Wädenswiler Chilbi

INHALT
> Ein weltliches Fest mit kirchlichem Ursprung
> Wann findet die Chilbi statt?
> Die Feiern von 1767 – 1867 – 1917 – 1967
> Chilbivergnügen um 1850: Schiessen, Kegeln, Schwingen, Tanzen, Essen und Trinken
> Schaubuden, Menagerien, Marionettentheater, Wachsfigurenkabinette
> Aktualität, Kinematograph, Photographie
> Krambuden und Jahrmarktbetrieb
> Von der Föifermülli zur modernen Reitschule
> Anhang

Ein weltliches Fest mit kirchlichem Ursprung

Die Wädenswiler sind stolz auf ihre Chilbi. Seit vielen Jahren gilt sie als grösste Kirchweih am Zürichsee. Der Anlass ist nicht nur ein gutes Geschäft für Schausteller, Marktfahrer und Gaststätten. Die Chilbi ist das Fest des Dorfes. Hier treffen sich alle Bevölkerungsschichten, hier lernt man sich kennen, kommt man sich näher. Manchen Auswärtigen zieht es an diesem Tag nach Wädenswil, ins Dorf, in dem er aufgewachsen ist.
Der Brauch, den Tag der Kirchweihe alljährlich festlich zu begehen, beruht auch in Wädenswil auf vorreformatorischer Tradition. Das kirchliche Fest wurde gewöhnlich nicht am wiederkehrenden Tag der Weihe gefeiert, sondern am Tage des Patrons, das heisst des Heiligen, dem die Kirche geweiht war.
Schon im 15. Jahrhundert wandelte sich der Anlass zusehends zu eine bunten Jahrmarkt- und Gauklerbetrieb. Mit der Reformation wurde die Kirchweih ein kirchlich gegenstandsloses Fest, da die neue Glaubensrichtung die Weihe der Kirche ablehnte. Das Volksfest mit Tanz, Essen und Trinken wurde aber beibehalten. Die Obrigkeit und die kirchlichen Behörden gaben sich zwar alle erdenkliche Mühe, den Brauch abzuschaffen. Trotz Verboten und Mandaten drang man aber nicht durch1.
An welchem Tag die alten Wädenswiler ihre Kirchweih begingen, ist nicht bekannt. Bis zur Reformation war Maria die Schutzpatronin. Da die katholische Kirche aber schon dannzumal verschiedene Marienfeste feierte, so hält es schwer festzustellen, auf welchen dieser Tage die Kirchweih angesetzt war2.

Wann findet die Chilbi statt?

Am 23. August 1767 – am Sonntag nach dem Bernhardstag – weihte man die neue Wädenswiler Kirche ein. Dieses zufällige Datum – der Freudentag hätte ebensogut einige Wochen früher stattfinden können, wenn sich die Kirchgenossen in der Stuhlfrage rascher einig geworden wären – wurde ausschlaggebend für die Festlegung der Chilbitage: Die Wädenswiler Kirchweih findet am Sonntag nach St. Bernhard (20. August) statt. Fällt St. Bernhard auf einen Sonntag, so wird das Fest eine Woche später abgehalten3.
Als Chilbitage galten bis 1970 der Sonntag und der darauffolgende Montag. 1971 wurde der Chilbibetrieb auf Zusehen hin auf den Samstag vorverlegt und nach folgendem Zeitplan abgewickelt: Samstag von 16 bis 24 Uhr. Sonntag und Montag je von 13 bis 24 Uhr. Mit der Neuregelung fiel der Chilbibetrieb am Dienstag dahin4.

