Interessenkonflikt unter Vogelarten

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2013 von Hans Oberhänsli

In der Rietliau findet sich Schilf im Wasser, das weit in den Zürichsee hineinragt. Dieses ist unter Staren und Rauchschwalben als Schlafplatz sehr beliebt. Der Platz ist beschränkt. Beide Vogelarten erheben jährlich neu Anspruch darauf, an diesem Ort nächtigen zu können.
 

SCHILF IM WASSER ALS SCHLAFPLATZ DER STAREN

Staren kennen eine auf gemeinsames Handeln ausgerichtete Sozialstruktur. Ab Mitte Mai führen die Altvögel die Jungen mit anderen Familien zusammen, um den Tag gemeinsam in nahrungsreichen Gebieten zu verbringen. Herumziehende Staren stossen zu ihnen. Die Gruppen wachsen zu bedeutenden Schwärmen zusammen, die gegen Abend in kleineren und grösseren Trupps von Baum zu Baum fliegen. Durch solche Standortwechsel nähern sie sich dem Schlafplatz. Diesen beziehen sie im geschlossenen Formationsflug bei Sonnenuntergang. Im Schilf beginnen sie ein endloses Geschwätz, das erst bei Erlöschen des Dämmerungslichtes verstummt. Am Morgen verhält es sich umgekehrt.
Staren fliegen im Schwarm über dem Schilf der Rietliau eine Runde, bevor sie sich im Schilf niederlassen. Die untergehende Sonne strahlt das Wolkenband entlang den Bergen des Toggenburgs an.

Bei Tagesanbruch setzt das Palaver wieder ein. Dieses verstummt bei Sonnenaufgang für kurze Zeit bevor die Staren auffliegen. Sie verlassen den Schlafplatz gemeinsam auf einen Schlag. Je grösser der Starenschwarm ist, der sich am Schlafplatz niederlässt, umso mehr Raum beansprucht dieser im Schilf. Die einzelnen Vögel drängen sich schliesslich in der räumlich begrenzten Schilffläche zusammen, bis einzelne Gruppen wegen Dichteproblemen abwandern. Die Zahl der nächtigenden Staren schwankt daher sehr.

SCHILF IM WASSER ALS SCHLAFPLATZ DER RAUCHSCHWALBEN

Auch die Rauchschwalben haben eine auf gemeinsames Handeln ausgerichtete Sozialstruktur. Diese offenbart sich vor allem beim Bezug des Schlafplatzes. Die Schwalben befolgen ebenfalls genaue Verhaltensregeln. Alle müssen einen bestimmten Ablauf beachten und sich an diesen halten, denn nur gemeinsam sind sie stark. Erstaunlich ist, wie sie den Gruppenzwang durchsetzen, da sie den geschlossenen Formationsflug nicht kennen. Jede Schwalbe pflegt ihren eigenen Flugstil. Sie folgt nicht einer geraden Linie, sondern wechselt ständig die Richtung. Während dem Flug jagen einzelne dicht über der Wasseroberfläche des Zürichsees nach Insekten, während die andern hoch in der Luft über dem See kreuz und quer durcheinander fliegen. Dann wechseln sie das Flugverhalten. Die einen steigen in kürzester Zeit in die Höhe auf, während sich andere herunterfallen lassen, um sich dicht über der Wasseroberfläche fortzubewegen. Es sind stets kurz bemessene Bewegungsabläufe, die sie aneinander reihen. Vor Sonnenuntergang nähern sie sich in Gruppen dem Schlafplatz. Sie fliegen über diesen hin und her, zeitweise umkreisen sie ihn in kurzen Abständen. Ein anderes Mal ziehen sie grosse Schleifen und kehren erst nach langen Unterbrüchen zu ihm zurück. Junge Schwalben bekunden anfänglich Mühe mitzuhalten. Aus Müdigkeit unterbrechen sie den Flug und lassen sich im Schilf nieder. Altvögel warnen sie durch Alarmrufe. Die Jungen sind gehorsam, wie es sich für sie ziemt, und verlassen fluchtartig das Schilf.
Rauchschwalben beim Verlassen des Schlafplatzes während das Tageslicht lange vor dem Sonnenaufgang anbricht.

Die Rauchschwalben beziehen das Schilf beim Einbrechen der Nacht, etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang. Die Schwalben verfolgen während dem Einflug in das Schilf bestimmte Strategien. Diese werden ihnen durch den Baumfalken aufgezwungen. Oft zeigt er sich den Schwalben gut sichtbar. In diesem Fall folgen sie ihm schreiend und greifen ihn im Rücken an. Der Baumfalke nützt dieses Verhalten aus und schraubt sich dicht gefolgt von ihnen immer höher in die Luft. Aus luftiger Höhe kann er sich schliesslich mit rasanter Geschwindigkeit auf eine Schwalbe stürzen, wenn diese den Schlafplatz aufsuchen will. Um den Baumfalken zu verwirren, lassen sich die Schwalben miteinander vom Himmel fallen. Zeigt sich der Baumfalke nicht, weil er aus dem Hinterhalt jagt, fliegen die Schwalben aus viel geringerer Höhe in das Schilf. Sie teilen sich in Gruppen auf. Jede Schwalbe pflegt dabei ihren eigenen Flugstil. Die einen lassen sich fallen, die andern schwirren in einem kurvenreichen Flug herab. Der Einflug geschieht viel weniger zielgerichtet als derjenige der Staren. Die Schwalben zerstreuen sich im Schilf und benötigen dadurch viel Platz. Sie schweigen, sobald sie sich am Schilfhalm festgekrallt haben. Am Morgen starten sie gruppenweise gestaffelt in Richtung des Zürichsees. Die einzelnen Gruppen gewinnen in kürzester Zeit an Höhe und ziehen vom Schlafplatz weg. Sie meiden diesen tagsüber.
 

