Die Zwischenkriegszeit

Quelle: Wädenswil Zweiter Band von Peter Ziegler

Die Grippe-Epidemie

Im letzten Kriegsjahr wurde auch die Gemeinde Wädenswil von der Grippe-Epidemie betroffen. Im August 1918 ordneten die Behörden das Versammlungsverbot und die Ferienverlängerung an. Durch die Fabrikarbeit und den Bahnverkehr wurde die Grippe aber doch weiterverschleppt. Die Kirchweih musste auf den 8./9. September verschoben und auch dann ohne Tanzveranstaltungen durchgeführt werden. In weiten Kreisen hätte man es allerdings lieber gesehen, wenn man für einmal ganz auf die Chilbi verzichtet hätte.
Anfang Oktober 1918 breitete sich die unheimliche Epidemie erneut stark aus. Versammlungen, Gottesdienste, öffentliche Beerdigungen wurden sofort untersagt, die Schulen vorzeitig geschlossen. Trotzdem gab es bis zu zweihundert Grippefälle in einer Woche, von denen aber nur wenige tödlich verliefen. Im November und Dezember endlich ging die bösartige Krankheit zurück und flaute im Verlauf des Jahres 1919 ganz ab1.

Neuerungen

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen brachte Wädenswil viele Neuerungen2. 1922 wurde die Rösslipost durch das Postauto ersetzt, und im gleichen Jahr eröffneten die Gebrüder Geisser in Wädenswil das erste Kino. 1923 richteten die Brüder Brupbacher beim «Engel» auf eigene Kosten eine Radiostation ein. 1924 trat eine neue Gemeindeordnung in Kraft. 1925 lösten elektrische Lokomotiven auf der SBB-Linie Zürich – Ziegelbrücke den Dampfbetrieb ab. 1926 fand Wädenswil den Anschluss an das Gaswerk Zürich-Schlieren. 1928 bezog man das Altersheim auf der Hinteren Fuhr, und 1930 nahm die Gemeinde das Trinkwasserpumpwerk in der Au in Betrieb. In den Jahren 1930 bis 1932 wurde das Bahnhofgebiet neu gestaltet. 1933 eröffnete man das Strandbad, 1934 das neue Haus des Kinderheims Bühl, 1935 das Krankenasyl an der Schlossbergstrasse. 1939 stellte auch die Südostbahn auf elektrischen Betrieb um.
Trotz der vielen, hier nur unvollständig angeführten Neuerungen waren die zwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen vor allem eine Zeit der Not und der Belastung. Drei Ereignisse haben die Zwischenkriegszeit wesentlich geprägt: der Generalstreik von 1918, die Wohnungsnot der 1920er Jahre sowie die Arbeitslosigkeit und Krise zu Beginn der 1930er Jahre.