Die Feiern von 1767 – 1867 – 1917 – 1967

Die Einweihung der Grubenmannschen Kirche wurde am 23. August 1767 mit einem glänzenden Fest begangen. Entgegen dem strengen Brauch der Zeit wurde die Feier mit fröhlicher Instrumentalmusik eingeleitet5. Fagotte, Waldhörner, Geigen und Trompeten erschallten und verkündeten Freude und Dank. Von handfester barocker Sinnesfreude zeugte auch das anschliessende Fest. Es wurde da ausgiebig und ohne Unterlass getafelt und getanzt. Für diesen Anlass waren geschlachtet worden: 12
Haupt Vieh, 6 Kälber, 117 Schafe und 18 Schweine. So war «überall eine grosse Freude und ein Frohlocken, und es lebte ein jeder gar vergnügt und wohl»6.
Zum hundertjährigen Bestehen der Kirche wurden im August 1867 wieder grosse Feiern veranstaltet7. Dekan Häfeli hielt die Festpredigt über 1. Petrus, Kapitel 2, Vers 5, denselben Text, den Pfarrer Hofmeister 1767 gewählt hatte. Zum erstenmal wurde die neue Orgel gespielt. Wädenswiler Gesangsvereine und der Orchesterverein Zürich gaben am Nachmittag ein grosses Konzert in der Kirche. Auf der Kanzleiwiese, da wo sich heute die Fabrikgebäude der Seidenweberei Gessner AG erheben, stand eine Festhütte, die etwa 700 Personen fassen konnte. Am späten Abend wurde das Dorf prachtvoll beleuchtet. Am Montag fand in der Kirche abermals ein Konzert statt; am Abend vereinigte man sich zu gemütlicher Unterhaltung in der Festhütte. Dem Jugendfest vom Dienstag setzte ein Platzregen ein jähes Ende, doch kamen die Kinder am folgenden Sonntag noch auf ihre Rechnung. Als wertvolle Veröffentlichung erschien auf die Kirchweih 1867 die von Sekundarlehrer Johann Heinrich Kägi verfasste «Geschichte der Herrschaft und Gemeinde Wädensweil», eine vorzügliche, auf den Quellen aufgebaute Ortsgeschichte8.
Im August 1917 wurde die Wädenswiler Kirche 150 Jahre alt. Die Kriegszeit liess aber grosse Feiern nicht zu. Dekan Jakob Pfister hielt die Kirchweihpredigt9, und die Buchdruckerei A. Stutz zur Gerbe gab eine Erinnerungsschrift heraus, in welcher Jakob Höhn den Kirchenbau und die Kirche würdigte10.
Die grossen Jubiläumsfeierlichkeiten vom 1. und 2. Juli 1967 aus Anlass des zweihundertjährigen Bestehens der Kirche sind vielen noch in bester Erinnerung. Folgende Stichwörter markieren die Höhepunkte11: Festbankett im renovierten Engelsaal; Start von annähernd 1300 Kinderballonen auf dem Seeplatz; Jubiläumsfeier in der Kirche mit Festansprache von Prof. Dr. Albert Hauser über «Unsere Kirche 1767 und 1967»12 sowie musikalischen Darbietungen des Kammerorchesters, des Männerchors Eintracht und des Kirchengesangvereins; Festpredigt von Dekan Walter Angst über Psalm 10013; Uraufführung der im Auftrag der Kirchenpflege von Walter Baer geschaffenen Kantate «Jauchzet dem Herrn»; Dorffest mit Ausstellungen, Spielen, Darbietungen der Dorfvereine, Wirtschaftsbetrieb und Tanz; Triumphfahrt der Kindergartenschüler mit buntbekränzten Pferdefuhrwerken durch das Dorf; Seefahrt der Primarschüler und Schiffahrt der Oberstufenschuljugend in den Obersee; Uraufführung des von Hans Thürer geschriebenen von von Emil Bader in Zürcher Mundart übersetzten historischen Festspiels «I Gott’s Name» durch die Freunde des Volkstheaters; Veröffentlichung von zwei Jubiläumschriften: einer Monographie der Kirche14 und eines Längs- und Querschnittes durch das kirchliche Gemeindeleben15. Als Geburtstagsgeschenk spendete die Sparkasse Wädenswil eine Bronzetafel, die an der Nordseite der Kirche angebracht wurde und folgende Inschrift trägt: «Dieses Gotteshaus wurde 1764-1767 vom Brückenbauer und Baumeister Johann Ulrich Grubenmann von Teufen gebaut. Die Gemeinde obwohl klein und arm, bracht die Bausumme unter grossen Opfern durch Vergantung der Kirchenstühle innerhalb von 10 Tagen auf. Die Kirche wurde verschiedentlich, zum letzten Mal 1950/51, renoviert. Im Sommer des Jahres 1967 wurde aus Anlass der 200-Jahr-Feier diese Tafel angebracht.»

