Richt- und Gesellenhaus Wädenswil

Quelle: «Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee», 19. Januar 1958 von Peter Ziegler
 
Das spätmittelalterliche Wädenswil, ein Bauerndorf, das um 1470 kaum 600 Seelen zählte, hatte seinen Siedlungskern in der Gegend des Kirchhügels. Hier standen die wichtigsten und zugleich ältesten Bauten. Zwei markante Gebäude verliehen dem Siedlungszentrum besonderes Gepräge: das 1270 erstmals genannte Gotteshaus und das im Nordwesthang des Kirchhügels gelegene Richt- und Gesellenhaus. Diese beiden Bauten bildeten während mehreren Jahrhunderten die Mittelpunkte des dörflichen Lebens. Die schlichte, Maria geweihte Kirche war der Hort einer gläubigen Gemeinde; das Gesellenhaus diente der Politik und war Zentrum des weltlichen, geselligen Lebens.

Streit um das erste Gebäude

Ein Wädenswiler Richthaus, ein Gebäude, in dem die Richter der Herrschaft Wädenswil Recht sprachen, ist für das 15. Jahrhundert bezeugt. Es stand zwischen der Kirchhofmauer und dem Töbelibach, also in der Nähe des heutigen Sonnenbrunnens. Das Haus mag, wie viele andere Gesellenhäuser auf der Zürcher Landschaft, im 14. Jahrhundert gebaut worden sein. Es wurde aber schon im Jahre 1497 abgebrochen. Wädenswiler, die über Rechtsurteile des Johanniterkomturs Rudolf von Werdenberg empört waren, deckten voll Zorn das Dach ab und «zerrissen» den Bau. Der Komtur wandte sich sogleich an den Zürcher Rat, mit dem die Johanniter seit 1342 im Burgrecht standen, und verlangte, man solle die Wädenswiler bestrafen und zum Wiederaufbau des Hauses verpflichten. Die Herrschaftsleute, über diese Forderung aufgebracht, beteuerten, das Richthaus sei von Privatleuten zerstört worden und nicht von der gesamten Bevölkerung. Man solle daher die Schuldigen bestrafen, die Unschuldigen aber könne man nicht zwingen «eine behusung uff die Richtstatt ze machen. Die Zürcher Obrigkeit ging auf die Argumente der Wädenswiler Bevölkerung nicht ein und verfügte am 22. November 1498., dass das Richthaus von der Gemeinde gebaut und bezahlt werden müsse. Diesem Entscheid hatten sich die Herrschaftsleute, wenn auch mit Widerwillen, zu fügen.

Neubau als Gaststätte

Der Bau des Richthauses wurde noch einige Zeit aufgeschoben. Noch im Jahre 1504 sassen die Richter der Herrschaft «an einer offenen Landstrass» zu Gericht. Spätestens 1525 hatte man das neue «Gesellenhaus» (das Haus der Geselligkeit) fertiggestellt. Es diente fortan nicht mehr ausschliesslich als Richtlokal, es war auch Gaststätte. Bis zur Eröffnung der «Krone» um das Jahr 1555 war das Gesellenhaus das einzige Wirtshaus des Dorfes. Die Gemeinde, als Inhaberin des Tavernenrechts, verpachtete die Wirtschaft einem Gesellenwirt. Die Pachtzinse bildeten, wie die Gemeinderechnungen belegen, einen wesentlichen Bestandteil sämtlicher Einkünfte.
Eine Hausordnung umriss die Aufgaben und Pflichten des Wirtes und schrieb vor, wie sich die Gäste in der Schenke verhalten mussten. Die Wirtschaftsordnung des Gesellenhauses Wädenswil ist nicht mehr erhalten. Sicher galten aber ähnliche Bestimmungen wie sie für Horgen überliefert sind: Gästen, die ohne zu bezahlen weggingen, wurde der weitere Zutritt zum Gemeindewirtshaus verwehrt. Wer Fenster, Gläser, Fruchtmasse, Weinmasse, Schüsseln, Teller, Kerzenstöcke, Leuchter, Tischtücher oder andere Geschirr «zerbrach und zerwarf», hatte den Schaden zu vergüten.
Gesellenhaus vom Gemeindeplatz (heute Parkplatz Sonne) her. Im Hintergrund das Pfarrhaus. Zeichner unbekannt.
 

Gemeidemetzg

Dem Wädenswiler Gesellenhaus war auch eine Metzgerei angegliedert, die gewöhnlich zusammen mit dem Wirtschaftsbetrieb verpachtet wurde. Im Jahre 1682 bestimmte der Zürcher Rat, dass im Dorf Wädenswil nur in dieser Metzgerei Fleisch ausgewogen werden dürfe.

Baugeschichte

Die eine von beiden Lithografien, die Gottlob Werner 1821 kurz vor dem Abbruch angefertigt hat, zeigt das Gesellenhaus von der Südseite. Wir stehen auf dem Fahrweg, der unter dem Gebäude durchführt (heute Schönenbergstrasse) und blicken Richtung See. Rechts im Vordergrund erkennt man die Gemeindemetzg und davor den Kirchbrunnen (Sonnenbrunnen). Das Gemeindehaus selbst präsentiert sich als typischer Blockständerbau auf gemauertem Erdgeschoss (Grundriss ca. 17x14 m). Der allseitig vorkragende Oberbau ist aus solidem Eichenholz aus der Au-Waldung gezimmert. Ein steiles, schindelgedecktes Satteldach verleiht dem Bau behäbigen Charakter. Die Klebedächlein über den Fensterreihen weisen auf innerschweizerischen Einfluss hin.
Gesellenhaus von Süden, mit Gemeindemetzg und Sonnenbrunnen. Lithographie von G. Werner, 1821.
 

