Walther-Hauser-Strasse: Von der Quartier- zur Wohnstrasse

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1980 von Bruno Ern / Oskar Fischer

Der Funktionswandel des öffentlichen Raumes

Die öffentlichen Räume – Wege, Strassen, Plätze, Wälder, Hinterhöfe, Gärten – erfüllten früher vielfältige Funktionen. Sie dienten nicht nur der Verbindung zwischen verschiedenen Orten; sie waren zugleich auch Entfaltungsraum für Kinder, Arbeitsfläche für Erwachsene, Erholungsort für Familien, Aufenthaltsplatz für Betagte, ganz allgemein Träger örtlicher Öffentlichkeit und damit auch Stätte sozialer Begegnung.
Die zunehmende Technisierung und Motorisierung hatte zur Folge, dass die Begegnungsfunktionen des öffentlichen Raumes laufend zurückgedrängt wurden zugunsten der Transport- und Verkehrsbedürfnisse insbesondere des individuellen Motorfahrzeuges. Öffentliche Plätze wurden umgewandelt in Abstellflächen für Motorfahrzeuge; in den grösseren Orten mussten Bäume, Sträucher und Vorgärten sehr oft ganzen «Alleen» von Parkuhren weichen. Zur Steigerung der individuellen Mobilität und zur Bewältigung des zunehmenden Individualverkehrs mussten die Fahrbahnen vielerorts verbreitert werden. Höhere Fahrgeschwindigkeiten steigerten die Risiken für die übrigen Verkehrsteilnehmer, ganz besonders für Fussgänger und Velofahrer.
Die zunehmend verdrängten Begegnungs- und Verweilfunktionen weckten Bedürfnis nach Spielplätzen, Sportanlagen, Parks, Erholungsgebieten, Wochenendhäusern, Freizeitanlagen usw. usw. Viele dieser Ersatzbegehren sind bis heute derart dringend geworden, dass ihre Erfüllung oder Reglementierung der öffentlichen Hand übertragen wurde.

Wohnstrassen als Mittler zwischen Wohnqualität und Verkehrsbedarf

Der vielfältige Ruf, früher nach Fussgängerzonen, heute eher nach Wohnstrassen, lässt sich kaum mehr nur als Modeerscheinung erklären. Die Begehren nach Wohnstrassen in den Quartieren stellen eine der möglichen Reaktionsformen dar auf die oben beschriebene Entwicklung. Verschiedene Erfahrungen im Ausland – vor allem in Holland und England – haben aufgezeigt, dass es mit dieser Organisationsform gelingen kann, die Konflikte zwischen Verkehrsfunktion einerseits und Wohn-, Begegnungs- und Verweilfunktionen andererseits zu überbrücken, ja dass mit den Wohnstrassen die Lebensqualität in den Quartieren gehoben werden kann. Dieses Ziel kann erreicht werden, indem

- Die Geschwindigkeit des Fahrzeugverkehrs mit baulichen Massnahmen auf die übrigen Nutzungsformen des Strassenraumes im Quartier abgestimmt wird,
- Für den rollenden Verkehr nur der absolut notwendige Raum ausgeschieden und markiert wird, so dass auch für die übrigen Funktionen die räumlichen Voraussetzungen bereitgestellt werden können,
- Die Gestaltung und Möblierung der Wohnstrasse auf die verschiedenen Bedürfnisse und auf die charakteristische Erscheinung des Quartiers abgestimmt wird.
Innerhalb der Wohnstrasse haben die schwächeren Verkehrsteilnehmer Vortritt: Fussgänger vor Fahrzeugen, Zweiräder vor Vierradfahrzeugen. Die Wohnstrasse, so wie sie allgemein verstanden wird, soll jedoch allen Benützern als gleichberechtigte Partner zur Verfügung stehen. Einerseits muss die Zufahrt für Anwohner und Besucher jederzeit gewährleistet sein und die Fahrzeuge dürfen in ihrem Fortkommen nicht behindert werden; andererseits steht der nötige öffentliche Raum zur Verfügung zum Schwatzen, Spielen, Lesen, Stricken, usw.

