GEORG VON TSCHARNER ALS LEHRLING AUF DER HALBINSEL AU

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1997 von Josef Auf der Maur

Am 5. März 1802 traf der zwanzigjährige Georg von Tscharner, der dritte Sohn des Churer Bürgermeisters Johann Baptist von Tscharner, auf der Halbinsel Au ein. Herr Schinz, Schwiergersohn des Gutsbesitzers Franz Heinrich Tobler, hatte ihn mit dem Schiffchen in Männedorf abgeholt. Für den jungen Mann begann damit ein neuer Lebensabschnitt, als Vorbereitung auf die Betriebsleitung des elterlichen Gutes in Jenins in der Bündner Herrschaft.1
Georgs ältere Brüder, Johann Baptist und Johann Friedrich, waren von ihren Studien in Erlangen zurückgekehrt und bereiteten sich auf die Übernahme politischer Ämter in Graubünden vor. Georg jedoch verfügte nicht über die geistige Beweglichkeit seiner Brüder, und ein höheres Studium überstieg seine Möglichkeiten. Wohl hatte er eine wertvolle, gediegene Grundlage in der Privatschule seines Vaters im Schloss Reichenau erhalten, wo der spätere französische Bürgerkönig Louis Philippe, inkognito als Monsieur Chabot, kurze Zeit gewirkt hatte. Die Schule war auch bekannt durch Heinrich Zschokke, der als Schriftsteller, Historiker, Forstmann und als Regierungsstatthalter im Dienste der Helvetischen Republik berühmt wurde. Als Schulleiter in Reichenau entfaltete er eine emsige Aktivität, bis die Schule beim politischen Umschwung 1798 geschlossen werden musste.2
Georgs Interesse richtete sich auf die Landwirtschaft. Sein Vater war nebst der politischen Tätigkeit als Patriotenführer und lnhaber wichtiger Ämter in der Stadt Chur und in Bünden auch aktives Mitglied der Ökonomischen landwirtschaftlichen Gesellschaft Graubündens. In Wort und Schrift verfocht er die neuen ökonomischen Grundsätze zur Hebung der Erträge auf den Bauerngütern. Im elterlichen Haus in Chur hörte Georg von seinem Vater vieles über Fruchtwechsel, Düngung, Rebbau und Viehzucht. Von ihm übernahm er auch die Überzeugung, dass der allgemeine Weidgang, das sogenannte Atzungsrecht, auf Privatgütern für ein rationelles Arbeiten das grösste Hindernis darstelle und daher abgeschafft werden müsse.3
Als es nun galt, für Georg eine passende Lehrstelle zu finden, wofür es in Graubünden keine Möglichkeit gab, vermittelte der Inhaber der Zürcher Handelsfirma Brunner, bei dem Georgs Bruder Johann Friedrich ein kaufmännisches Praktikumsjahr absolvierte, die Kontakte zu Franz Heinrich Tobler auf der Au. Dessen Gutsbetrieb hatte im «Helvetischen Kalender für das Jahr 1796»4 eine ausführliche Beschreibung erfahren, und Tobler wurde als fortschrittlicher Landwirt gewürdigt. Brunner ging nun persönlich auf die Au, verhandelte in Abwesenheit Toblers mit dessen Schwiegersohn Schinz und berichtete hernach J. B. Tscharner über den Betrieb auf der Au und die Möglichkeit der Lehrstelle: Herr Tobler würde sich nach seiner Rückkehr wahrscheinlich dazu verstehen, «Ihren Sohn anzunehmen und in Kost, Logis und Arbeit nach Ihrem Wunsch zu halten, mit Ausnahme Geographie und Geometrie; dazu finde sich auf der Insel keine Gelegenheit. Schreiben müsste er in einem eine halbe Stunde entlegenen Dorfe lernen.»5

DIE FAMILIE TOBLER AUF DER AU

Franz Heinrich Tobler war 1748 als einziger Sohn des 1752 als Pfarrer in Bergzabern im Elsass verstorbenen Hans Jakob Tobler geboren. Aus dieser alten Zürcher Familie waren viele Theologen hervorgegangen.6 Auch Franz Heinrich studierte Theologie, wurde aber nie Pfarrer, sondern folgte seiner Neigung zum Landbau. Dass Franz Heinrich Tobler den Predigerrock mit dem Bauernkittel vertauschte, lag nicht ganz in seiner eigenen Initiative. Die Teilnahme Toblers am «Bauerngespräch», einer polemischen Schrift gegen die hohe zürcherische Obrigkeit, erschwerte ihm die theologische Laufbahn. Während der Verfasser der Schrift aus der Eidgenossenschaft verbannt wurde, wurden Tobler und Heinrich Pestalozzi als dessen Freunde auf dem Rathaus verhört und bestraft. Tobler betätigte sich nunmehr auf dem Gute eines Freundes als praktizierender Landwirt, worauf er als Wirtschaftsverwalter auf verschiedenen Landgütern beschäftigt war. 1778 übernahm er die Pacht des Au-Gutes, welches dem Staat gehörte. Nach zwölf Jahren konnte er 1790 diesen Gutsbetrieb vom Staat käuflich übernehmen.7
Aus Franz Heinrich Toblers Ehe mit Anna Katharina Schinz (1750–1816) gingen neun Kinder hervor, von denen vier schon im Kindesalter starben. Als Georg Tscharner 1802 auf die Au kam, waren die zwei ältesten Töchter auswärts verheiratet:
Franz Heinrich Tobler, 1748−1828.
Anna Dorothea mit Salomon Schinz und Susanna mit dem Arzt Johann Konrad Honnerlag in St. Gallen. Erstere scheint öfters mit ihrem Gatten auf der Au geweilt zu haben.
Bei den Eltern zu Hause wohnten noch die jüngeren Kinder Toblers: Sara, geb. 1784, Johann Heinrich (Jean), geb. 1787, und David, geb. 1790. Im Haushalt der Familie Tobler lebten ferner ein Knecht, der vor allem das Vieh besorgte, einige Lehrlinge und vermutlich noch weibliches Hilfspersonal, denn der Betrieb war gross, und häufig waren Gäste zu bewirten. Auch waren bei Toblers noch mehrere Taglöhner beschäftigt.8
Franz Heinrich war ein vortrefflicher Lehrmeister. Obwohl er wegen Verwaltungsarbeiten öfters auswärts weilte, hatte er den eigenen Betrieb fest im Griff. Schon sechs Wochen nach Lehrbeginn äusserte sich Georg seinem Vater gegenüber: «In der Landwirtschaft ist Herr Tobler besonders stark; immer weiss er jedem seiner Taglöhner, deren er doch das ganze Jahr durch beständig fünf bis sechs hat, eine Verrichtung anzuweisen, jede Arbeit, sei's auf Äckern, Wiesen oder in den Weingärten, zu gehöriger Zeit verrichten zu lassen, zu rechter Zeit die nötigen Bedürfnisse, Werkzeuge, Stickel und dergleichen anzuschaffen, seine Produkte in möglichst hohem Preise abzusetzen usw.9 Georg konnte somit auch in Betriebs- und Personalführung etwas lernen. Die Lehrzeit zog sich nicht das ganze Jahr hindurch, sondern 1802 und 1803 jeweils von Frühling bis Herbst. Lehrlingslohn gab es keinen, vielmehr war für Kost und Logis eine Entschädigung zu zahlen, deren Betrag Tobler im zweiten Lehrjahre reduzierte.10