Chilbivergnügen um 1850: Schiessen, Kegeln, Schwingen, Tanzen, Essen und Trinken

Seit Beginn der 1840er Jahre lässt sich der Wädenswiler Kirchweihbetrieb anhand der Lokalpresse eingehender erfassen16. Schon die Mitteilungen und Inserate in den ältesten Jahrgängen des «Allgemeinen Anzeigers vom Zürichsee» zeigen, dass sich die damalige Chilbi wesentlich von der heutigen unterschied. Vergnügen auf spielerisch-gesellschaftlicher Basis herrschten vor, so das Büchsen- und Armbrustschiessen, der Kegelschub und der Tanz. Träger und Veranstalter waren einerseits die Dorfvereine, anderseits die Wirte. Besonderer Beliebtheit erfreute sich das Nummern- und Ehrengabenschiessen, welches die Schützengesellschaft an der Kirchweih durchführte. Als Schiesstätte diente das Schützenhaus bei der Sust. Geschossen wurde über eine Bucht des Zürichsees nach Scheiben, die auf dem Giessenhorn aufgestellt waren17. Beim Nummernschiessen galt es, möglichst viele Treffer innerhalb des Nummernkreises zu erzielen. Dieser Kreis mass in der Stichscheibe 9 1/2 Zoll (28 cm) im Durchmesser, in der Kehrscheibe 2 ¾ Zoll (9 cm). Nummernschiessen wurden nicht nur von der Schützengesellschaft organisiert; Veranstalter war mitunter auch ein geschäftstüchtiger Wirt18.
Bereits als Relikt, das zwischen 1850 und 1860 ganz ausstarb, erscheint das Armbrustschiessen als Kirchweihvergnügen. Das Schiessen wurde von Privaten veranstaltet, 1842 beispielsweise vom Verleger Rudolf Strickler, 1844 vom Bäcker Carl Rometsch im Rebstock und 1845 vom Spengler Hauser auf dem Buck. Als Schiessplatz diente im Jahre 1844 die neue Gemeindehaabe vorhalb der Sust, 1847 der Zimmerplatz ob dem Schützenhaus. Später, als das Armbrustschiessen nur noch von Wirten organisiert wurde, schoss man in der Nähe von Wirtschaften, 1852 bei der Sonne und 1854 beim Speisewirt Hürlimann an der Seefahrt. Das Armbrustschiessen war ein Sport der Erwachsenen. Dann und wann wurden aber auch «minderjährige Knaben» zugelassen. Bäcker Rometsch reservierte ihnen im Jahre 1844 sogar eine eigene Scheibe mit 16 Franken Gewinnsumme. Der Schiessbeginn war am Sonntag auf Schluss der Kinderlehre angesetzt, am Montag und Dienstag auf morgens acht Uhr. An allen drei Tagen wurde so lange geschossen, als es die Tageshelle erlaubte19.
Neben dem Armbrustschiessen erfreute sich an der Kirchweih der Kegelschub grosser Beliebtheit. Es waren auch da zur Hauptsache die Wirte, welche Gaben stifteten und das Spiel damit attraktiv gestalteten. Jakob Huber liess am Kirchweih-Sonntag und -Montag 1843 auf dem Zimmerplatz beim Armenhaus ein Schaf auskegeln, und in der Trümplerischen Weinschenke zur Linde hinterm Hirschen kegelte man am 23./24. August 1846 um eine silberne Taschenuhr20.
Einer weiteren alten Sportart verhalf man an der Chilbi 1856 zu neuem Auftrieb: dem Schwingen. Der «kräftigen Männerwelt» des Dorfes wurde Gelegenheit geboten, sich auf dem Platz vorhalb der Sust mit Berner und Urner Schwingern zu messen21. Die fünf besten Kämpfer konnten am Sonntag unter sich 35 Franken teilen. Am Montag wurden nochmals Prämien im Betrag von 20 Franken ausgesetzt. Zwei kleinere Preis waren für Schwinger unter 16 Jahren bestimmt.
Einer der sechs gesetzlich zugelassenen Tanzsonntage fiel auf die Kirchweih. Kein Wunder, dass die Leute vom Recht, öffentlich tanzen zu dürfen, ausgiebig Gebrauch machten. Die Gaststätten wetteiferten untereinander mit Tanzveranstaltungen aller Art. Ein Wirt suchte den andern mit originellen Produktionen zu übertrumpfen. Die Krone kündigte 1847 vorzügliche Blechmusik an22, Hürlimann im Badhaus Harmoniemusik. Gattiker im Schiffli empfahl den Kirchweihbesuchern im Jahre 1868 eine «Concert- und Gesangs-Soirée» mit bekannten Violin-Virtuosen und dem Gesangskomiker Kramer23. Im Pavillon des Du Lac gab 1890 eine «Variété-Singspiel-Gesellschaft» zwei brillante Vorstellungen und Konzerte24, und 1895 gastierte hier die Jodlergesellschaft.
Zu allen Zeiten spielten Essen und Trinken an den Kirchweihtagen eine wichtige Rolle. Die Mandate, welche immer wieder gegen die Völlerei, das Fressen und Saufen erlassen wurden, legen davon beredtes Zeugnis ab. Aber auch die Inserate in der Lokalpresse zeigen, dass sich das hiesige Gewerbe – vorab die Metzger, Bäcker und Wirte – an der Chilbi immer wieder für Spezialitäten aller Art empfahl. Wer selbst backte, brauchte Küchli- oder Semmelmehl, gesottene Butter und eventuell Krapfenzieger. Wollte man nicht selber backen, konnte man die Süssigkeiten von Lisette Brupbacher bei der Kirche beziehen, die um 1860 alljährlich Eierröhrli, Küchli, Ziegerkrapfen und andere Süssigkeiten bereithielt. Bratwurster Theiler inserierte gut geräuchertes Schweinefleisch und selbstgesottenes Schweineschmalz. Andere Metzger empfahlen Sankt-Galler-Bratwürste, Ochsenfleisch und Speck. Der Schiffli-Wirt wartete mit gebackenen Forellen, Felchen und Rechlingen auf. Die Gaststätten offerierten Wädenswiler und Augsburger Bier. Münchner Bier vom Fass, hellen Most und reelle Weine. Konditor Bauer empfahl auf die Chilbi 1900 besonders seine in Butter gebackenen Berner Mändeli25, und in der Konditorei Harmonie hielt man nebst Eierröhrli auch Krapfen feil, die mit Aprikosen-, Erdbeer-, Himbeer- oder Johannisbeerkonfitüre gefüllt waren. Im Jahre 1910 bot man hier Vanille-, Erdbeer-, Himbeer-, Zitronen-, Framboise- und Chocoladenglacé zum Kauf an.
An den Kirchweihtagen gab es gar oft Magenverstimmungen. Wohl nicht zufällig inserierte eine englische Firma auf die Wädenswiler Chilbi 1905 ihr «Cozapulver», ein Mittel, das «in Kaffee, Tee, Essen oder Spirituosen gegeben werden kann, ohne dass der Trinker es zu wissen braucht»26.