Voraussetzungen zur Schaffung einer Wohnstrasse

Aus verkehrstechnischer Sicht sollten als Wohnstrassen nur Verkehrsräume in Frage kommen, welche frei sind von quartierfremdem Verkehr. Es soll damit vermieden werden, dass Durchgangsverkehr umgelagert wird. Wohnstrassen müssen sich deshalb in eine übergeordnete Verkehrsplanung einfügen. Auf Strassenabschnitten, welche als Wohnstrassen vorgesehen werden, sollte kein öffentliches Verkehrsmittel zirkulieren. Die Fahrbahn muss so breit sein, dass das Fahrverhalten der Motorfahrzeuglenker durch bauliche Massnahmen auf die Anforderungen aller übrigen Wohnstrassenbenützer abgestimmt werden kann.
Der Bau und das Einrichten einer Wohnstrasse setzt ein echtes Bedürfnis und den Wunsch der überwiegenden Mehrheit der Quartierbewohner voraus. Soll die Idee auch in der Praxis erfolgreich sein, bedingt dies das aktive Mitwirken der Quartierbewohnerschaft bei der Planung, beim Bau und beim späteren Unterhalt.
 

Zeitlicher Ablauf am Beispiel der Walther-Hauser-Strasse

Die nachfolgende Zusammenstellung zählt am Beispiel der Walther-Hauser-Strasse die wichtigsten Schritte auf, welche von der Anregung über die Planung zur Verwirklichung des ersten Wohnstrassen-Versuches in Wädenswil führten:

1978
Im Hinblick auf die späteren Planungsaufgaben der Gemeinde erarbeitet der Stadtrat Leitbild-Vorstellungen zur künftigen Entwicklung der Stadt Wädenswil.
 
Leiden und Freuden einer Wohnstrasse. Zeichnung des Karikaturisten Büchi.
 
Das Signal «Wohnstrasse» bedeutet:
Die Fussgänger dürfen die ganze Strasse benützen; das Spielen auf der Strasse ist erlaubt.
Die Höchstgeschwindigkeit der Motorfahrzeuge ist auf 20 km/h beschränkt.
Die Fahrzeuge dürfen die Fussgänger weder gefährden noch behindern; andererseits dürfen die Fussgänger den Verkehr nicht unnötig behindern. Das Parkieren von Autos ist nur an dafür besonders gekennzeichneten Stellen gestattet.
 
Januar 1979
Verschiedene Vereine, Gruppen und Parteien beginnen sich mit den Entwicklungsvorstellungen auseinanderzusetzen. Eine der zentralen Fragen bezieht sich auf die Wünschbarkeit der Verlegung der unteren Zugerstrasse, verbunden mit der Schaffung einer Fussgängerzone im Dorfzentrum.
 
Februar 1979
Eine Parteiversammlung des Landesrings der Unabhängigen (LdU) spricht sich gegen die Verlegung der Zugerstrasse aus, wünscht jedoch eine Alternative zur Fussgängerzone im Wädenswiler Kern, zum Beispiel in Form von Wohnstrassen in verschiedenen Quartieren unserer Stadt.

März 1979
Die Gemeinderäte Oskar Fischer und Bruno Ern reichen ein Postulat ein, mit welchem der Stadtrat gebeten wird - im Rahmen der Überarbeitung der Ortsplanung, insbesondere des Verkehrsrichtplanes, geeignete Quartierstrassen vorzusehen, welche als Wohnstrassen ausgebaut werden können, - in Zusammenarbeit mit der betroffenen Bevölkerung und unter Ausnützung aller gesetzlichen, baulichen und polizeilichen Möglichkeiten die Ausgestaltung und Kennzeichnung solcher Wohnstrassen zu planen und zu verwirklichen;

- Wädenswil als Versuchsgemeinde für Wohnstrassen beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement in Bern anzumelden;
- Jährlich innerhalb des Geschäftsberichtes über den Stand der Planung und der Verwirklichung von Wohnstrassen Bericht zu erstatten.

Mai 1979
An der Gemeinderatssitzung erklärt sich der Bauvorstand, W. Höhn, namens des Stadtrates bereit das Postulat entgegenzunehmen.
 