DER LANDWIRTSCHAFTLICHE GUTSBETRIEB

Toblers Gutsbetrieb auf der Unteren Au ist im «Helvetischen Kalender für das Jahr 1796» ausführlich geschildert. Georgs Briefverkehr mit seinen Familienangehörigen während der Lehrjahre runden das Bild durch zusätzliche Informationen ab, die durch ihre Unmittelbarkeit lebendig wirken und, gemessen an Georgs Gewissenhaftigkeit, als zuverlässig gelten dürfen.
Georgs erster Bericht, den sein Vater von ihm erwartet, bezieht sich auf den Rebbau auf der Au: «Um also mit meiner Beschreibung, wie billig, bei den Weingärten anzufangen, so bestehen sie aus 3½ Juchart zu 36‘000 Quadratfuss. 3 Juchart davon liegen links vom Hause an einem Hügel, welcher auf dieser Seite gegen die Landstrasse, soweit er dem Hr. Tobler gehört, mit Weinreben und Ackerland, auf der andern (Seite) gegen den See aber mit Waldung bedeckt ist. Dieser Hügel bildet das Vorgebirge, welches man auf dem ganzen Zürichsee sieht, und gehört zum Teil dem Hr. Tobler; der andere Teil ist Nationalwald.
So wie Herr Tobler immer auf Verbesserung seines Landguts, auf welchem er nun 24 Jahre ist, bedacht ist, so hat er auch einen Teil dieses Weinbergs, welcher zuvor mit Gebüsch bedeckt war, mit Reben bepflanzt, nachdem er zuvor das Gebüsch ausgerottet und über hundert Fuder Erde hatte aufführen lassen. Dieser Teil, welcher das nähere Ende begreift, ist ziemlich steil und sehr steinig; man darf kaum einen Schuh tief graben, so ist man auf lauter Felsen und Steinen.
Der ganze Weingarten hat eine sehr gute Lage gegen Mittag ... Es gibt hier einen für den Zürchersee nicht schlechten Wein; z.B. habe ich neuen roten davon getrunken, welcher sehr gut ist. Die Raten (Traubenkämme) wurden aber nicht mitgetorkelt, sondern ausgelesen.»11
Einen Monat später berichtet Georg Tscharner seinem Vater über Toblers Viehstand:12 «Er hat gegenwärtig fünf Kühe und zwei junge Stücke. Zwei Kühe hat er erst kürzlich gekauft, beide um 10 L(ouis) d'or. Sie sind zwar nur klein, geben aber doch ziemlich viel Milch, doch nicht so viel als seine grösste, welche vielleicht die schönste Kuh ist, die ich jemals gesehen habe.
Alle Milch, ausgenommen die man im Haus braucht, gibt er in die Sennhütte, wie es hier gewöhnlich ist, täglich ungefähr 20 Maass; für 100 Maass bekommt er F(ranken) 5:30 B(atzen) und Schotte und Zieger. Die zwei kleinen Stücke wird er in eine Alp verdingen. Er hat einen guten, ordentlichen Knecht, der jährlich ausser dem Essen 50 F(ranken) hat. Diese Woche hat er angefangen, grün zu futtern, welches in der Milch sehr merklich ist.» (Brief vom 13. Mai 1802). Von einer eigenen kleinen Sennerei, über die der «Helvetische Kalender» berichtet hatte, ist hier also nicht mehr die Rede. Auch verfügte Tobler über kein Pferd mehr.
Als es im Juni 1802 ans Heuen ging, galt es früher aufzustehen, als Georg von zu Hause gewohnt war. «Um fünf Uhr bin ich schon am Mähen. Bis abends um halb neun Uhr haben wir dann genug zu tun mit Mähen, Zettlen, Wenden und Heimtragen; denn das Heu wird alles, da es nie mehr als 6 bis 800 Schritte entfernt ist und der Herr Tobler gegenwärtig kein Pferd hält, in Burdenen auf dem Kopf heimgetragen. Ich habe auch schon mehrere solche 60–80 pfündige heimgetragen.»13
Die strenge Arbeit war indessen gut erträglich, gab es doch eine reichhaltige Verpflegung. Am Morgen ass man eine Suppe. Nur Frau Tobler trank Kaffee. Insgesamt gab es fünfmal pro Tag zu essen.
Franz Heinrich Toblers Rebberg bei seinem Landgut auf der Hinteren Au. Ausschnitt aus dem Kupferstich von Heinrich Brupbacher, 1793.
Georg, der aus Bünden Würste mitgebracht oder zugeschickt erhalten hatte, meinte dazu: «So gerne ich die Würste esse, so wüsste ich doch nicht viel damit zu machen.»14
Von Grasbau, Wechselkulturen wie auch von Bienenzucht hätte Georgs Vater gern Ausführlicheres gehört. Zu letzterer aber schreibt Georg:15 «Die Bienenzucht kann ich hier nicht erlernen, da Herr Tobler ... , wie er sagt, schon mehrmalen probiert, aber nie damit reüssiert (hat).» Eine richtige Wechselwirtschaft betreibe Herr Tobler nicht regelmässig. Wohl wechsle er hie und da mit Klee, Korn und dergleichen ab. Mohnölpflanzungen habe er keine, jedoch Lewatölpflanzungen. «Dieses ist, glaube ich, die nämliche Pflanze wie der Raps und gibt Brennöl. Wir haben ihn erst kürzlich eingesammelt.» (Brief vom 1. Juli 1802).
Der Obstbau, der im «Helvetischen Kalender» ausführlich zum Zuge kommt, wobei Spalierobst und die Pflanzungen von etlichen hundert Fruchtbäumen erwähnt werden, fehlt bei Georg fast vollständig. Vaters Interessen lagen wahrscheinlich weniger auf dieser Seite. Nur am ersten Tag, da er gerade von Männedorf her eingetroffen war, schaute Georg zu, wie Herr Tobler und ein Baumzweyer auf hohen Bäumen zweyten.
Von weiteren Arbeiten erwähnt Georg noch beim Rebbau das «Erbrechen, weIches man hier Verzwicken nennt», eine Arbeit im Juni, wobei man die jungen Triebe erstmals am Stecken befestigt. Beim Dreschen von Getreide weist Georg auf den Unterschied zu Jenins hin: «Er besteht vorzüglich im Tenn und in den Flegeln. Das erste (Tenn) ist meistens von Steinplatten, die letzteren (Flegel) ziemlich grösser und schwerer als bei uns.16 Im Herbst gilt es dann noch die Rebberge zu bewachen. «Es gibt nämlich ziemlich viele Fusswege durch die Güter, besonders längs dem See, ... und zwar ziemlich breite.»17
Wie schon erwähnt, war die strenge Arbeit für Georg etwas ungewohnt. Er fand es nötig, seiner Mutter gegenüber zu bestätigen, dass sie wegen seiner Gesundheit unbesorgt sein könne: «Ich bin gottlob beständig gesund, obschon ich schon mehr als zehnmal ganz durchnässt worden bin. Ich glaube jetzt, dass ich mich zu Hause in dieser Rücksicht nur zu sehr geschont habe. Ich brauche aber doch immer die gehörige Vorsicht, z.B. dass ich mich allemal, wenn ich nass werde, auf der Stelle trocken anziehe.»18
Der einstige Landsitz von General Johann Rudolf Wermüller auf der Hinteren Au, später Eigentum der Familie Tobler. Kupferstich von Heinrich Brupbacher, 1793 (Ausschnitt).