Schaubuden, Menagerien, Marionettentheater, Wachsfigurenkabinette

Aus dem Chilbileben lassen sich die Schaubuden kaum wegdenken. Das Auftreten von Fakiren, Zauberkünstlern und Akrobaten gehörte früher schon zum Typischen der Kirchweih. Die Mandate zeigen dies recht eindrücklich. Steigende Bedeutung erlangten diese Buden in den 1850er Jahren. Damals verstanden es die Budenbesitzer meisterhaft, allgemein menschliche Züge kommerziell auszuwerten: Den Hang zu fremden Welten, das Bedürfnis nach Aktualität und Sensation, das Interesse für Raritäten und den mehr oder weniger ausgeprägten Zug zum Magisch-Schauerlichen.
Zu einer Zeit, da man noch keine zoologischen Gärten kannte, vermochten wilde Tiere immer wieder viele Schaulustige anzulocken. Im Jahre 1865 gastierte die «Aegyptische Menagerie» in Wädenswil27. Sechzig merkwürdige Tiere aus allen fünf Erdteilen waren hier zu sehen, «darunter der grösste Löwe, der je in einer Menagerie gezeigt worden ist». Afrikanische Luchse und Hyänen, Panthertiger aus Bengalen, ein Moschus-Tiger aus Südamerika, ein Wildschweinbär aus Australien, Antilopen aus Oberägypten, ein Lama, zwei Steinböcke aus den Pyrenäen, eine Familie Stachelschwein mit Jungen und der grosse Vogel Strauss aus Abessinien («welchen die Araber zum Reiten und Lastentragen benutzen»), waren weitere Kostbarkeiten des Menageriebesitzers.
An der Kirchweih 1885 erschien «Böhmes grösste Menagerie Deutschlands» mit einem Eisbären, Papageien und Amazonenvögeln, mit Riesenschlangen und Krokodilen und einer grossen «Affensammlung», in welcher Javaner-, Leaponder-, Kapuziner-, Rhesus- und Seidenaffen vertreten waren28. 1895 bildeten die Riesenschlangen und das Bärentheater mit den russischen Bären besondere Anziehungspunkte. 1898 empfahl die Tierbändigerin Frau Buttweiler ihre grosse Menagerie mit dem seltenen Mähnen-, Kragen- und Hufeisenbär aus dem asiatischen Himalajagebirge, der Hirschziegen-Antilope aus Zentralafrika und dem Nacht- oder Halbaffen von der Insel Madagaskar29.
Wohl noch zügiger als die Menagerien dürften die Ausstellungen von Anomalien, von Missbildungen aus dem Tierreich, gewesen sein. An der Kirchweih 1895 konnte man folgende lebende Naturseltenheiten bewundern: ein Pferd mit acht Beinen, ein Kalb mit drei Beinen und einen menschenähnlichen Arm, die kleinste Kuh der Welt (3 ½ Jahre alt und 60 Zentimeter gross), das kleinste Pferd der Welt (6 Jahre alt und 90 Zentimeter hoch), eine Ziege mit fünf Hörnern, ein Kalb mit zwei Nasen und vier Nasenlöchern, ferner fliegende Hunde und japanische Tanzmäuse und ein Hahn mit vier Beinen, zwei Kämmen und zwei Schwänzen30.
Ein wahrhaftes Prachtstück muss der lebende Doppelstier mit sechs Füssen, worunter ein Rehfuss, gewesen sein, den man an der Kirchweih 1910 auf dem Seeplatz besichtigen konnte. Das Tier wog tausend Pfund und war «trotz Missgeburt ein Prachtsexemplar», so dass der Besitzer bedenkenlos eine Belohnung von tausend Franken aussetzten konnte für denjenigen, der ihm «das gleiche Tier nachweist, welches dem gezeigten an Farbe, Kuriosität und Schönheit gleichkommt»31.
Über einen wertvollen Gegenstand verfügte auch das Kunstkabinett Carabanus, das im Jahre 1862 einen Mammutzahn zeigen konnte, den man vor wenigen Tagen bei Speier aus dem Rhein gezogen hatte und der «zirka 4063 Jahre alt» war32!