Unabhängig von der parlamentarischen Diskussion hat sich kurz zuvor, auf Initiative verschiedener Bewohner im Eichweidquartier, eine Gruppe unter der Leitung von Roland Heuberger zusammengefunden, welche erste Projektvorschläge für eine Wohnstrasse auf der Walther-Hauser-Strasse einreicht.
 
Oktober 1979
Der Stadtrat gibt an der Gemeinderatssitzung seine Bereitschaft bekannt, die Stadt Wädenswil beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement als Versuchsgemeinde für eine Wohnstrasse anzumelden. Als Versuchsprojekt scheint die Walther-Hauser-Strasse geeignet. Die Projektidee der Anwohner soll deshalb weiterverfolgt werden.
Mit einer Umfrage über das ganze Gebiet der Stadt Wädenswil versucht der LdU herauszufinden, in welchen Quartieren das Bedürfnis und der Wunsch nach einer Wohnstrasse am ausgeprägtesten sind. Die Umfrage lässt klar erkennen, dass die Wohnstrassendiskussion im Eichweidquartier am weitesten fortgeschritten ist. Die Walther-Hauser-Strasse erreicht die grösste Anzahl der abgegebenen Stimmen. Ein zweites Schwergewicht ergibt sich für die General-Werdmüller-Strasse in der Au, gefolgt von 25 weiteren Strassenabschnitten, welche nach Ansicht verschiedener Mitbürger als mögliche Wohnstrassen in Frage kommen.
 
Januar bis April 1980
Das Bauamt überarbeitet das private Wohnstrassenprojekt für die Walther-Hauser-Strasse. Dieses wird den zuständigen Instanzen in Bund und Kanton eingereicht. Das Versuchsobjekt erfüllt die kantonalen Bedingungen und übersteht auch nach geringfügigen Änderungen die Prüfung durch die eidgenössischen Instanzen. Recht bald schon erhält die Gemeinde die nötigen polizeilichen Bewilligungen für das Wohnstrassenprojekt Walther-Hauser-Strasse. Abzuwarten ist noch das formelle Bewilligungsverfahren mit Ausschreibung innerhalb der Gemeinde Wädenwil selbst.
 
Mai 1980
Mit Informationstafeln und einem umfassenden Artikel im «Anzeiger» wird die Bevölkerung von Wädenswil offiziell über das in Aussicht genommene Wohnstrassenversuchsprojekt informiert. Alle Einwohner werden eingeladen, Wünsche und Anregungen zu diesem Vorhaben einzureichen. Die Orientierung wird begleitet durch eine Umfrage des Bauamtes bei den Anwohnern der Walther-Hauser-Strasse. Von den 160 ausgeteilten Fragebogen erhalt das Bauamt 86 ausgefüllt zurück. 73 % der Antwortenden sprechen sich für, 27 % gegen das Wohnstrassenprojekt aus.

12. Juni 1980
Am Abend der Orientierungsversammlung sendet Radio Zürich im Regionaljournal einen Beitrag über den Wohnstrassen-Versuch in Wädenswil.

Juni 1980
Die Arbeitsgruppe Pro Wohnstrasse konstituiert sich. Als erstes nimmt sie die Aufgabe in Angriff, in Zusammenarbeit mit dem Bauamt und weiteren Beteiligten eine Orientierungsversammlung über das Wohnstrassenprojekt zu organisieren. Am 12. Juni 1980 benützen weit über 100 Mitbürger die Gelegenheit, sich auf der Walther-Hauser-Strasse zu treffen, wo das künftige Wohnstrassenprojekt an Ort und Stelle markiert worden ist. Nach der Besichtigung findet sich ein engagiertes Publikum in der Turnhalle Gerberacher ein, wo Stadtingenieur Karl Bachmann sowie der zuständige Sachbearbeiter Roland Heuberger das Wohnstrassenprojekt fachkundig erläutern.
Die Diskussionsleitung liegt in den Händen von Bruno Ern. Die Orientierungsversammlung wird aufgelockert durch Tonbildschauen der Pro Juventute über Kinderunfälle und über die bisherigen Erfahrungen mit Wohnstrassen an anderen Orten. Die Diskussion wird sehr lebhaft benützt. Es kristallisieren sich drei verschiedene Gruppen mit ihren Standpunkten heraus: Jene vorwiegend jüngerer Eltern
im befürwortenden Sinn, jene der Grundeigentümer eher skeptisch, und eine Gruppe von vorwiegend älteren Mitbürgern, welche ihren Bedenken Ausdruck verleihen wegen zusätzlichen Immissionen, neuen Unfallgefallgefahren u.a.m. Allgemein herrscht jedoch nach Abschluss der Orientierungsversammlung der Eindruck vor, dass es gelungen ist, eine Annäherung der Standpunkte zu erreichen. Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden, dass eigentlich erst der Versuch selbst Aufschluss darüber geben kann, ob die vorgetragenen Bedenken stichhaltig sind.
 