Tanzlaube

Das Erdgeschoss des Gesellenhauses barg einen tiefen Weinkeller und geräumige Stallungen. Zu ebener Erde lag die Tanzlaube, der Aufenthaltsort der Ledigen. An der Kirchweihe (15. August), am Neujahrstag oder nach dem Wümmet ging es hier jeweils laut und fröhlich zu.
Auf der Tanzlaube wurden auch allerlei Waren, zum Beispiel Obst, feilgeboten. Ausserdem verwahrte man hier die Feuerlöschgeräte: Windlichter, Feuereimer und die Spritze. Als im Jahre 1638 die Kirche gegen Westen vergrössert wurde, hielt man den Sommer über auf der Tanzlaube Gottesdienst. Man übte hier sogar heilige Handlungen aus. So liest man im Wädenswiler Taufbuch (Staatsarchiv Zürich, E III 132.1) dass Pfarrer Jodokus Grob am 22. April 1638 sechs Kinder «uff der Gmeynd Lauben» getauft habe «uss einem möschinen becki». Am 17. Juli traute der Pfarrer auf der Tanzlaube Hans Heinrich Hottinger und Barbara Grob.

Richterstübli

Im ersten Obergeschoss des Gesellenhauses befanden sich eine grosse und eine kleinere Stube, die Küche und das Richterstübli. Wie mancher arme Sünder wurde in diesem Zimmer von den Richtern verhört und gebüsst: ein Bauer, der während des Kindergottesdienstes ein Bündel Heu in den Stall getragen hatte; eine Frau, die am Sonntag Wäsche aufgehängt hatte; Männer, die gekegelt und gewürfelt und Frauen, die hoffärtige Kleider getragen hatten …
Die grosse Stube mit der langen Fensterfront, den getäferten Wänden und dem Kachelofen diente als Wirtschaftslokal. Hier fand man sich zu Tauf- und Leichenmählern ein, hier traf man sich nach den militärischen Musterungen, hier beriet man die Gemeinde- und Schützenrechnungen, und hier schenkte der Wirt den vom Landvogt gestifteten Neujahrstrunk aus. Im Gesellenhaus tagten die Gemeinderat und der Stillstand (Kirchenpflege), und häufig verlegte man auch die Gemeindeversammlungen hierher. Zu gewissen Zeiten wurde auf dem Gesellenhaus die Lokalpolitik gemacht.

Tafelgeschirr

Den Stolz der Gemeinde bildete das kostbare Tafelgeschirr, zehn silberne Becher und sechs Schalen, welche der Zürcher Goldschmied Christoph Bräm im Jahre 1674 angefertigt hatte. Der Wädenswiler Pfarrer Hans Conrad Ryff war mit dieser silbernen Hoffart nicht einverstanden, begnügte sich doch die Kirche bei der Abendmahlsfeier mit hölzernen Platten und Bechern. Ryff verlangte, man solle das Silberzeug verkaufen und den Erlös dem Schulgut überweisen. Der Pfarrer konnte aber mit seiner Forderung nicht durchdringen. Noch im Jahre 1796 wird das kostbare Tafelgeschirr als Gemeindevermögen verbucht. Seither fehlt von den Bechern und Schalen jede Spur.

Wappenscheiben

Der Becherschatz war nicht die einzige Zierde des Wädenswiler Gesellenhauses. Zu dessen Schmuck gehörten auch die künstlerisch wertvollen Wappenscheiben in der Gerichtsstube. Die gemalten Rundschreiben waren Geschenke der umliegenden Gemeinden oder reicher Bürger. Als man im Jahre 1673 das Gesellenhaus renovierte, forderte man die Gemeinden Männedorf, Meilen und Herrliberg freundschaftlich auf, die seinerzeit gespendeten Fenster und Schilder zu erneuern, was dann auch geschah. Neben den Wappenscheiben der Seegemeinden gab es auf dem Wädenswiler Gesellenhaus auch Glasmalereien, die von Landvögten gestiftet worden waren, so ein Wappen des späteren Zürcher Bürgermeisters Konrad Grossmann, Vogt in Wädenswil von 1581 bis 1587. Leider sind die kostbaren Rundscheiben bis heute unauffindbar. Sie wurden vermutlich beim Abbruch des Gemeindehauses verschachert.
Gesellenhaus von Westen vor dem Abbruch 1821. Lithographie von G. Werner.

Abbruch des Gesellenhauses

Dreihundert Jahre waren seit dem Bau des Gesellenhauses vergangen. Wind und Wetter hatten dem Holzwerk stark zugesetzt, und kostspielige Reparaturen häuften sich. Das Haus war zudem alt und eng und genügte den Ansprüchen längst nicht mehr. Im Sommer 1819 entschied daher die Gemeindeversammlung, man solle das alte Gebäude durch ein neues, bequemes Haus, das heute Haus Sonne, ersetzen. An Lichtmess 1821 wurde zum letzten Mal gewirtet, und schon am 12. Februar begann man, das morsche Gesellenhaus niederzureissen. Die Wädenswiler halfen begeistert und tatkräftig mit. Dachten sie wohl auch daran, dass ihr Dorf um ein charakteristisches Bauwerk ärmer werden könnte?




Peter Ziegler