Die Entwicklung der Menagerie zum Zirkus bedeutete nur noch einen kleinen Schritt, der fast zwangsläufig erfolgen musste. Lag die Idee nicht nahe, einzelne der gehegten Tiere auf Kunststücke zu dressieren, die dem Publikum vorgeführt werden konnten? Im Zirkus Althoff und Traber konnte man an der Kirchweih 1880 auf dem Dampfschiffplatz «vor jedem Wetter geschützt» Vorstellungen in der hohen Reitkunst und Pferdedressur beiwohnen33. 22 Pferde traten auf und dazu noch zwei Edelhirsche. «Böhmes grösste Menagerie Deutschlands» zeigte 1885 «die wilde afrikanische Jagd im Löwenzwinger»34; das Tierdressur-Institut Wallenda, das Wädenswil im Jahre 1905 mit seinem Besuch beehrte, führte Kunststücke mit gezähmten Wölfen vor35.
Weniger aufregend ging es im Jahre 1910 im Hippodrom zu, wo reitlustige Damen, Herren und Kinder unter Musikbegleitung und Anleitung erfahrener Stallmeister auf «lammfrommen Pferden» reiten konnten36. Auch Buden, in denen geturnt und Akrobatik gezeigt wurde, waren an der Wädenswiler Kirchweih nichts Aussergewöhnliches. In mehreren Hauptvorstellungen zeigten am Chilbisonntag 1861 achtzehn Personen allerhand Akrobatik, Gymnastik und Equilibristik – in mimischen Tänzen, verschiedenen Gruppen und Pyramiden ausgeführt37. Im Jahre 1865 demonstrierte eine französische Akrobaten- und Luftturnergesellschaft die Künste im Seiltanzen und Turnen, in Gymnastik und Ballett38. Als noch nie dagewesene Sensation wurde an der Kirchweih 1880 der Wasserspringer und Feuerwerker gepriesen. «Der Künstler wird drei- bis viermal von einem dreissig Fuss hohen Gerüst mit Feuerwerk auf dem Kopf in die Tiefe springen, wo das Feuerwerk unter dem Wasser brennt wie ob dem selben», verkündete ein gross aufgemachtes Inserat im «Anzeiger»39.
Grossen Zulauf buchten auch die in die Künste des Spiritismus und der Physik eingeweihten Zauberer. An der Wädenswiler Kirchweih des Jahres 1850 stellte C. Ambass aus Graubünden beim Seehof sein berühmtes Kunst- und Zaubertheater auf und versprach einige interessante Vorstellungen «im Gebiete der höheren Magie, Nekromatie, Physik und Chemie». 1864 erschien Professor Böhm-Agoston mit seinem in ganz Deutschland rühmlichst bekannten orientalischen Zaubertheater. 1879 konnten die Wädenswiler im «Grand Theatre Central» neuerfundene Physik-Illusionen, einen automatischen Elefanten und ein erst vor zwei Monaten in Paris erfundenes Kunststück sehen: «Drei in der Luft liegende Mädchen ohne Stock und ohne Stütze». 1881 trat in einem Theater der «Phenomenalmensch Signor Felice Napoli» auf, der preisgekrönte Samson des 19. Jahrhunderts. Ebenso zeigte man Spiritismus, Magie und Klopfgeisterei. Der «Salon Weiffenbach» empfahl gleichzeitig seine «Vorstellungen in der chinesischen und japanischen Schnellfingerkunst». Grossartige Leistungen verrichtete im Jahre 1910 auch die Mexikanerin «Elly del Sarto», die Pistolenschützin und Mandolinen-Virtuosin40.
Zu erwähnen sind sodann die Marionetten- und Kaspertheater sowie die Wachsfigurenkabinette, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann und wann auch religiöse Motive zur Darstellung brachten. Im Kunstkabinett Carabanus, das über die Kirchweih 1862 in Wädenswil weilte, zeigte man mit lebensgrossen, beweglichen Wachsfiguren «das Todesurteil von unserem Heiland»41. Im «Salon Phantastique» waren im Jahre 1866 neben Schlachtszenen auch Bilder aus dem Leben und Leiden des Heilands zu sehen. Belehrenden Charakter hatte die 1895 in Panoptikum gezeigte «Erste Hilfeleistung bei Unglücksfällen», eine Samariterlehre in hundert Bildern42. Nutzen aus der aufstrebenden Technik zog der «Amerikanische Velocipedisten-Cirkus», der an der Chilbi 1885 auf dem Jakobsplatz gastierte. Neue technische Leistungen demonstrierte zehn Jahre später auch das Panoptikum. Hier konnte man sich von der Geschosswirkung der neuen kleinkalibrigen Gewehre überzeugen43.