Als für Georg das zweite Lehrjahr dem Ende zu ging und der Vater schon den Rückkehrtermin setzen wollte, ersuchte ihn Georg am 21. Oktober 1803 um eine Verlängerung, um die Weinlese, die vermutlich in der folgenden Woche beginne, mitmachen zu können. «Sie wissen, dass hier zu Lande der Wein sogleich ausgedrückt wird, sobald die Trauben aus den Reben kommen, Ich werde daher die hiesige Behandlung des Weins, hoffe ich, vollkommen einsehen können, ohne mich deswegen lange hier aufzuhalten. Was mich am meisten dabei interessiert, ist zu sehen, wie Herr Tobler seinen nicht zu verachtenden roten Wein macht. Er (der Wein) könnte bei uns vielleicht auch noch etwas verbessert werden, wiewohl ich nicht ratsam finden würde, ihn in grosser Quantität zuzubereiten, da ich ihn nicht für sehr haltbar halte.»19
Bezüglich der Verwertung der Erträge von Obst und Wein ist aus Georgs Briefen nichts zu erfahren, Vier Jahre später ist in einem Schreiben seines jüngeren Bruders Stefan, der ebenfalls in der Au als Lehrling weilte, vom Kirschwasserbrennen die Rede, (2. April 1807)20 Und Franz Heinrich Tobler schreibt zwei Jahre später: «In unserer Gegend ist guter Wein und Branntwein nicht ohne Käufer. Der Branntwein hat seit letztem Herbst (1808) ungefähr um ein Viertel aufgeschlagen. Aber leider haben wir nur gar zu viel ganz schlechten Wein im Land, der zu Essig aber nicht zu gut wäre, wenn nur die Cottonsfabriken (Baumwollfabriken) ihn konsumieren könnten. Die Toggenburger sind seit einiger Zeit unsere besten Kunden, und vielleicht noch etwas mehr, als ihr Erwerb aufzubringen vermag.»21

VERHÄLTNIS ZUR BEVÖLKERUNG IM UMKREIS

Es stellt sich noch die Frage: Wie war aus Georg Tscharners Sicht das Verhältnis zur Bevölkerung in der Umgebung? Es fällt auf, dass von Wädenswil nie die Rede ist. Zu einem Tanzanlass fährt man nach Richterswil. Den Einkauf besorgte man hauptsächlich in Zürich, wohin man ja auch den Ertrag der Landwirtschaft brachte. Dass starke Fäden Toblers nach Zürich gerichtet waren, ist aus seiner Herkunft und zeitweiligen Tätigkeit im Stiftskammeramt des Grossmünsters verständlich. Doch ist überliefert dass sich Franz Heinrich Tobler auch der Wädenswiler Bevölkerung zur Verfügung stellte. 1804 nach dem Bockenkrieg setzte er sich für seine Wädenswiler Nachbarn bei der Zürcher Regierung ein und bat um Schonung, allerdings umsonst.22
Für Georg Tscharner und seine ebenfalls zugewanderten Arbeitskollegen bestand weniger Kontakt zur ortsansässigen Bevölkerung. Aus Georgs Briefen ist eine gewisse Distanziertheit erkennbar, wobei die Insellage mitgespielt haben mag. Von seinem Vater wohl zu einem guten Einvernehmen mit den Anwohnern ermuntert, antwortet Georg Tscharner am 15. Juli 1802: «Mit Zürichern suche ich gewiss, soviel mir möglich ist, Bekanntschaft zu machen. Ich muss aber, wiewohl nicht zu Ihrer Ehre, bekennen, dass sie meistens nicht sehr höflich gegen uns sind und sich wenig um uns kümmern.»23 Die «Insulaner» hatten aber etliche Gesellschaft unter sich. Auch war der Zusammenhalt mit der Familie Tobler gut, und häufige Besucher brachten Abwechslung in den Alltag.
Einen kleinen Seitenhieb gegen die «Züricher» könnte man auch einer Schilderung der Rigireise entnehmen, in welcher Georg über die Rückreise über Zug schreibt: Je näher man dem Zürcher Gebiet komme, desto besser sei zwar die landwirtschaftliche Kultur und Fruchtbarkeit des Bodens, doch umso mehr «verlor sich aber auch zusehends der Charakter jener gastfreien Gebirgsbewohner, die wir im Kanton Schwyz hatten».24

