1998 80-jährig geworden, leitete früher die Sektion Lagerung und Verwertung der Eidgenössischen Forschungsanstalt und hat sich schon damals und seit seiner Pensionierung noch intensiver den alten Sorten gewidmet.
Persönlichkeiten wie Prof. Dr. Fritz Kobel (links), Direktor der FAW von 1944 bis 1961, und Dr. Karl Stoll (rechts), Gründer und Präsident von «Fructus», haben sich für die Züchtung und Erhaltung der Vielfalt an Obstsorten eingesetzt.


Als von öffentlicher Seite noch wenig Interesse an der Sortensammlung bestand, hat er kurzerhand auf privatem Grund eine Sammlung mit über 500 Sorten auf engstem Raum erstellt. Der aktuelle Begriff der Biodiversität war ihm schon seit Jahrzehnten intuitiv wichtig, ohne ihn dogmatisch anzuwenden. Stoll hat ein Ohr für den Naturschutz, aber auch Verständnis für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Bauern. Die «Poesie der Landschaft» und die Erhaltung des genetischen und kulturellen Erbes, das in den alten Sorten steckt, sind wesentliche Ziele der Bemühungen. 1998 fand unter dem Titel «Obstvielfalt erleben» eine nationale Obstsortenschau in Burgdorf statt, an der über 1000 verschiedene Apfel- und Birnensorten gezeigt wurden. Dieser Anlass wurde von Fructus und Pro Specie Rara in Zusammenarbeit mit der FAW organisiert. Ein schöner Teil der Früchte war in Wädenswil gewachsen.

VOM ZUFALLSSÄMLINGEN ZUR MARKERGESTÜTZTEN ZÜCHTUNG

Bei den Obstorten und ihrer Erhaltung gibt es eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Viele unserer Obstsorten sind zufällig entstanden. Irgendwo, wenn die Voraussetzungen gut waren, konnte ein Same keimen, und einige wenige dieser Pflanzen des Zufalls waren so gut, dass die Menschen sie beachteten, genossen und vermehrten. Heute wird dem Zufall nachgeholfen: gezielte Kreuzungen sollen zur idealen Sorte der Zukunft verhelfen. Während die Apfelsorte Golden Delicious noch ein Kind des Zufalls ist, sind Sorten wie Jonagold, Maigold, Elstar und Gala aus gezielter Kreuzung entstanden. Wir wissen oder ahnen es: heute dreht sich beim Apfel fast alles um den Golden, er beherrscht die Szene. Nicht dass er nicht gut wäre, vielleicht des Guten zuviel. Gefragt sind wieder mehr Vielfalt im Geschmack und Aussehen und natürlich auch robuste Sorten, die Krankheiten und Schädlingen trotzen. Kein leichtes Unterfangen, doch die guten alten Sorten können uns weiterhelfen.
Mit Methoden der modernen Molekularbiologie soll versucht werden, die interessanten Eigenschaften von alten und neuen Sorten auf der Erbsubstanz zu lokalisieren und sie in der modernen Züchtung zu nutzen. Die Forschungsanstalt Wädenswil und die ETH Zürich beteiligen sich im Rahmen des EU-Projekts DARE (Dauerhafte Apfel-Resistenz in Europa) an diesen Anstrengungen. Sorten wie Rote Sternreinette, Oberrieder Glanzreinette, Schweizer Orangenapfel, Schneiderapfel, Dülmener Rosenapfel, Herrnhut, Charles Ross, Egremont Russet, Durello die Forli oder La Paix sind einige der Auserwählten des europäischen Projekts. Ihre Schorf- und Mehltauanfälligkeit wird von den verschiedenen Projektpartnern mit der lokalen Pilzpopulation geprüft. Gleichzeitig werden die breit abgestützten Resistenzen mit molekularen Methoden unter die Lupe genommen. Aufgrund der Ergebnisse können dann interessante Sorten züchterisch verwendet werden. Die Forschungsanstalt Wädenswil und beispielsweise auch Neuseeland und Belgien haben in ihren Zuchtprogrammen immer wieder versucht, auf alte Sorten zurückzugreifen, um spezielle Eigenschaften einzukreuzen. Für die Züchtung ist die Sortenerhaltung deshalb von grosser Wichtigkeit, und die neuen molekularbiologischen Methoden ermöglichen es, unsere Kenntnisse über die Eigenschaften der alten Sorten wesentlich zu vertiefen.