Aktualität, Kinematograph, Photographie

Dass Aktualitätenschauen, «echte Bilder aus aller Welt», immer wieder auf grosses Interesse stiessen, ist verständlich. In einer Zeit ohne Radio, Kino, Fernsehen und Sensationspresse waren eben Neuigkeiten nicht so leicht zu erfahren wie heute. Aber an der Kirchweih, da gab es Gelegenheit, das Allerneuste zu sehen. 1861 stellte J. Uebele aus dem Württembergischen gegenüber der Apotheke sein grossartiges Panorama auf. Für zwanzig Rappen konnte man durch eines der acht guten optischen Gläser die neuesten, «von wirklichen Künstlern ausgeführten Tableaux» besichtigen: den Christenmord in Syrien, den Brand von Glarus, Palermo und die Weltstadt Paris, das Bombardement von Gaeta in Sizilien usw.44. Im selben Jahre 1861 zeigte der Franzose J.J. Fenninger ein grosses Schlachten-Cyclorama der neusten Zeit. In seiner Bude beim Seehof konnte man für 20 Rappen folgende, garantiert naturgetreue Zeichnungen sehen: 1. Die Einnahme von Palermo durch Garibaldi, von der Landseite. 2. Die Beschiessung von Palermo durch die neapolitanische Flotte. 3. Die Ankunft der französischen Armee in Italien. 4. Die Schlachten um Italien. 5. Die Überschwemmung von Nijmwegen in Holland im August 1860. 6. Den Christenmord in Syrien. 7. Das grosse Blutbad in Damaskus. 8. Die Abfahrt der französischen Hilfstruppen von Marseille nach Syrien. 9. Den Sturm der Alliierten auf die Taku-Forts bei Shang-Hai in China, den 4. September 1860. 10. Den grossen Brand von Glarus vom 10. Mai 186145.
1865 zeigte Uebele beim Gasthaus Engel durch 120 Gläser das Panorama von Bern, den Rheinfall, die Städte Wien, München und Rom, das heilige Grab in Jerusalem und das Eidgenössische Schützenfest in Schaffhausen vom Juli 186546.
Als grösste Sensation präsentierte Hypleh-Walt an der Wädenswiler Kirchweih 1900 vis-à-vis des Güterschuppens seinen «Theater-Kinemathographen», die lebenden Photographien. Photographien in kolossaler Grösse von 18 Quadratmetern! Elektrische Riesenapparate ohne Konkurrenz! Eleganter, eigens zu diesem Zweck erstellter Theaterbau! Das waren die Schlagzeilen, mit denen die Wädenswiler auf diese Neuerung aufmerksam gemacht wurden. Auch im Lokalteil der Zeitungen pries man das Kinemathographentheater von Hypleh-Walt, das «eine Fülle von Augenweide» bot: «Tausende verschiedener Bilder, sogenannte lebende Photographien, spazieren an dem gespannt harrenden Auge vorbei. Den Glanzpunkt jeder Vorstellung bietet die Vorführung des Zaubermärchens Aschenbrödel in lebensgrossen Figuren und malerischen Kostümen, so dass man eine eigentliche Theatervorstellung sich abspielen zu sehen glaubt. Als Neuheiten werden vorgeführt das Attentat auf König Umberto in Monza und dessen Leichenbegräbnis in Rom sowie die Unruhen in China»47.
Das Theater Praiss, das im Jahre 1900 auch an der Wädenswiler Chilbi vertreten war, verfügte ebenfalls über einen Kinemathographen, und zwar amerikanischer Herkunft. «Mittels des Kinemathographen ist es bekanntlich gelungen», hiess es erklärend in der Lokalpresse, «Vorgänge
des Lebens in getreuer Kopie, wie sie sich abspielen und in voller Aktivität, in bildlicher Wiedergabe an die Wand zu werfen, so dass man glaubt, vor dem wirklichen Leben zu stehen. Regimenter marschieren vorüber, die Buren rücken mit Artillerie und Kavallerie in vollster Naturtreue vor uns auf. Man sieht sie auf ihren Rossen dahinjagen, absteigen, zielen und feuern. Nicht ein Bild, das einen bestimmten Moment fixiert, haben wir vor uns, sondern das wirkliche Leben scheint sich mit seiner vollen Beweglichkeit abzuspielen. Personen treten auf, schwingen den Hut und zünden sich gemütlich eine Zigarre an48.