SÄBELRASSELN UND BOMBENGROLLEN

Bei der Schilderung des Lebens auf der Au darf nicht vergessen werden, dass in der Zeit, da Georg dort weilte, die Helvetische Republik aufwühlende politische Kämpfe und selbst militärische Einsätze erlebte. Georg, der nur vier Jahre zuvor mit seinen Familienangehörigen beim Einmarsch der österreichischen Truppen aus Graubünden hatte fliehen müssen, war für die politischen und militärischen Vorgänge sehr sensibel.25 In Briefen an seinen Vater rapportierte er stets auffallende Vorgänge aus der Umgebung. Die Au selbst scheint auch in diesem Bereiche etwas wie eine Insel gewesen zu sein. Doch einige Ereignisse schienen Georg der Mitteilung würdig. So äusserte er am 4. August 1802 Bedenken über den Wegzug der französischen Truppen aus der Helvetischen Republik, deren Stütze sie waren, und befürchtete Unruhen in den Kleinen Kantonen im Widerstand gegen die aufgezwungene zentralistische Verfassung. Am 4. September schreibt Georg.26 «Politisch hört man sehr viel, ungeachtet wir hier in ziemlicher Einsamkeit leben, entweder aus Zeitungen oder durch andere mündliche und schriftliche Berichte.» Weiter schreibt er: «Die Wachen dem See nach herauf dauern noch fort; sie untersuchen alle Schiffe, welche hinauffahren. Hier ist auch beständig eine, welche von vier Gemeinden abwechselnd versehen wird. In der Stadt will man sich, wie man sagt, mit Gut und Blut der Einlassung einer Besatzung vom Land wie vom Regierungsstatthalter angekündigt ist, entgegensetzen. Andere Gerüchte behaupten, dass wieder Franzosen einrücken werden. Seit einigen Tagen hört man hier an mehreren Orten schiessen. Ob es zwischen den Kleinen Kantonen und den helvetischen Truppen zu weiteren Gefechten gekommen ist oder was endlich da herauskommen wird, das weiss Gott! Die Eliten, welche hier haben ausgezogen werden sollen, wollen nicht marschieren. Man hört auch schon dann und wann von Landsgemeinden sprechen.» Das war also die Situation, als in der Stadt Zürich wieder die föderalistische Partei die Oberhand gewann und sich eine Belagerung durch die helvetischen Truppen unter General Andermatt vorbereitete. Am 10. September 1802 kam es zur Beschiessung der Stadt Zürich durch die Truppen Andermatts. Die Stadtzürcher erwiderten das Feuer mit Kanonen von den Wällen aus.27
Georg Tscharner schrieb seinem Vater am 17. September: «Die neuesten Vorfälle bei Zürich werden Sie aus der Zürcher Zeitung ersehen. Sie können sich leicht vorstellen, in welcher Angst und Sorge meine Hausleute waren. Wir hörten das Bombardement am Freitag und Montag in der Nacht (10. und 13. September 1802), einige von uns sahen sogar die glühenden Kugeln in die Stadt fliegen. Wir hörten allerlei widersprechende Berichte, bis Hr. Schinz am Donnerstag aus der Stadt kam und uns den sichern Bericht und Ausgang der Sache meldete.»28
Als nach der erfolglosen Belagerung Zürichs durch die helvetischen Truppen unter Andermatt und nach deren Rückzug Zürichs Aristokratie in Verbindung mit den alten Landsgemeinde-Kantonen den früheren eidgenössischen Bund wiederherstellen wollte und damit die helvetisch Gesinnten in den Landgemeinden am See reizte, sandte die Tagsatzung von Schwyz auf Zürichs Wunsch ein Korps von Schwyzern, Glarnern und Bündnern in die Gemeinden am Zürichsee und insbesondere nach Stäfa, wo der Exstatthalter Pfenninger verhaftet und dann nach Schwyz abgeführt wurde.29 Georg rapportierte am 13. Oktober 1802 seinem Vater: «Im Kanton Zürich werden die vornehmsten Patrioten, Pfenninger und dgl., ausgehoben und in Zürich oder anderswo eingesteckt. Am letzten Samstag (9. Oktober) wurden in Zürich auf der Hauptwache und an einigen andern Orten geladene Kanonen mit brennenden Lunten aufgestellt. Am letzten Tag des Markts wurde niemand mit einem Stock oder Waffe in die Stadt gelassen; man musste solche bei der Porte abgeben. Wir leben übrigens hier ganz ruhig und haben keine Wache zu versehen als etwa nachts in den Weingärten»30

