Zuwanderung von Graugänsen

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2012 von Hans Oberhänsli

Graugänse sind in den 1980er Jahren in die Schweiz eingewandert und breiten sich seither langsam aber stetig aus. Seit dem Jahr 2007 treten vereinzelte in unregelmässigen Abständen entlang dem Seeufer von Wädenswil auf. Bevorzugte Aufenthaltsorte sind die Futterplätze am See, wo besorgte Personen zu jeder Jahreszeit die Wasservögel füttern. Auf Grund dieser Entwicklung zeigte sich am 19. Mai 2010 ein Paar mit einem frisch geschlüpften Jungen in der Vorder Au. Das Junge starb nach vier Tagen. Das Paar verzichtete auf ein Nachgelege. Es kehrte mit grösseren Unterbrüchen wieder zu den Futterplätzen zurück.
Etwas früher als im Jahr zuvor erschien am 14. Mai 2011 wiederum in der Vorder Au ein Grauganspaar mit frisch geschlüpften Jungen. Die Kücken schwammen dem Männchen hinterher. Sie sind durch das weiche, gut tarnende Dunenkleid bereits gut gegen Witterungseinflüsse geschützt. Den Schluss der Gruppe bildete das Weibchen. Das Paar fand nur ein einziges, für die Jungen leicht zugängliches Grundstück, das durch keine Ufermauer vom See getrennt ist. Das ist das Strandbad Rietliau. An diesem Ort zupften die Jungen die kurz geschnittenen Grashalme ab und nahmen diese als Nahrung auf. Diese genügte ihnen zum Wachsen. Die Familie lebte zurückgezogen und vermied den Kontakt zu den Menschen.
Graugänse sind Vegetarier. Ihre Hauptnahrung ist Gras.
 
Nach etwa siebzig Tagen erschien die Familie zum ersten Mal am Seeplatz, wo sie sich in der Folge immer häufiger zeigte. Schnell verloren die Jungen jede Scheu gegenüber den Menschen. Einzig Hunde vermochten sie vom Betteln um Futter abzuhalten. Während der Nacht zog sich die Familie auf das Wasser oder auf sichere Ruheplätze zurück. Nach rund 90 Tagen vermochten die Jungen zu fliegen. Die Familie wechselte in der Folge oft ihre Aufenthaltsorte. Sie flog stets in Kettenformation, der Vater voraus, die Jungen eines hinter dem andern her und am Schluss die Mutter.
Mit den Aufenthalten am Seeplatz hörten die Besuche des Strandbades Rietliau weitgehend auf. Hier lebten sie auf Kriegsfuss mit dem Badmeister. Er vertrieb sie stets aufs Neue mit verschiedensten Vergrämungsaktionen. Weil die Gänse für ihre Jungen keinen anderen geeigneten Weideplatz entlang dem Seeufer fanden, gab es für sie anfänglich nur diese eine Lösung, weshalb sie hartnäckig immer wieder zum Strandbad zurückkehrten. Das die Familie beherrschende und führende Männchen beobachtete das Verhalten des Badmeisters peinlich genau.
Beim Rufen werden die gezähnten Seitenkanten des Schnabels sichtbar. Diese dienen einzig dem Abzupfen von Gras.

So war die Familie in der Lage, sich den ständig verändernden Verhältnissen anzupassen. Die Gänse weideten, bevor der Badmeister am Morgen eintraf und sie waren wieder anwesend, sobald er mit dem Auto wegfuhr. Ein Pfiff des Badmeisters genügte, um sie zum Verlassen des Strandbades zu bewegen. Die Zeit, während der ihnen der Aufenthalt im Strandbad untersagt war, verbrachte die Familie schwimmend im Wasser.
Nach 90 Tagen unterscheiden sich die Jungen noch durch ihr dunkles Gefieder von dem sie behütenden Ganter.

Die Familie entwickelte trotz Zugtradition kein Zugverhalten. Selbst während des harten Winters verblieb sie ständig am Seeplatz. Der Kälteeinbruch in der ersten Februarhälfte, der den Rasen gefrieren liess und zur Vereisung der Ufer führte, veranlasste sie nicht, ihr Verhalten zu ändern. Sie vertrauten ganz auf die besorgten Mitbürger und Mitbürgerinnen, die sie reichlich fütterten.
Die Familie hielt über den Winter zusammen. Sie verbrachte diesen am Seeplatz.