Der Generalstreik vom November 1918

Schon im Verlaufe des Sommers 1918 spürte man, dass sich der Übergang zur Friedenszeit nicht glatt vollziehen werde. Vorab die Stimmung unter der Arbeiterschaft war gereizt. Von der Sozialdemokratie und von den Gewerkschaften waren − zum Teil unter dem Eindruck des kommunistischen Erfolgs in Russland − Forderungen zu erwarten. Am 11. November 1918, dem Tag des Waffenstillstands, brach ein Streik aus, der während dreier Tage den inneren Frieden des ganzen Landes bedrohte. Das Neun-Punkte-Programm, das die Streikleitung aufstellte, zielte auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung, auf das Ende des bürgerlichen Zeitalters überhaupt3. Als die Wädenswiler Fabrikbetriebe am Montagmorgen, 11. November 1918, die gewohnte Arbeit aufnehmen wollten, standen überall Streikposten, welche den anrückenden Arbeitern den Generalstreik verkündeten und die Geschäftsleiter mehr oder weniger höflich zur Betriebseinstellung aufforderten4. Um Körperverletzungen und Sachschäden zu verhindern, wurde die Arbeit teils am frühen Morgen, teils im Verlaufe des Vormittags eingestellt. Da und dort wurden Arbeitswillige bedroht und aus dem Betrieb geholt. Es kam hingegen zu keinen nennenswerten Gewaltakten. Streikführer war in Wädenswil der Verwalter des Allgemeinen Konsumvereins, der sozialistische Gemeinderat und Kantonsrat Ernst Kessler. Die Streikenden spazierten im Sonntagsgewand durch das Dorf, setzten den Hut selbstbewusst aufs linke oder rechte Ohr und schauten mit königlicher Herablassung auf gewöhnliche Sterbliche herab. Mit Wort, Miene, Hut und Krawattenstellung gab mancher der Streikenden seiner Meinung unmissverständlich Ausdruck: Jetzt wollen wir einmal regieren!
Der Gemeinderat trat sofort zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammen und forderte die Bevölkerung in den Lokalblättern vom Dienstag, 12. November, zur Ruhe auf. Jegliche Provokation sollte unterbleiben. Die hiesigen Streikführer, so wurde beigefügt, übernähmen ihrerseits die Garantie, dass seitens der Streikenden keine Ausschreitungen begangen würden. Die Zeitungen erschienen nur mit grosser Mühe und in stark reduzierter Form.
Sofort wurde in Wädenswil als Gegenmassnahme eine Bürgerwehr gegründet. Der Gemeinderat hatte Kenntnis von der Existenz dieser Organisation. Er wollte die Bürgerwehr auch einsetzen, sofern die Streikenden nicht garantierten, dass Arbeitswillige ungestört arbeiten konnten.
Während sich die Streikenden in der Turnhalle des Glärnisch-Schulhauses versammelten, trafen sich am Mittwochabend, 13. November, die Bürgerlichen auf Einladung der Demokratischen Ortsgruppe im «Engel». Nachdem man wusste, dass die ernste Lage auch in Zürich und im Kantonsrat beraten worden war, löste sich die Tagung auf, im Vertrauen auf einen guten Ausgang des Streiks. Am Donnerstag, 14. November, sickerte aus Zürich die Nachricht vom Streikabbruch durch. In Wädenswil glaubte man diese Meldung vorerst nicht. Der erste Eisenbahnzug, der um zwölf Uhr in die verwaiste Station einfuhr, brachte indessen den Beweis. Der Zug wurde von den zahlreich anwesenden Bürgerlichen als Symbol der wiederkehrenden Ordnung und Demokratie mit Jubel empfangen. Die Reisenden waren zur Hälfte Soldaten. Sie beschützten den Lokomotivführer, bewachten den Gepäck- und Postwagen sowie die Personenwagen, in denen auch höhere Bahnbeamte reisten. Während der Zug im Bahnhof Wädenswil stand, wurde mit der Kartoffel- und Gemüseschelle gekündet: «Streik nicht fertig! Grosse Versammlung in der neuen Turnhalle!» Obwohl die Blätter bereits bekanntmachten, dass der Streik andernorts zusammengebrochen war, begaben sich die sozialistischen Wädenswiler zur Turnhalle. Ein Demonstrationsumzug, an dem etwa 350 Personen teilnahmen, darunter auch Frauen, schloss die Veranstaltung ab.
Neuerdings ermahnte der Gemeinderat die Einwohner von Wädenswil, gegenseitige Provokationen zu unterlassen. Gleichzeitig teilten die Arbeitgeber von Wädenswil und Umgebung mit, dass die Arbeit auf Wunsch vieler Arbeitswilliger am Freitag, 15. November 1918, wieder aufgenommen werde und dass allfällige Störungen seitens der Arbeiter-Union sogar eine militärische Intervention bewirken könnten.
Am 14. November 1918 spät abends entschloss sich das Zürcher Komitee, den Streik abzubrechen. Dies bedeutete auch für die Gemeinde Wädenswil den Streikabbruch. Am Morgen des 15. Novembers, noch vor Arbeitsbeginn, wurde das Ende des Streiks ausgetrommelt, und die Bürgerwehr zog ihre Posten ein. Schon am ersten Arbeitstag wollte sich der Streikführer Kessler wegen des unerwarteten Streikabbruchs vor der Wädenswiler Arbeiterschaft rechtfertigen. Die Versammlung wurde indessen verschoben, und eine Woche später besorgte ein Redner aus Zürich die Aufklärung. Gegen Ende November verteidigte Kessler den Streik in den beiden Lokalblättern. Seine Worte wurden indessen aus den Reihen der Bürgerlichen mit aller Deutlichkeit erwidert.
Als Folge des Generalstreiks stellte die Arbeiterschaft an den Gemeinderat Wädenswil acht Forderungen, die von der Behörde wie folgt beantwortet wurden:
1. Wohnungsbau durch die Gemeinde − Das Möglichste geschieht
2. Wahl einer Kommission, die Lohnabzüge wegen des Streiks zu vermeiden hat − Die Kommission ist gebildet und wird vermitteln
3. Kredit für billige Lebensmittel − Entsprechende Gesuche sind an die Hülfskommission zu richten
4. Proporz in den Gemeindebehörden − Ein kantonales Gesetz müsste dies vorschreiben
5. Das «Volksrecht» soll amtliches Publikationsorgan der Gemeinde Wädenswil werden − Ablehnung
6. Arbeit und Kredit für Arbeitslose − Die Sache wird eidgenössisch geregelt
7. Drucklegung der Steuerregister − Ablehnung
8. Sitzungsgeld für Behördenmitglieder − Die Angelegenheit soll geprüft werden.
 