ERHOLUNG, AUSFLÜGE UND REISEN

Aller politischen Unrast zum Trotz nahm das Leben auf der Au seinen zumeist ruhigen Gang. Gäste trafen aus nah und fern ein. Im Juli 1802 schildert Georg Tscharner zwei Ausflüge zu Schiff, welche wohl als sommerliche Erholung anstelle von heute üblichen Ferien zu betrachten sind. Seiner Schwester Regina Constantia (Stanzeli) berichtet er von einem Ausflug am 8. Juli auf die Insel Ufnau: «Wir hatten ein gedecktes Schiff. Diejenigen, welche nicht ruderten, sassen im Schiff unter Dach und spielten oder schwatzten miteinander. Herr Schinz, Herr Pfarrer Schinz, Pestaluz (aus Graubünden) und ich arbeiteten abwechselnd an zwei Rudern. Zudem hatten wir einen Schiffmann. So ging die Reise ziemlich schnell von statten. Auf der Ufnau machten wir unter freiem Himmel auf selbstgemachtem Herd Schokolade; zu Lachen assen wir auf dem Schiff mit gutem Appetit, da es schon halb zwei Uhr war, unsern Schinken und Braten. Dann sahen wir noch die Kirche und den Schützenplatz und kehrten nachmittag um 4 Uhr wieder zurück»31
Auch dem Vater sandte Georg einen Ausflugsbericht, eine Schiffsreise zum nahen Richterswil betreffend: «Letzten Sonntag (11. Juli 1802) waren wir mit den Herren Doktor (Honnerlag) und Herr Schinzen, der Jgfr. Toblerin, neun Herren und zwei Frauenzimmern von Zürich in Richtersweil, wo wir brav tanzten. Auf dem Heimweg begleitete uns aber ein beständiger Regen von Richtersweil bis in die Au, sodass wir alle, da wir ein ungedecktes Schiff und nur Regenschirme hatten, mehr oder weniger durchnässt wurden. Ich kam noch fast am besten durch, da ich einen dicken Schiffrock entlehnte, in dem ich freilich eine sonderbare Figur machte.»32
Im August 1803 unternahm Herr Tobler mit einem Sohn und den drei Lehrlingen Georg Tscharner, Imthurn aus Schaffhausen und Pestaluz aus Graubünden einen Ausflug auf die Rigi. Im Bericht über den Hinweg schlagen bei Georg die physiokratischen, ökonomischen Ideen seines Vaters durch: Die Altmatt, das heute geschützte Hochmoor bei Rothenthurrn, erscheint ihm einförmig und langweilig. «Es wird dort nichts gebaut als etwas Erdäpfel, Hanf und sehr wenig Frucht, Gersten und dergleichen. Bäume sieht man sozusagen keine. Das Land ist zwar wild, doch könnte von den ersten Produkten viel mehr gepflanzt werden. Das ungeheure Turbenried (Torf), welches man in der Folge antrifft, könnte auch noch besser benutzt werden, wenn man dem Wasser etwas mehr Abzug verschaffen würde. Besonders würde der untere Teil des Bodens dann sehr gute Turben (Torf) liefern, es könnten dort wohl noch bei mehreren tausend Fudern fortgeführt werden.»33
Die Besteigung der Rigi mit Übernachten in einer Herberge auf Rigiklösterli und frühmorgendlichem Marsch auf die Kulm zum Sonnenaufgang entsprach dem üblichen Schema. Georg erwähnt eine Gruppe «lustiger, junger Zuger», mit denen sie den Berggipfel erstiegen und von denen sie, nachdem sie sich lange am Ausblick ergötzt hatten, zu ihrem selber mitgebrachten Morgenessen eingeladen wurden. «Wir holten ziemlich weit etwas Holz, machten ein grosses Feuer an, lagerten uns drum herum und genossen den mitgebrachten Butter, Brod, Käs und was dergleichen mehr war, einträchtig miteinander.»34
Georg war seit jungen Jahren vom Vater gewöhnt worden, bei Reisen «auch im Vorübergehen auf alles zu achten und jede Sache in Bezug auf ihre Gemeinnützigkeit oder Schädlichkeit in Anwendung auf unser Vaterland zu betrachten, zu vergleichen und zu würdigen.35 Mit seinem Bericht über die Rigitour entsprach Georg nicht ganz diesen strengen Anforderungen, denn im Antwortschreiben des Vaters tönte es etwas anders: «Eine gute Landcharte hättet Ihr haben oder Meyers Charten des Basreliefs bei Euch haben und auf dem Rasengipfel des Rigi ausbreiten sollen, um jeden Berg, Stadt, Fluh und Schloss sogleich zu erkennen.»36 Wir haben Verständnis dafür, dass dem jungen Georg die Gesellschaft lustiger Zuger mehr zusagte.
Mit Herrn Tobler allein unternahm Georg im August 1802 eine Reise nach Aarau, wo Georgs jüngerer Bruder Peter Conradin im Geschäft des eben genannten Johann Rudolf Meyer, des Seidenfabrikanten und Sponsors des 16 Blätter umfassenden Meyerschen Schweizeratlasses, eine kaufmännische Lehre machte und teilzeitlich einige Fächer an der Kantonsschule besuchen konnte.37 Tobler und Georg reisten über Zürich bis zu einem Landgut zwei Stunden unterhalb Zürich, dem Gutsbetrieb Sonnenberg nicht weit unterhalb Höngg. Über dieses 130 bis 140 Jucharten grosse Gut hatte Tobler die Aufsicht. Von da ging die Reise nach Hallwil, wo Georg von Frau von Hallwil und ihrem jüngsten Sohn «sehr höflich und freundschaftlich aufgenommen und zum Übernachten eingeladen wurde».38 Anderntags gelangte er in drei Stunden nach Aarau. Dort traf er seinen Bruder recht wohl und zufrieden, aber «zu meiner grossen Verwunderung beklagte sich Frau Meyer über seinen Mangel an Lebhaftigkeit». Dies erstaunte Georg deshalb, weil Peter Conradin sonst einen Hang zu lockerer Lebensweise besass und nicht den strengen Erwartungen des väterlichen Oberhauptes entsprach.
Über dieses «Reisli nach Aarau», wie es Georg nennt, rapportierte er seinem Vater am 25. August 1802: «Ich habe auf der Reise sowohl in Aarau einige Bekanntschaften und ökonomische Bemerkungen gemacht, auch mit Herrn Tobler viel über Landwirtschaft und dergleichen geredet. Er ist überhaupt ein angenehmer Reisegefährte, in dessen Gesellschaft man nie lange Weile haben wird.»39 Knapp zwei Monate später erhielt Georg in der Au Besuch von Peter Conradin, dem es dort «ausnehmend wohl gefiel.»40

DIE LEHRZEIT NÄHERT SICH DEM ENDE

Gemäss Abmachung sollte Georgs Lehrzeit auf der Au im Oktober 1803 zu Ende gehen. Wie schon erwähnt, bewilligte ihm der Vater die Verlängerung bis nach der Weinlese. Nebst dem Wunsch nach Einsicht in die Weinbereitung hatte Georg auf die Bitten seiner Hausgenossen hingewiesen, die ihn über den Herbst noch auf der Au behalten wollten. Dazu hatte er geschrieben: «An der Aufrichtigkeit ihres Wunsches darf ich nicht zweifeln, da Komplimente und dergleichen bei uns gar nicht in der Mode sind.»41
Eigentlich wollte ihn der Vater über den Winter in ein Institut stecken. Georg vermochte es ihm auszureden, indem er dem Vater vorstellte, so ein kurzer Studiengang nütze ihm weniger, als wenn er vor Übernahme der Verwaltung des elterlichen Betriebes in Jenins vom bisherigen Verwalter Heilmann in den Betrieb eingeführt werde, die Güter zu Jenins kennen lerne und mit den Nachbarn und Wingertleuten Kontakt aufnehmen könne. Der Vater war für diese Gründe zugänglich und schrieb ihm: «Wie freue ich mich, Dich wieder zu sehen und Deine gesammelten Fähigkeiten und Kenntnisse angewendet zu schauen. Wenn Du nur die praktische Kenntnis von Kennzeichen des Viehs und seines Wertes und die ökonomische Buchhaltung nächsten Winter dem Heilmann ablernest und bei Herr Tobler die Kunst, alle häuslichen Einrichtungen und Geschäfte zu rechter Zeit für einander zu bringen Dir zu eigen gemacht hast: So wirst Du im Frühjahr schon imstande sein, die Jeninser Verwaltung anzutreten, wenn auch Fritz (Johann Friedrich, sein Bruder) nicht miteintreten sollte. Da soll gewiss alle Jahre eine anschauliche und gründliche Verbesserung vollführt werden und solches Gut von Jahr zu Jahr in seinem Ertrag zunehmen.»42 Damals war Vater Tscharner wohl schon klar, dass Johann Friedrich, der sich zwar immer für ein beschauliches Landleben begeistert hatte, nun sicher einen andern Lebensweg beschreiten würde. Er war dazu berufen, in der politischen Laufbahn die höchsten Ämter in Graubünden zu übernehmen, ja sogar eine eidgenössische Vermittlerrolle bei der Abtrennung der Landschaft von der Stadt Basel auszuüben.43