Krambuden und Jahrmarktbetrieb

Die Krambuden mit den Bildern, Schmuckstücken und Andenken, die Stände mit den Ess- und Schleckwaren, der billige Jakob und die Frau mit den Ballonen und Windrädchen – sie alle gehören zur Kirchweih. Sie geben ihr das typische Gepräge des Jahrmarktes. Neben fremden Händlern und Krämern schlugen über die Kirchweihtage auch Einheimische ihre Stände auf, besonders dann, wenn sie mit einem seltenen Artikel auftrumpfen konnten. Der Photograph Johann Jakob Graf an der Hirschengasse empfahl sich beispielsweise für schöne und billige «Photographische Portraits», und J. Schubiger zur Fortuna gab im Jahre 1905 bekannt, dass sein Warenhaus am Kirchweihsonntag bis 18 Uhr geöffnet sei und dass man hier «Haushaltungs- und Luxusgegenstände» finde 49.

Von der Föifermülli zur modernen Reitschule

Die Reitschulen gehören zur jüngsten Entwicklung des Kirchweihbrauchs. Reitschulbesitzer inserierten zwar schon in den 1860er Jahren im «Anzeiger». Die Karussells standen jedoch nicht auf dem Kirchweihplatz im Dorf, sondern im Wädenswiler Berg, in Schönenberg oder Spitzen. Erst um 1900 erschienen die Karussells, jetzt bereits in grösserer Zahl, an der Dorfkirchweih. Die Berg- und Talbahn war ein Anziehungspunkt für jung und alt. «In raschem Laufe sauste man von der Höhe herab, bald vom gleichen Niveau aus an seinen Mitmenschen vorüber»50. «Reitschulen sind den Kindern zu gönnen», hiess es zur selben Zeit in einem Eingesandt. «Die Besitzer von sogenannten Schiffschaukeln sollten jedoch zur besonderen Vorsicht veranlasst werden. Für ganz harmlos halten wir dieses Vergnügen nicht!»51. An der Chilbi 1905 erschien das Karussell mit Pferden, Löwen, Giraffen und Schwänen sowie das «Salon Galoppaden Karoussel» mit beweglichen, springenden Pferden, die abends mit Gaslampen feenhaft beleuchtet werden konnten. Beim Gambrinus stellte sich im Jahre 1910 ein Dampfkarussell auf, nebenan befand sich die Föifermülli für die lieben Kleinen».
Mitten in der Krisenzeit, im August 1931, erlebte Wädenswil eine Grosschilbi, wie man sie hier noch nie gesehen hatte. Ausser dem allerdings teilweise anderweitig belegten Seeplatz und dem Sustplatz stand auch das ausgedehnte Areal beim heutigen Bahnhof zur Verfügung, auf dem Abbruch-Honegger kurz zuvor zehn Gebäude niedergerissen hatte. Der Andrang der Budenbesitzer war gewaltig. Unter den 38 Unternehmern waren beispielsweise vertreten: ein Autodrom, ein Hippodrom, eine Kindervelobahn, die Attraktion «Mauerd es Todes», Weidauers Raupenbahn, vier Karussells und Schiffschaukeln, eine Kinderautobahn, das Kasperlitheater, eine Affenarena, das Raritätenkabinett und ein Panorama, ferner Schiessstände, Ballenwerferbuden, Stände von Confiseuren und Photographen52.
Mitten in der unheilschwangeren Zeit der Augusttage 1939 rüstete sich Wädenswil auf seine Grosschilbi, die für Jahre die letzte in diesem Umfang sein sollte. Noch nie nahm wohl der Chilbibetrieb ein so jähes Ende wie an jenem 28. August 1939. Nachts zwischen zehn und elf Uhr wurde in der Gemeinde durch Generalmarsch die Teilmobilmachung der Grenztruppen bekanntgegeben. Die Trommelwirbel standen mit dem Lärm der zu Ende gehenden Chilbi in einem seltsamen Kontrast53.
Als dann die schweren Kriegsjahre endlich vorüber waren, da erstand die Wädenswiler Chilbi wieder in alter Pracht und Grösse: auf dem Seeplatz, dem Bahnhofplatz, dem Sustplatz und dem Postplatz. Die fortschreitende technische Entwicklung wirkte sich auch auf den Kirchweihbetrieb aus. Immer modernere Reitschulen und Bahnen aller Art wurden konstruiert. So entstand allmählich die Vielfalt der 1950er und 1960er Jahre mit Autobahn, Geisterbahn, Wilder Maus, mit Vampir, Sputnik und Tourbillon des neiges.
 