DER INTERESSENKONFLIKT

Staren und Rauchschwalben nächtigen im Schilf in der Rietliau, sobald sie aus dem Winterquartier zurückkehren. Sie kommen gestaffelt in Gruppen zurück, die wenig Platz beanspruchen. Sie stören einander nicht. Die Staren beenden als Höhlenbrüter das Brutgeschäft früh im Jahr und besiedeln das Schilf ab Mitte Mai in stetig steigender Zahl. Die Rauchschwalben beginnen erst mit dem Brüten, wenn diese das Brutgeschäft bereits abgeschlossen haben. Ab Mitte Juni schlüpft die erste Generation Rauchschwalben. Während die Eltern ein zweites Mal brüten, schliessen sich die Jungen der ersten Brut mit nicht brütenden Altvögeln zusammen. Diese führen sie in den Bezug des Schlafplatzes ein. Fortlaufend steigt die Zahl an jungen Vögeln, welche die Nacht im Schilf der Rietliau gemeinsam mit weiteren Artgenossen verbringen. Mit der steigenden Zahl an Rauchschwalben steigt der Platzbedarf. Konflikte mit den Staren zeichnen sich ab, die sich bereits im Schilf niedergelassen haben. Solange sich nur wenige Staren gestört fühlen, beginnen nur die unmittelbar Betroffenen beunruhigt zu reagieren und innerhalb des Schilfes einen anderen Platz zu suchen. Den Wechsel vollziehen sie im Kettenflug. Sie fliegen zu zweit dicht hintereinander über das Schilf. Beanspruchen die Schwalben eine grössere Schilffläche, werden entsprechend mehr Staren gestört und unruhig. Die Unruhe erfasst auch solche, die nicht direkt vom Einflug der Schwalben betroffen sind. Alle versuchen den «Störern» auszuweichen und ein ruhiges Plätzchen im Schilf zu finden. Das wird beim begrenzten Raumangebot täglich schwieriger. Um Ruhe zu haben, suchen die Staren mit der Zeit einen anderen Schlafplatz auf und meiden das Schilf der Rietliau. Die Schwalben sind als Unruhestifter die Gewinner. Mit der Vertreibung der Staren können sie das Schilf als Schlafplatz für sich alleine nutzen.
Die Rauchschwalben verfügen vielfach ab Mitte Juli alleine über den Schlafplatz. Die Belegung erreicht um den ersten August herum einen ersten Höhepunkt mit unzählbar vielen Vögeln. Setzt für längere Zeit Nordwind ein oder führen starke Sommergewitter zu einem massiven Temperatursturz, brechen viele Rauchschwalben zu einem Zwischenzug auf. Das Schilf verliert deswegen im Verlaufe des Monats August als Schlafplatz an Bedeutung. Ende August, wenn die zweite Brut der Rauchschwalben ausfliegt und weitere sich auf dem Durchzug befinden, steigt ihre Zahl wieder an. Hin und wieder sind es erneut mehrere tausend Vögel, die den Schlafplatz aufsuchen. Die Belegung endet spätestens Mitte September, wenn sich dichte Nebel über dem Zürichsee ausbreiten und diese sich am Morgen lange Zeit nicht auflösen.
 

ABSTERBENDES SCHILF

Die Rauchschwalben haben im Jahr 2012 den Schlafplatz ab Mitte August kaum mehr benutzt. Im Herbst ist der Grund erkennbar geworden. Das Schilf im Wasser ist grossflächig abgestorben. Inzwischen sind nur noch bescheidene Restbestände vorhanden.
Absterbendes Schilf in der Rietliau, Stand 15. April 2013.

Ob sich das Schilf je wieder erholen und die ursprüngliche Ausdehnung erreichen wird, ist unsicher. Unsicher ist auch, wie die Rauchschwalben mit dieser neuen für sie unerfreulichen Situation fertig werden. Am Zürichsee bestehen kaum mehr gleichwertige Schilfflächen, die in Ausdehnung und Lage mit derjenigen der Rietliau vergleichbar sind. Die Staren haben es besser. Sie haben einen neuen Standort in der Vorder Au gefunden. Dort nächtigen sie teils im Schilf im Wasser und teils im Flachmoor, das an das Ufer grenzt. Sollten sie diesen Platz irgendwann aufgeben müssen, werden sie nicht verlegen sein, einen Ersatzstandort zu finden. Sie sind selbst mit Schlafplätzen auf Bäumen in Parkanlagen von Dorf- und Stadtzentren zufrieden.




Hans Oberhänsli