WEITERE KONTAKTE DER FAMILIE TSCHARNER ZUR AU

Franz Heinrich Tobler entliess den nun 21-jährigen Georg Tscharner nach Ablauf der festgesetzten Lehrzeit mit bestem Wohlwollen und rühmte seine gute Erziehung, die vorzügliche Kenntnis sowie Verstand und Herzensgüte Georgs. Die Beziehungen der Familie Tscharner zu Tobler waren damit aber nicht abgeschlossen, vielmehr intensivierten sie sich in den folgenden Jahren.
Im Frühling 1807 begann auch Georgs jüngerer Bruder Stefan ein landwirtschaftliches Lehrjahr bei Familie Tobler. «Es gefällt mir hier alles recht wohl: die angenehme Gegend, dies schöne Gut am See gelegen, aber dann besonders die artige und freundschaftliche Familie, bei der ich mich jetzt befinde und deren Umgang gewiss vieles zu meiner Bildung beitragen wird44» Wegen des noch winterlichen Wetters zu Anfang April war seine erste Arbeit das Rebenschneiden bei Spalier- und Stickelreben sowie die Mithilfe beim Kirschwasserbrennen. Gegen Ende April, als Voll betrieb in den Reben und auf den Äckern herrschte, schrieb er: «Wirklich ist es mir recht auffallend zu bemerken, wie die Arbeitsleute am Zürichersee in Vergleichung mit den unsrigen alle Arbeiten mit solchem Leben und Frohmut beginnen, während jene gleichsam unter der Sklaverei seufzen.»45
Stefan war bei den jungen Tobler Söhnen, die ihm altersmässig nahe standen, sehr willkommen. Zu Anfang Juni 1807 unter-nahmen sie gemeinsam eine Reise ins Bündnerland. Begeistert von den Eindrücken schrieb Jean Tobler im Dankesbrief an Vater Tscharner: «Unvergesslich wird uns das Andenken an diese angenehme Reise bleiben. Wir hätten nicht glauben können, dass uns in so kurzer Zeit so vieles zu sehen und zu geniessen zuteil werden könnte. Ihrer menschenfreundlichen Bemühung verdanken wir die Gelegenheit, mit mancher Merkwürdigkeit Ihres Landes bekannt zu werden.»46 Dass dieser Ausflug ins Bündnerische zu einer landeskundlichen Exkursion wurde, erstaunt nicht weiter, da Vater Tscharner ein Spezialist für Bildungsreisen war und früher mit Schülern seiner eigenen Schule in Jenins seinen eigenen Exkursionsstil entwickelt hatte.