«Nicht berauschendes Siegesgefühl beherrscht die Bürgerlichen, sondern der feste Wille zu einer Sozialpolitik, die sich den Verhältnissen besser anzupassen versteht, als es vorher der Fall war.» Mit diesen Worten schloss der Chronist der Lesegesellschaft seine ausführliche Schilderung über den Generalstreik in Wädenswil. Dass aber die Spannungen doch noch einige Zeit andauerten, beweist unter anderem die Tatsache, dass die Bauern fortan nicht mehr die Brückenwaage des Sozialisten Iten, des Wirtes zur Johannisburg, benützen wollten, sondern sich 1919 zusammenschlossen und vor der Sust eine neue Waage bauen liessen. Und als eine Gesellschaft das Gasthaus zur Sonne erwarb, um hier «ein allen zugängliches Volkshaus» zu schaffen und die Abstinenz zu fördern, erwarben die Sozialisten sofort ihr bisheriges Stammlokal, den «Löwen», und tauften es in «Volkshaus» um, «obwohl sich andere Leute, die nicht dort verkehren, auch zum Volke rechnen»5.

Wohnungsnot

Wie in andern Gemeinden machte sich auch in Wädenswil nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine ausgeprägte Wohnungsnot bemerkbar, da die Teuerung im letzten Kriegsjahr jegliche Bautätigkeit zum Erliegen gebracht hatte. Im Oktober 1918 wurde Wädenswil den eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über den Mieterschutz unterstellt. In der Gemeinde wurde ein Mietamt eingerichtet6. Ausser in der Stadt Zürich treffe man nirgends mehr so miese Verhältnisse wie in Wädenswil, hiess es im Mai 1919 in der Lokalpresse7. Familien mit sieben oder acht Kindern müssten in zwei bis drei düsteren Zimmern leben. Nachdem man sich in Wädenswil nicht für den kommunalen Wohnungsbau entscheiden konnte, ging eine Reihe privater Baugenossenschaften ans Werk. Die Gemeinde beteiligte sich am Wohnungsbau durch unentgeltliche Abtretung von Bauland und durch Subventionen8. Am 30. November 1919 beschloss die Gemeindeversammlung, unverzinsliche Anteilscheine der «Gemeinnützigen Baugenossenschaft Wädenswil» in der Höhe von 20 Prozent der Totalkosten, im Maximum jedoch im Betrag von 80‘000 Franken, zu übernehmen9. 1921 erstellten die Seidenweberei Gessner und die Tuchfabrik Pfenninger verschiedene Wohnungen. Im gleichen Jahr schloss sich eine Anzahl Handwerker zur «Neuen Baugenossenschaft Wädenswil» zusammen und erstellte auf Gemeindeland vier Wohnhäuser im BoIler10. Die Gemeindeversammlung vom 15. Mai 1927 ermächtigte den Gemeinderat zur unentgeltlichen Abtretung von Bauland im Büelen11. Das Areal wurde unter anderem von der 1927 gegründeten «Mieterbaugenossenschaft Wädenswil» mit zwei Sechsfamilienhäusern überbaut12. Mit staatlicher Hilfe konnten in den Jahren 1927 und 1928 total 40 Wohnungen erstellt werden13. Aufgrund des Gemeindebeschlusses vom 9. November 1930 wurden weitere Darlehen ausgerichtet, unter anderem an die «Baugenossenschaft Fuhr»14.

