Der verlorene junge Haubentaucher

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2014 von Hans Oberhänsli

JUNGE HAUBENTAUCHER

Wenn sie auf dem im Schilf verankerten Schwimmnest zur Welt kommen, haben die faustgrossen Haubentaucher ein weisses Dunenkleid mit schwarzen Längsstreifen. Die Augen sind schwarz. Auf dem Kopf haben sie vor den Augen und auf der Kopfplatte rote Nacktstellen. Die Nestflüchter können vom ersten Tag an schwimmen. Sie können sich jedoch erst nach etwa siebzig Tagen selbständig ernähren. Sie benötigen eine andere Betreuung durch ihre Eltern als beispielsweise die jungen Stockenten, die selber Nahrung zu sich nehmen sobald sie sich von der Mutter angeführt im Wasser fortbewegen.

BEEINTRÄCHTIGTER INFORMATIONSAUSTAUSCH

Die Eltern der Haubentaucher verlassen nach dem Schlüpfen der Jungen das Nest. Nach dem Verlassen des Nestes wählt das Paar einen Aufenthaltsort entlang dem Ufer. Um diesen herum nimmt es ein Revier für sich in Anspruch. Diesem Ort hält es vielfach über Jahre die Treue. Am 30. Juli 1997 suchte ein Haubentaucherpaar einen Aufenthaltsort zur Aufzucht der Jungen. Es schwamm durch den Bootshafen Rietliau zwischen dem Schilf und dem Steg. Ein Elternteil trug ein Junges unter den Flügeln. Das Zweite schwamm neben den Eltern. Die Jungen waren wenige Tage alt.
Das von den Eltern aufgegebene, erst wenige Tage alte, sich selbst überlassene Junge.

Das Paar war nicht ortskundig. Es hatte nicht im Schilf des Bootshafens gebrütet. Entlang der östlichsten Bootsbucht kreuzte sich ihr Weg mit einem ortsansässigen Haubentaucher. Der unerwarteten Begegnung folgte ein lautes Geschnatter, ein Plätschern und Flügelschlagen. Der Kampf war schnell zu Ende. Das Paar floh durch Tauchen. Die Flucht erfolgte lautlos. Der Haubentaucher, der das eine der beiden Jungen auf dem Rücken trug, tauchte mit diesem ab. Das zweite Junge blieb alleine zurück. Es war zu klein, um den Eltern beim Tauchen zu folgen. Eine Sichtverbindung zwischen dem Jungen und den Eltern bestand nicht mehr, denn sie flüchteten in die westlichste Bootsbucht des Bootshafens. Sie verhielten sich dort ruhig und unauffällig. Weder riefen sie noch suchten sie nach dem verlorenen Jungen. Für sie war die Trennung endgültig.
Haubentaucher beim Angriff auf einen Artgenossen. Seine Kampfbereitschaft zeigt er durch den auf das Wasser herabgesenkten, gestreckten Hals und der aufgestellten Halskrause.

Das Junge war auf sich allein gestellt. Es wollte die Trennung zwischen ihm und den Eltern nicht hinnehmen und brach nach einer Weile auf, um die Eltern zu suchen. Es schwamm an den vertäuten Booten vorbei durch die östlichste Bootskammer gegen den einzigen Ausgang der Hafenanlage. Unterwegs traf es auf den Haubentaucher, der seine Eltern vertrieben hatte. Es näherte sich ihm mit dem Schnabel und piepste aufdringlich. Der Angesprochene fasste das Junge mit seinem Schnabel am Hals, schüttelte es, liess schliesslich von ihm ab und tauchte weg. Nach einem längeren Unterbruch nahm das Junge die Suche nach den Eltern wieder auf. Die Aufgabe, die es sich gestellt hatte, erwies sich als ein schwieriges, fast unlösbares Unterfangen. Es wusste nicht, wo sich seine Eltern aufhielten. Es schwamm durch die Bootskammer zur Fahrrinne der Boote, die alle sechs Bootskammern miteinander verbindet. Es peilte als erstes den Hafenausgang an. Dort kehrte es um und schwamm westwärts an allen Bootskammern vorbei zum anderen Ende des Hafens. In der sechsten, westlichsten Bootskammer fanden die Eltern Zuflucht. Das Junge und die Eltern nahmen einander nicht wahr. Das fortlaufende Piepsen des Jungen erreichte sie nicht. Seine Laute waren zu schwach, damit die Eltern diese auf eine Distanz von etwa zwanzig Metern hätten wahrnehmen können.
Blick auf die Fahrrinne des Bootshafens Rietliau. Das Junge legte die lange Strecke auf der Suche nach den Eltern schwimmend zurück.