KULTURGESCHICHTLICHES ERBE

Die Sortenerhaltung ist nicht nur für die Züchtung wichtig, sondern auch aus kulturgeschichtlicher Sicht. Die Schweiz hat eine intensive obstbauliche Tradition. Verschiedene Ortsnamen wie Affoltern und AffeItrangen deuten auf die Bedeutung des Apfels hin. Der Obstbau, vor allem auf Hochstämmen, hat ganze Regionen und Generationen geprägt, so auch in Wädenswil und Umgebung. Die Ostschweiz und das Bernbiet waren und sind teilweise bis heute vor allem von Apfel- und Birnbäumen dominiert, die Zentral- und Nordwestschweiz von Kirschen, die Alpensüdseite von Kastanien.
Hochstammbaum-Obstbäume prägen auch in Wädenswil das Landschaftsbild.

Dieses Erbe darf nicht einfach verschwinden. Auch viele Feste und traditionelle Rezepte sind mit dieser Kultur verbunden. In der Westschweiz waren noch anfangs dieses Jahrhunderts viele Süssäpfel verbreitet, bei uns ist der Usterapfel ein typischer Süssapfel. Sie wurden oft zum Dörren, zum Kochen oder als Futter für die Haustiere verwendet. Die Verwendung von Früchten zum Süssen von Speisen hat sich mit dem Birnendicksaft in stark eingeschränkter Form bis heute erhalten. Die Saftbereitung, das Brennen und die Verarbeitung zu Konfitüre und weiteren Produkten sollten heute vermehrt in den kulturgeschichtlichen und ökologischen Zusammenhang zum Feldobstbau und damit zur Landschaftsgestaltung gestellt werden. Hier gilt es, als Konsumentinnen und Konsumenten noch vermehrt etwas für unsere einheimische Obstkultur zu tun.

FEUERBRAND GEFÄHRDET DIE OBSTKULTUR

Die Bakterienkrankheit Feuerbrand hat in den letzten Jahren auch in der Schweiz um sich gegriffen. Die Region Zürichsee ist ebenfalls betroffen. Zwar wurde der Befall bisher vor allem auf Ziergehölzen wie zum Beispiel verschiedenen Cotoneaster-Arten beobachtet. Die Gefahr für die hochstämmigen Obstbäume und die Obstkulturen ist gross und es bleibt zu hoffen, dass diese schwer bekämpfbare Krankheit die Verarmung unserer Kulturlandschaft nicht weiter vorantreibt.
Die Propagandazentrale für Erzeugnisse der schweizerischen Landwirtschaft schrieb im Jahre 1952 zum Geleit zu einer Obstfibel noch schwelgerisch: «Ewig und unabänderlich breitet sich unser Heimatboden in seiner beglückenden Mannigfaltigkeit von Bergen, Hochebenen, Seen, Flussbändern, Wäldern und Äckern aus vor den Blicken seiner Bewohner. Ohne unsere prachtvollen Obstbäume auf grünen Wiesen, in Tälern, weiten Ebenen, an sanften Hängen, wäre diese Landschaft nicht denkbar. Wie viel Ausdauer, Mühe und Fleiss gehörte dazu, um den Obstsegen zu einem Reichtum unseres Landes werden zu lassen.»
Vom Feuerbrand befallener Cotoneaster salicifolius.
Heute, knapp 50 Jahre später, ist wenig Grund für schwelgerische obstbauliche Hymnen, die wirtschaftlichen Realitäten nagen konstant an den Lebenswurzeln der Obstbäume. Wie viel Engagement sind sie uns wert?
 




Dr. Markus Kellerhals