Arbeitslosigkeit und Krise

Noch eindrücklicher als die Wohnungsnot war die Arbeitslosigkeit in den ersten Nachkriegsjahren. Das Jahr 1921 war ein erstes Krisenjahr. In seinem Bericht zum Voranschlag 1922 führte der Gemeinderat aus, Barunterstützungen an Arbeitslose seien in bestimmten Fällen nicht zu umgehen. Man werde aber dafür sorgen, dass mit den Arbeitslosen geeignete Notstandsarbeiten ausgeführt werden könnten. Schon aus moralischen Gründen sei das System der Arbeitsbeschaffung jenem der blossen Geldunterstützung vorzuziehen15. Die von Monat zu Monat in der Lokalpresse veröffentlichten Rapporte über den Stand der Arbeitslosigkeit spiegeln das Auf und Ab der Krisenjahre deutlich. Sie zeigen aber auch, dass die Behörde alles Erdenkliche unternahm, um der Arbeitslosigkeit zu steuern. Ende Juni 1922 beispielsweise wurden in der Gemeinde Wädenswil 155 Arbeitslose registriert. 16 waren damals an Notstandsarbeiten und 121 bei diversen Arbeitgebern beschäftigt. Nur 18 waren ganz arbeitslos16.
1921 wurden in den Kiesgruben der Gemeinde Kiesrüstungsarbeiten begonnen. Im gleichen Jahr erfolgte mit Arbeitslosen die Korrektion und Eindolung des Gulmenbaches17 und der Bau der Etzelstrasse18. Mit Schmunzeln las man damals im «Tages-Anzeiger», in der Gemeinde Wädenswil werde als Notstandsarbeit eine Strasse auf den Etzel gebaut19! 1924 deckten Arbeitslose den Krähbach und den Krähbachweiher ein20.
Im Dezember 1928 beschloss die Gemeindeversammlung, eine Subvention von 30 Prozent an die anerkannten Arbeitslosenversicherungskassen auszuzahlen. Gleichzeitig äufnete die Gemeinde mit Fr. 23‘210.35 Rückstellungen der Jahre 1921/1922 einen «Krisenfonds» zur Bekämpfung von ausserordentlicher Arbeitslosigkeit21. Über die Beanspruchung dieses Fonds für ausserordentliche Winterhilfe, Beiträge an Arbeitslosenversicherungskassen oder für die Weihnachtsbescherung zugunsten der Kinder arbeitsloser Familien und ab 1939 für Gemeindezulagen an Wehrmännerunterstützungen geben die Gemeindegutsrechnungen Aufschluss.
Der «Schwarze Freitag» an der New Yorker Börse − als Folge des Reparationssystems, das man mit dem «Dawes-Plan», dem «Young-Plan» und an der Konferenz von Lausanne im September 1929 hatte entschärfen wollen − leitete am 25. Oktober 1929 die Weltwirtschaftskrise ein. Sie erschütterte auch die Wädenswiler Industrie, konnte sich aber nicht katastrophal auswirken, weil in der Gemeinde die verschiedensten Branchen ansässig waren. Mancher Betrieb wurde aber hart getroffen. In der Seidenweberei Gessner etwa musste im Herbst 1932 das Grundkapital von 4 Millionen Franken auf 4000 Franken abgeschrieben werden. Die Gemeinde Wädenswil sowie Stadt und Kanton Zürich gewährten Überbrückungskredite22.
Die Krise zeigte auch ihre unvermeidlichen Auswirkungen in der Steuerentwicklung. Der Gesamtsteuerfuss von 140 Prozent im Jahre 1929 wurde 1930 auf 146 Prozent erhöht und stieg 1934 auf 154 Prozent, 1935 auf 156 Prozent und 1938 auf 157 Prozent23.




Peter Ziegler



Anmerkungen

Anzeiger = Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee
DOZ = Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee, Wädenswil
GV = Gemeindeversammlung
StAW = Stadtarchiv Wädenswil
 
1 DOZ, LC 15, Chronik LGW 1918.
2 DOZ, LC 16–19 Chronik LGW 1922–1939. − Kino Geisser: Anzeiger, 30. Januar 1963.
3 Willi Gautschi, Der Landesstreik 1918, Zürich 1968.
4 DOZ, LC 15, Chronik LGW 1918/19.
5 DOZ, LC 15 Chronik LGW 1919, 1921.
6 StAW, II B 10.14.1.
7 Anzeiger 1919, Nr. 80.
8 StAW, II B 10.14.6.
9 Weisung für GV vom 30. November 1919.
10 DOZ, LC 15, Chronik LGW 1921.
11 Weisung für GV vom 15. Mai 1927.
12 Weisung für GV vom 21. April 1929.
13 Gemeindegutsrechnung 1928, S. 31.
14 Gemeindegutsrechnung 1932, S. 18.
15 Voranschlag 1922, S. 16/17.
16 Anzeiger 1922, Nr. 102. – StAW, II B 10.15.1 (Statistik Arbeitsamt) und II B 10.15.5 (Krisenhilfe).
17 StAW, II B 14.4.6.
18 Weisung für GV vom 31. November 1921.
19 DOZ, LC 15, Chronik LGW 1921.
20 StAW, II B 14.4.2 und II B 14.3. − Gemeindegutsrechnung 1925, S. 16.
21 Weisung für GV vom 16. Dezember 1928.
22 Peter Ziegler und Max Mumenthaler, 125 Seidenweberei Gessner, Wädenswil1966, S. 32/33.
23 Voranschläge der öffentlichen Güter der Gemeinde Wädenswil, 1929–1938.