Juli 1980
Auf Antrag der Bauabteilung bewilligt der Stadtrat einen Kredit von Fr. 17 000.-, um die Walther-Hauser-Strasse während einer Versuchszeit von zwei Jahren in eine Wohnstrasse umzugestalten. Kurz danach wird das bereinigte Projekt offiziell ausgeschrieben.
Was ist aktuell im Quartier? An der Anschlag-Säule erhält man Auskunft.

August bis September 1980
Parallel zu den offiziellen Vorkehrungen führt auch die Arbeitsgruppe PRO WOHNSTRASSE ihre Tätigkeit weiter. Mit viel Idealismus und grosser Einsatzfreude engagiert sich eine ansehnliche Zahl von Quartierbewohnern an der weiteren Vorbereitung des Wohnstrassenprojektes. In neun Untergruppen werden die verschiedenen Aufgaben und Probleme angegangen:
3 Goodwill-Gruppen informieren die verschiedenen Anwohnergruppen, die Grundeigentümer und Hausverwaltungen
1 Gruppe ist verantwortlich für die Holzarbeiten, die Möbilierung und Bepflanzung sowie für das Errichten einer Anschlagsäule
2 Parkplatz-Gruppen setzen sich mit den verschiedenen Betroffenen zusammen, um die vorteilhaftesten Lösungen für die Parkplatzprobleme zu finden
1 Gruppe befasst sich mit Spielmöglichkeiten auf der Wohnstrasse
1 Gruppe sucht nach Lösungen für die baulichen und verkehrstechnischen Anpassungen
Die Leitung und Koordination obliegt der Leitergruppe, welche angehören: Roland Bickel (Gesamtleitung) Frau E. Rütti (Aktuarin) Horst Schwarz (Festivitäten), Dölf Zellweger (Bepflanzungen) und Roland Heuberger (technische Leitung).

An verschiedenen Sitzungen orientieren die Gruppen über den Stand ihrer Arbeiten. Dank der guten Vorarbeit und der umfassenden Öffentlichkeitsarbeit gegenüber Anwohnern, Grundeigentümern und Verwaltungen wird keine Einsprache gegen das Wohnstrassenprojekt eingereicht. Die baulichen Anpassungsarbeiten können somit ohne Verzug eingeleitet werden.
Bauzeit: 27. August bis 15. September 1980

27. August: die Firma Egolf AG beginnt mit den Anpassungsarbeiten an der Strasse: Aufschiften mit Belag, Versetzen der Schwellen.
Die weiteren Arbeiten werden grösstenteils durch die Anwohner erledigt. Die Fronarbeit an Samstagen – unter der Anleitung der Arbeitsgruppe Pro Wohnstrasse – macht viel Spass und fördert den Kontakt.
4. September: Aufstellen der Wohnstrassen-Tafeln.
6. September: Zusammenbau und Aufstellen der Pflanztröge aus Holz.
9. September: Humusieren durch das Bauamt Wädenswil.
13. September: Bepflanzung. Aufstellen der Tische und Bänke, Aufzeichnen von Hüpfspielen.
14. September: Letzte Vorbereitungsabsprachen für die Festivitäten vom kommenden Samstag.
15. September: Markierungen durch das Bauamt Wädenswil.




Bruno Ern





Oskar Fischer