Das Junge kehrte an der Hafenmauer um und begann den Weg zurück zu schwimmen, den es gekommen war. Seine Eltern nahmen es wieder nicht wahr. Die Kräfte waren nach der etwa 200 Meter langen Odyssee erschöpft. Es hielt in unmittelbarer Nähe eines vertäuten Motorbootes inne. Der zufällig anwesende Bootsbesitzer hob es aus dem Wasser und brachte es in die Nähe der Eltern. Das Junge zappelte zwischen seinen Fingern und schrie heftig. Die Eltern hörten diese Schreie, als der Beschützer des Jungen sich ihnen bis auf etwa zehn Metern genähert hatte. Sie erregten sich sehr. Sie stiessen Alarmrufe aus und drehten sich aufgeregt im Kreis. Dem Retter des Jungen gelang es nur mit Mühe, das Küken solange zurückzubehalten, bis es an der günstigsten Stelle ins Wasser gelassen werden konnte. Zurück im Wasser schwamm das Junge schnurgerade auf seine Eltern zu und kroch sofort unter die Flügel des Altvogels, welcher bereits das Geschwister hütete. Augenblicklich beruhigte es sich und gab das hektische Piepsen auf.

DIE SPRACHSIGNALE DER JUNGEN

Die Jungen erzeugen intuitiv mit dem Stimmapparat, der sogenannten Syrinx, ein deutlich abgesetztes „pike – pike – pike. Das Lautmuster ist sowohl den männlichen wie den weiblichen jungen Haubentauchern angeboren. Die Laute folgen sich ohne Unterbruch. Die Jungen artikulieren diese ohne großen Aufwand. Die Stimme wächst mit dem Alter. Die Sprachsignale sind an die Eltern gerichtet. Die Jungen wissen, dass die Eltern sie an den Lauten erkennen und anhand von diesen als ihre eigenen Kinder identifizieren.
Ein Elternteil verweilt ständig am gleichen Ort und beaufsichtigt das wenige Tage alte Junge. Der Abstand zwischen beiden ist klein.
 
Die Eltern verhalten sich gegenüber ihren Kindern wie auch untereinander stumm. Sie bedienen sich einzig der Gebärdensprache. Sie kompensieren den begrenzten Einsatz sprachlicher Mittel durch eine stete Beaufsichtigung der Jungen. Der Bewacher verweilt stoisch an einem von ihm gewählten Ort. Dieser bildet den Mittelpunkt eines Reviers. Ein naher Körperkontakt prägt die Beaufsichtigung des Jungen durch den Bewacher. Die Jungen harren mit dem Altvogel tagelang am gewählten Standort aus. Sie teilen ihm ihre Befindlichkeit durch ein ununterbrochenes Piepsen mit. Es sind schließlich die Jungen, welche die Bewachung irgendwann beenden. Das geschieht dadurch, dass sie dem Elternteil entgegen schwimmen, der für sie die Nahrung beschafft. Je häufiger und je weiter sie sich vom bewachenden Elternteil entfernen, umso schneller gibt dieser die Bewachung auf und beginnt zur Nahrungsbeschaffung beizutragen.
Die Arbeitsteilung unter den Männchen und Weibchen setzt eine intensive partnerschaftliche Beziehung voraus. Jedes Jahr müssen sie diese neu aufbauen und bis zur Aufzucht der Jungen ständig daran arbeiten. Männchen und Weibchen begegnen sich als gleichwertige Partner. Sie wenden die gleichen körperlichen Ausdrucksformen an, mit denen sie sich ihre Zusammengehörigkeit zeigen. Die Eltern sorgen gemeinsam für die Jungen bis diese nach etwa siebzig Tagen wegfliegen und der Informationsaustausch abbricht.




Hans Oberhänsli