EINE ÜBERRASCHENDE HEIRAT

Im Bemühen, Georg Tscharner eine passende, das heisst standesgemässe Gattin zu vermitteln, hatte seine kinderlose Tante Claudia von Planta im Schloss Fürstenau (Domleschg) sondiert. Sie war die einzige noch lebende Schwester seines Vaters, vier Jahre älter als dieser, und seit 1768 mit dem Gesandten P. C. von Planta-Zuoz verheiratet. Nach dem Verlust des Veltlins, den Graubünden selbst verschuldet hatte, verlor Planta sein Gut in Bianzone bei Tirano, und das Paar wohnte seither meistens in Fürstenau, oft auch in Zuoz. Tscharners Kinder waren in Fürstenau bei Tante Claudia immer gern gesehene Gäste und weilten da oft längere Wochen. Georg war ihr ein besonders liebenswerter Neffe, und als er nach seiner Lehrzeit auf der Au zu Jenins zum selbständigen Landwirt wurde, war es der Tante ein Anliegen, ihm eine liebe Frau zu suchen, wobei sie auch die befreundete Gräfin Travers von Ortenstein in ihre Bemühungen einspannte. Tante Claudia organisierte Besuche in den Schlössern Ortenstein und Baldenstein, wo heiratswillige Mädchen wohnten. Aber in beiden Fällen zündete der Funke nicht richtig, die Pläne zerschlugen sich, und Georg äusserte sich, er sei entschlossen, in einer so wichtigen Sache sich nicht zu übereilen.47
Nach 1804 ist bei Georg von Heiratsplänen nichts zu hören. Als nun 1807 sein jüngster Bruder Stefan auf der Au in der Lehre war, tauchte im Sommer unerwartet Georg bei der Familie Tobler auf und ersuchte zur allgemeinen Überraschung um die Hand von Toblers Tochter Sara. Diese, 1784 geboren und zwei Jahre jünger als Georg, sagte ihm sofort zu. Georg schrieb darüber an seinen Vater, Saras Eltern, Geschwister und Verwandte hätten sich mit dieser Verbindung vollkommen zufrieden gezeigt, «und sie selbst (Sara) hat sich auch über meine Erwartung günstig für mich erklärt, da sie mir sogleich ohne Umschweife gestand, sie liebe mich herzlich und hätte schon lange gewünscht, die Meinige zu werden.»48
An Georgs Eltern schrieb Sara: «Verehrungswürdige Eltern! Welch süsses, freudiges Gefühl durchströmt mein Innerstes, dass ich Sie mit dieser lieblichen Benennung begrüssen darf. Wie danke ich Ihnen genug für Ihre gütige, liebevolle Einwilligung, durch die Hand Ihres teuren Sohnes, mich als Ihre Tochter anzunehmen.»49. Saras Mutter, Frau Tobler geb. Schinz, schrieb gleichzeitig am 5. September an Georgs Vater, den «teurgeschätzten Herrn Bürgermeister», sie habe bei Georgs unerwartetem Besuch im ersten Augenblick nicht geahnt, in welcher Absicht er nach der Au gekommen sei; «bis die seltsame Beantwortung einer ganz unbefangenen, an ihn getane Frage mir einen leisen Wink gab». Im weiteren schreibt sie: «Ihre freundliche liebreiche Zuschrift an meinen lieben Mann und die Zusicherung Ihrer elterlichen Zärtlichkeit gegen unsere gute Sara gibt mir die zuverlässigste Hoffnung, dass der Unterschied des Standes und Vermögens des lieben Paares für Ihr edles Herz keine wesentliche Schwierigkeit ist.»50 Auch Franz Heinrich Tobler schrieb von der Stiftsverwaltung in Zürich aus an Bürgermeister Tscharner: «Ihr schätzbarer Brief wird mir ein bleibendes, angenehmes Denkmal der so ehrenvollen Verbindung mit Ihnen und Ihrer achtungswerten Familie gewähren. Keinem mir bekannten Jüngling könnte ich mit so froher Ruhe und Zufriedenheit unsere liebe Sara als Lebensgefährtin überlassen als Ihrem lieben Sohn, dessen gute Bildung, die Folge vortrefflicher Erziehung, mit seiner Herzensgüte, lange schon unser aller Zuneigung und Liebe sich erworben hatte.»51
Auch die Geschwister Georgs freuten sich über seinen Entschluss zur Heirat. Stefan weilte zu dieser Zeit noch auf der Au, und in seinem Brief an den Vater vom 10. September 1807 bemerkte er, er habe an der Zustimmung von Sara und ihrer Mutter zur Heirat nie gezweifelt, jedoch habe er befürchtet, Frau Tobler könnte ihre Einwilligung mit dem Antrag verbinden, dass das junge Paar auf der Au bleiben sollte, «weil sie es vielleicht nicht gerne sähen, dass auch diese Tochter so weit weg heuraten würde, weIches Georg denn doch nicht hätte eingehen können.52. Nun sei er froh, dass diese Sorge umsonst gewesen sei, und er schätze sich glücklich, durch diese Heiratsverbindung so nahe mit Sara und der ganzen TobIerschen Familie, «weIche ich alle sehr liebe und hochschätze», verwandt zu werden.
Auch die beiden älteren Brüder Johann Baptist und Johann Friedrich bekundeten ihre Freude und beglückwünschten Georg zu seinem Entscheid, eingedenk ihrer eigenen Erfahrungen, wie schwer es gegebenenfalls sein konnte, den eigenen Weg zu gehen und die Familienrücksichten zurückzustellen. Hier nun vollzog sich alles in Minne.53
Selbstverständlich wurden auf beiden Seiten des Brautpaares Überlegungen darüber angestellt, wie die materielle Sicherheit der jungen Leute gewährleistet werden könne. Georg rechnete seinem Vater vor, welches zinstragende Vermögen ihm und der künftigen Familie zur Verfügung stehe. Es stellte einen Wert von 562 Franken dar. Über Saras Vermögen schreibt er seinem Vater: «Was ihre ökonomischen Umstände betrifft, so sind diese freilich nicht glänzend und, wie es mir scheint, da ich noch nichts Bestimmtes hierüber weiss, vielleicht unter Ihrer Erwartung. Doch hoffe ich, mit genugsamer Arbeitsamkeit und Sparsamkeit, wozu sie mich versichert, sich sehr leicht entschliessen zu können, dennoch mit Ehren auszukommen. Ich habe sowohl ihr selbst als ihren Eltern meine Vermögensumstände mitgeteilt, und sie halten es doch für möglich, auszukommen.»54
Am 24. April 1808 fand die Hochzeit statt.55 Das Paar richtete sich in Jenins ein. Sara litt noch etwas unter Heimweh. Auch war sie noch etwas überfordert von der Vielzahl ihrer selbständigen Aufgaben im Haushalt. Im kommenden Jahr wurde dem Paar ein Sohn geboren, welcher nach seinem Grossvater Baptisteli (Johann Baptist) benannt wurde. Ihm folgte noch ein Brüderlein, das nach Saras Vater den Namen Franz Heinrich erhielt.
Ihnen folgte eine Elisabeth, und als letzter ein Johann Friedrich, der aber schon einjährig starb.
Nach glücklichen Jahren zu Jenins traf Sara und ihre Kinder im Jahre 1819 ein schwerer Schlag durch den Tod Georgs. Die Todesursache ist nicht bekannt. Danach scheint Sara nach einiger Zeit mit ihren unmündigen Kindern nach der Au übersiedelt zu sein, denn sieben Jahre nach Georgs Tod heiratete sie Johann Huber aus Wädenswil.56
Über Saras Kinder aus der Ehe mit Georg sind folgende Angaben überliefert:57 Die Tochter Elisabeth (geb. 1814) vermählte sich mit Dr. iur. J. A. Sulzberger in WädenswiI. Johann Baptist (geb. 1809) und Franz (geb. 1811) wanderten beide im Jahre 1834 nach Nordamerika aus und wurden Plantagenbesitzer in Neu Schweizerland im Staate IlIinois. Sara, ihre Mutter, starb im Jahre 1869.58
Nach der Heirat von Georg und Sara hatte sich zwischen Bürgermeister Tscharner und Franz Heinrich Tobler eine mehrjährige Korrespondenz über landwirtschaftliche Fragen entwickelt, da sich Tscharner nach dem Rückzug aus der Politik voll der Agronomie zuwandte. Tscharners Gattin Elisabeth, geborene von Salis-Maienfeld starb 1832. Er selbst lebte noch bis 1835.59
Franz Heinrich Tobler übersiedelte 1812 nach Zürich, wo er im Kammeramt eine Dienstwohnung bezog. Seine Amtsgeschäfte beschränkten sich auf die Wintermonate, sodass er den Sommer zur eigenen Verfügung hatte. 1816 starb seine Gattin Anna Katharina geborene Schinz. Sein Todesjahr war 1828.60
Toblers älterer Sohn Johann Heinrich genannt Jean (geb. 1787), heiratete 1811 Anna Sträuli von Wädenswil (geb. 1789). Er und sein Bruder David waren Bürger von Wädenswil. Als Landwirt wohnte Johann Heinrich im Mittleren Ort (im «Scheller» in der Au). Er war ein gütiger Mensch um wurde bekannt als Herbergsvater für Handwerksburschen, Kesselflicker und Zigeuner Er stieg auch in die Politik ein und wurde Kantonsrat.61
Der jüngere Sohn Toblers war David, der 1816 den elterlichen Gutsbetrieb auf der Unteren Au übernahm. Von Natur etwas klein geraten, erwies er sich als ein strenger Herr, der leicht aufbrausen konnte. Er führte auf der Halbinsel eine Wirtschaft, die einen vorzüglichen Ruf genoss. 1856 verkaufte er das Landgut und bezog mit seiner Familie einen neuen Bauernhof im Mittleren Ort, in der Nähe des heutigen Bahnhofs. Aus der Ehe mit Elisabeth Hauser (geb. 1794) gingen vier Töchter und vier Söhne hervor. David starb 1872, seine Gattin überlebte ihn um vier Jahre.62
 
Johann Heinrich (Jean) Tobler, 1787−1851.

David Tobler, 1790−1872, mit seiner Frau.