Die Familie zeigte einen festen Zusammenhalt bis Mitte Februar 2012. So lange wachte der Ganter aufmerksam über die Familienmitglieder, alarmierte mit Schreien und sorgte sich um den Zusammenhalt. Er liess es nicht zu, dass sich Junge zu weit von der Gruppe entfernten. Die Gruppenmitglieder folgten ihm nach streng festgelegten Regeln.
Beim einsetzenden Tauwetter wanderten zwei Graugänse zu. Ihre Anwesenheit verursachte eine grosse Unruhe unter den Familienangehörigen. Der aufmerksame Vater duldete nicht, dass sich diese seiner Familie anschlossen. Er vertrieb sie aus seinem unmittelbaren Blickfeld. Die Zugewanderten brachten es dennoch fertig, dass sich ein Junges anfangs März 2012 von der Familie löste und später mit ihnen wegzog. Kurze Zeit danach tauchte eine Graugans im Seebecken von Zürich auf. Sie lebt seither in der Schwanenkolonie. Das Verhalten, sich vom Menschen füttern zu lassen, lässt vermuten, dass es sich um das in der Au geborene und am Seeplatz gross gewordene Junge handelt.
Die verbliebenen Familienmitglieder trennten sich Ende März 2012. Die Eltern sonderten sich von den Jungen ab. Sie zogen in die Vorder Au. Das Weibchen bezog auf der künstlichen Insel den Nestplatz. Anfänglich fehlte die Vegetation, weshalb es sich lange an den andern Wasservögeln störte, die sich in der Nähe seines Nestes aufhielten. Es duldete diese nicht in seiner Umgebung und vertrieb sie tagsüber laufend. Das gelang ihm bis auf ein Paar Mittelmeermöwen. Diese Meerbewohner sind ebenso Zuwanderer, die sich in den letzten Jahren an Schweizer Seen ausbreiten. Das Paar fand ebenfalls Gefallen an der künstlichen Insel als Neststandort. Diese Allesfresser sind bedeutend grösser als die vertrauten Lachmöwen. Sie fallen durch schrilles Gelächter und jaulende Rufe auf.
Ab Mitte April bestand Brutverdacht. Das Graugansweibchen verliess die Insel nicht mehr und der Ganter bezog auf der nahen Einwasserungsstelle für Boote Quartier. Dort harrte er aus und wartete. Er nahm immer denselben Standort ein. Diesen gab er einzig bei Störungen oder zur Aufnahme von Futter auf. Er hatte Sicht- und Rufkontakt zur Insel. In genügender Entfernung zum Nest bewachte er das Weibchen. Durch die Nähe zur Insel hätte er jederzeit eingreifen können, um das Gelege zu verteidigen. Die Erwartung, dass sich der Bruterfolg des letzten Jahres wiederholen wird, war gross. Aber er wollte sich nicht einstellen. Am 10. Juni 2012 gab das Weibchen das Brüten auf und zog zusammen mit dem Ganter weg. Zum gleichen Zeitpunkt zeigten sich zwei dunkel gefärbte graubraune junge Mittelmeermöwen auf den Blocksteinen der Insel. Diese Möwen sind bekannt dafür, dass sie Eier stehlen. Hängt ihr Bruterfolg vielleicht vom Misserfolg der Graugänse ab? Wir werden es nie wisssen.
Die aus der Familie ausgeschiedenen drei jungen Gänse hielten weiter zusammen. Sie waren schwimmend und fliegend zwischen dem Seeplatz und Naglikon unterwegs, ständig auf der Suche nach Personen, die ihnen Futter anboten. Mitte Mai schloss sich ihnen eine zugewanderte Graugans an. Diese begann über sie zu wachen und ihren Aufenthaltsort zu bestimmen. Das Paar, das erfolglos brütete, kehrte nach dem gescheiterten Brutversuch zum Seeplatz zurück. Die Vierergruppe schloss sich ihnen an. Für kurze Zeit lebten wieder sechs Graugänse vereint zusammen, denn sie sind gesellige Vögel. Sie brechen gemeinsam zur Futtersuche auf und übernachten zusammen an geeigneten Schlafplätzen. Sonderbarerweise währte das Zusammenleben nicht lange. Der Wandertrieb erwachte in den Jungen. Sie zogen weg. Seither hält sich das alte Paar mit Unterbrüchen alleine auf dem Seeplatz auf.
Die Graugänse verloren durch den lange währenden Aufenthalt auf dem Seeplatz jede Scheu vor den Menschen. Sie wurden zutraulich. Es erstaunt daher nicht, dass die Stammform unserer Hausgänse auf sie zurückgeht. Ihre Zutraulichkeit währt jedoch nur solange, als ihnen der Mensch genügend Nahrung bietet.




Hans Oberhänsli