Chilbi 1970: Buden und Reitschulen auf dem Seeplatz.
Chilbi 1970: Hochbetrieb auf dem Postplatz und im «Du Lac».
 




Peter Ziegler


Anmerkungen

1 StAZ, III AAb 1, Mandate 1525-1630, S. 530 (Mandat von 1627) und S. 732 (Mandat von 1636), Abschnitt «Abstellung der Kilwinen».
2 Peter Ziegler, Von der alten Kirche zu Wädenswil, Heimatblätter, Monatsbeilage zum Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee, August 1959.
3 Eduard Kuhn, Wann soll die Wädenswiler Kirchweih stattfinden? Anzeiger 16. August 1950.
4 Anzeiger 1970, Nr. 276.
5 Die Kirche von Wädenswil, Njb LGW 1967, S. 66, 67, 70 (Heinrich Höhn, Wahrhafte Beschreibung der Erbauung der neuen Kirche zu Wädenschweil in den Jahren 1764-1767).
6 Die Kirche von Wädenwil, s. 70.
7 ZBZ, Z 1867/107 (Kirchweihpredigt von 1867).
8 Johann Heinrich Kägi, Geschichte der Herrschaft und Gemeinde Wädenswil, Wädenswil 1867.
9 Jakob Pfister, Kirchweihpredigt vom 26. August 1917, Wädenswil 1917.
10 Jakob Höhn, Zur 150jährigen Kirchweih in Wädenswil, Wädenswil 1917.
11 Anzeiger 1967, Nr. 148.
12 Anzeiger, 5. Juli 1967.
13 Anzeiger, 5. Juli 1967.
14 Die Kirche von Wädenswil, Njb LGW 1967.
15 So leben wir, Jubiläumschrift der Kirchgemeinde Wädenswil, Wädenswil 1967.
16 ZBZ, ZU 87, Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee. – Peter Ziegler, Wädenswiler Kirchweih im Wandel der Jahrhunderte, Heimatblätter, August/September 1961.
17 Anzeiger 1842, Nr. 13; 1843, Nr. 33.
18 Anzeiger 1845, Nr. 32; 1847, Nr. 34.
19 Anzeiger 1844, Nr. 34.
20 Anzeiger 1843, Nr. 33; 1846, Nr. 34.
21 Anzeiger 1856, Nr. 68.
22 Anzeiger 1847, Nr. 34.
23 Anzeiger 1868, Nr. 99.
24 Anzeiger 1890, Nr. 98.
25 Anzeiger 1900, Nr. 97.
26 Anzeiger 1905, Nr. 95.
27 Anzeiger 1865, Nr. 97.
28 Anzeiger 1895, Nr. 98.
29 Anzeiger 1898, Nr. 97.
30 Anzeiger 1895, Nr. 98.
31 Anzeiger 1910, Nr. 96.
32 Anzeiger 1862, Nr. 99.
33 Anzeiger 1880, Nr. 98.
34 Anzeiger 1885, Nr. 95.
35 Anzeiger 1905, Nr. 95.
36 Anzeiger 1910, Nr. 96.
37 Anzeiger 1861, Nr. 99.
38 Anzeiger 1865, Nr. 97.
39 Anzeiger 1880, Nr. 98.
40 Anzeiger 1910, Nr. 96.
41 Anzeiger 1862, Nr. 99.
42 Anzeiger 1895, Nr. 99.
43 Anzeiger 1895, Nr. 99.
44 Anzeiger 1861, Nr. 99.
45 Anzeiger 1861, Nr. 99.
46 Anzeiger 1865, Nr. 97.
47 Anzeiger 1900, Nr. 98.
48 Anzeiger 1900, Nr. 98.
49 Anzeiger 1905, Nr. 95.
50 Anzeiger 1900, Nr. 99.
51 Anzeiger 1900, Nr. 97.
52 Anzeiger 1931, Nr. 133.
53 Anzeiger 1939, Nr. 200 a.