Dr. Josef Auf der Maur

ANMERKUNGEN

STAGR = Staatsarchiv Graubünden
FA       = Familienarchiv
 
1 STAGR FA Tscharner-St. Margrethen 40/152. Zur Geschichte der Familie von Tscharner s. Literaturverzeichnis.
2 Über das Institut Reichenau s. Sprecher-Jenny, S. 404 ff. und 654 f, mit weiteren Literaturangaben.
3 Zur Ökonomischen Gesellschaft s. Pieth, S. 292 ff. und 355 f. Zum Weidgang s. Sprecher-Jenny, S. 62 ff. und S. 562 ff. mit weiterer Literatur. Für die Zürcher Verhältnisse s. Stiefel-Bianca, Anita. Das Wirken der Ökonomischen Kommission in der zürcherischen Landschaft, Diss. Zürich 1944.
4 Helvetischer Calender für das Jahr 1796, Teil III, S. 52 ff.
5 STAGR FA Tscharner-St. Margrethen 44/257.
6 Über die Familie Tobler s. Ganz, Werner. Die Familie Tobler von Zürich, 1626-1926, Zürich 1928.
7 Zur Halbinsel Au s. Stauber, Emil; Ziegler, Peter; Hauser, Albert im Literaturverzeichnis.
8 STAGR FA Tscharner-St.Margrethen 56/61.
9 ebenda.
10 ebenda, 44/300.
11 ebenda, 40/153.
12 ebenda, 40/154.
13 ebenda, 40/156.
14 ebenda, 40/153.
15 ebenda, 40/159.
16 ebenda, 40/152, 40/156, 40/166.
17 ebenda, 40/166.
18 ebenda, 40/158.
19 ebenda, 233/99.
20 ebenda, 56/308.
21 ebenda, 56/84.
22 Ganz, S. 78 f. Dändliker Bd. 3, S. 179 ff.
23 STAGR FA Tscharner: 40/160.
24 ebenda, 233/98.
25 Pieth, S. 217 ff., Rufer, S. 468 ff., Pfister, A. Die Patrioten, Diss. Bern, Chur 1904, S. 113 ff.
26 STAGR FA Tscharner: 40/164.
27 Dändliker Bd. 3, S. 149 ff.
28 STAGR FA Tscharner: 40/165.
29 Dändliker Bd. 3, S. 154 f.
30 STAGR FA Tscharner: 40/166.
31 ebenda, 40/161
32 ebenda, 40/160.
33 ebenda, 233/93.
34 ebenda, 233/98.
35 ebenda, 235/33 (Reiseberichte 1798/99).
36 ebenda, 231/41.
37 Zur Biographie von J. R. Meyer in Aarau s. Ammann-Feer, Paul. Johann Rudolf Meyer, 1739–1813, in: Lebensbilder aus dem Aargau 1803–1953, Aarau 1953. Ferner: Wolf, Rudolf. Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz Bd. 2, Zürich 1859, S. 231 ff.
38 STAGR FA Tscharner: 40/163.
39 ebenda.
40 ebenda, 40/172.
41 ebenda, 233/100.
42 ebenda, 231/41.
43 Zur Trennungsfrage in Basel 1833 s. von Planta, Vincenz, Johann Friedrich v. Tscharners Leben und Wirken, Chur 1848, S. 87 f.
44 STAGR FA Tscharner: 56/308.
45 ebenda, 56/309.
46 ebenda, 56/295.
47 ebenda, 56/353.
48 ebenda, 56/288.
49 ebenda, 56/289.
50 ebenda, 56/291.
51 ebenda, 56/293.
52 ebenda, 56/318.
53 Zwischen Georgs ältestem Bruder Johann Baptist und dem Vater entspann sich eine lebhafte Korrespondenz über dessen Heiratsabsichten. Darüber s. Färber, Silvio. Mit Ratschlägen wohlversorgt in die Fremde, in: Mundo Multa Miracula, Festschrift für Hans Conrad Peyer, hg. von H. Berger, Chr., H. Brunner, O. Sigg, Zürich 1992.
54 STAGR FA Tscharner: 56/288.
55 ebenda, 231/3 (Kopie des Ehevertrags).
56 STAGR, K III 216/2: Stammbaum der Familie von Tscharner, von A. Sprecher, Geometer, 1942. Siehe auch A. Sprecher, Sammlung rhätischer Geschlechter, 1. Jg., Chur 1847.
57 Schweizer Geschlechterbuch, 4. Jg. (1913) und 7. Jg. (1943).
58 Eine Schilderung der Siedlung «Neu Schweizerland» findet sich bei Köpfli, Salomon. Neu Schweizerland in den Jahren 1831 und 1841, Luzern 1842.
59 Nekrolog auf Johann Baptista von Tscharner (1751–1835), in: Beilage zur Churer Zeitung Nr. 81, 1835.
60 STAGR FA Tscharner 56/85.
61 Ganz, S. 79 f.
62 Ganz, S. 79.

UNGEDRUCKTE QUELLEN

Staatsarchiv Graubünden, Chur: Familienarchiv Tscharner-St. Margrethen. 40/152–154, 156,158–166,172; 44/257; 56/61,84,287–289,291,293,295,308, 309,318,353; 231/3,41; 233/93, 98–100; 235/33.
Sprecher, Anton. Stammbaum der Familie von Tscharner, Bündner Zweig, 1942.

LITERATUR

Eggenberger, Walter. Der Rebberg auf der Halbinsel Au, in: Jahrbuch vom Zürichsee 1954/55, Stäfa 1955.
Fischer, Gerold. Der Park des Schlossgutes Au, in: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1992.
Ganz, Werner. Die Familie Tobler von Zürich 1626–1926, Zürich 1928, mit mehreren Porträts und Stammtafeln.
Hauser, Albert. Halbinsel Au – ein Glücksfall, Zürich 1991.
Helvetischer Calender für das Jahr 1796.
Hess, Georg. Der Rebberg auf der Halbinsel Au, in: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1995.
Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, 7 Bde., Neuenburg 1921–1934.
Padrutt, Christian. Johann Baptista von Tscharner (1751–1835), in: Bedeutende Bündner, Bd. 1, Chur 1970.
Pieth, Friedrich. Bündnergeschichte, Chur 1945.
Rufer, Alfred. Johann Baptista von Tscharner (1751–1835), Eine Biographie im Rahmen der Zeitgeschichte, Chur 1963.
v. Sprecher, J. A. Kulturgeschichte der Drei Bünde im 18. Jahrhundert, hg. von Rudolf Jenny, Chur 1976.
Stauber, Emil. Die Halbinsel Au im Zürichsee, Zürich 1913.
Ziegler, Peter. Aus der Geschichte der Halbinsel Au, in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1960, Zürich 1959.
Ziegler, Peter. Die Au gestern – heute, Wädenswil 1984.