Die Bauten der ehemaligen oberen Tuchfabrik

Quelle: Rundgang II durch Wädenswil, Publikation 1990 von Peter Ziegler

Geschichte der Tuchfabrik

Die Tuchfabrik am Reidbach wurde 1818 durch den Gerber Heinrich Hauser und den Zuckerbäcker und Baumwollverleger Johannes Fleckenstein gegründet; die ersten Fabrikbauten entstanden 1821/22. Bis 1832 hiess die Firma «Hauser, Fleckenstein u. Co.», von 1832 bis 1855 «Fleckenstein & Bethge» und von 1855 bis 1891 «Fleckenstein-Schulthess». Die 1891 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Tuchfabrik wurde im Jahre 1899 von den Brüdern Johann Jakob und Gottfried Treichler übernommen und als Tuchfabrik Wädenswil AG weitergeführt. 1978 stellte das Unternehmen die Tuchproduktion ein. In den Bauten sind heute verschiedenste Industrie- und Gewerbebetriebe eingemietet.

Die alte Fabrikanlage

Das ehemals vom Dorfgebiet abgesetzte Fabrikgelände ist heute mit dem Siedlungsgebiet verwachsen, das sich seit den 1970er Jahren stark ausgebreitet hat. Die Bauten der oberen Tuchfabrik liegen auf der untersten Geländeterrasse zwischen dem Trasse der Südostbahn und der Tannstrasse. Durch das Areal zieht sich die 1865 angelegte Einsiedlerstrasse. Die ältesten Bauten der Fabrikanlage steht bergseits des Reidbachs, dessen Wasserkraft ursprünglich für den Antrieb genutzt wurde. Um 1900 verlegte man den Schwerpunkt an die Einsiedlerstrasse. Noch heute bilden die Industriebauten eine erlebbare geschlossene Gruppe. Es finden sich hier drei grundsätzlich verschiedene Textilfabriktypen: der traditionelle, stark durchfensterte Satteldachbau von 1822, der niedrige Backsteinbau mit Flachdach vom 1894. Die wichtigsten Gebäude werden nachstehend in chronologischer Abfolge ihrer Entstehung vorgestellt. Der beigegebene Plan erleichtert das Auffinden der beschriebenen Objekte.

71 Obere Tuchfabrik. Übersichtsplan.
1 Reidbachweiher 8 Ökonomiegebäude von 1889.
2 Fabrikgebäude von 1822 9 Shedbauten von 1890/1906
3 Fabrikgebäude von 1845 10 Fabrikgebäude von 1894/1936
4 Villa von 1883/84 11 Verwaltungsgebäude von 1917
5 Kesselhaus von 1885 12 Färbereigebäude von 1924
6 Hochkamin von 1902 13 Fabrikkanal
7 Wollwäscherei von 1885 14 Fabrikweiher

 

Erstes Fabrikgebäude von 1822

Das traufbetonte, viergeschossige Haus Einsiedlerstrasse 32 ist der Kernbau der oberen Tuchfabrik. Mit acht Achsen auf der Traufseite und drei Achsen auf der Giebelfassade ist er regelmässig befenstert. Zweiachsige Quergiebel betonen die beiden Traufwände. Das Oberlichtgitter des Haupteingangs in der nördlichen Giebelfront enthält ein Medaillon mit der Inschrift «HF & C 1822» (Hauser, Fleckenstein & Co. 1822). 1878 wurde auf der Südseite ein Remisengebäude angebaut und später zu einem Magazin mit Flachdach umgestaltet. Das weitgehend original erhaltene frühere Webereigebäude mit klassizistischen Stilelementen diente nach 1907 als Arbeiterwohnhaus und beherbergte zeitweise auch eine Kantine.

Fabrikgebäude von 1845

Am steilen Hang oberhalb des ältesten Fabrikbaus liess die Textilfirma Fleckenstein & Bethge 1845 ein langgestrecktes Wärmetröcknegebäude (Tannstrasse 9) erstellen, ein Massivbau mit Satteldach und regelmässig angeordneten, gesprossten Fenstern. Das 1891 für die Weberei genutzte Gebäude wurde 1901 zum Arbeiterwohnhaus umgestaltet.
72 Erstes Fabrikgebäude von 1822.
75 Fabrikgebäude von 1845.

73 Oberlichtgitter von 1822.
76 Fabrikgebäude von 1894.

74 Gebäude der Tuchfabrik Fleckenstein-Schulthess in den 1890er Jahren.

Fabrikanten-Villa von 1883/84

77 Villa Einsiedlerstrasse 24 im Bau. Ansicht von Osten, 1883/84.

Das Fabrikantenwohnhaus Einsiedlerstrasse 24, die Villa Fleckenstein, wurde 1883/84 für Fabrikanten Fritz Fleckenstein-Waser, Teilhaber der Firma Fleckenstein-Schulthess, am Nordwestrand des Fabrikgeländes erstellt. Architekt des Hauses war der Wädenswiler Karl Schweizer (1843−1912), der unter anderem auch Wädenswils ersten Bahnhof, das Krankenasyl und das Neue Eidmattschulhaus plante. Die Fabrikantenvilla, gegliedert in zwei randseitige Giebelbauten und einen traufständigen Mitteltrakt, bezeugt bis in die kleinste Einzelheit die europäische Stilphase des Neubarocks, die zeitlich zwischen dem späten Klassizismus der Jahrhundertmitte und dem Jugendstil der Jahrhundertwende liegt.
79 Villa Einsiedlerstrasse 24. Ansicht von Osten, mit Gartenmauer und Zaun längs der Einsiedlerstrasse.
 
Die Fassaden sind konsequent symmetrisch durchgestaltet, die steilen Satteldächer mit Eternitschiefer eingedeckt. Beachtung verdient die geschnitzten Balkenköpfe und die reich gestalteten Ziergitter bei Balkonen (aus der Giesserei A. Durenne im französischen Sommevoire), Treppengeländer und die Gartenumzäunung gegen die Einsiedlerstrasse. Das Geländer der auf dem Satteldach des Mitteltrakts gegen die Einsiedlerstrasse aufgestockten Zinne trägt die Initialen «FS» (Fleckenstein-Schulthess). Rückwände und Decken der beiden gedeckten Balkone auf der Seeseite waren ursprünglich dekorativ ausgemalt.


78 Villa Einsiedlerstrasse 24. Balkongitter.
80 Villa Einsiedlerstrasse 24. Wandmalerei-Fragmente auf der Terrasse im ersten Obergeschoss.

Dampfkesselhaus von 1885 und Hochkamin von 1902

Im Jahre 1885 stellte die Tuchfabrik Fleckenstein-Schulthess von der Wasserkraft auf Antrieb mit Dampfmaschine um. Bergseits der Einsiedlerstrasse entstand als niedriger Backsteinbau mit unregelmässiger Fassadengliederung und Flachdach ein Dampfkessel- und Maschinenhaus.
Der aus handgefertigten Ziegelsteinen aufgemauerte Hochkamin stammt aus dem Jahre 1902 und war ursprünglich 42 Meter hoch. Der Aussendurchmesser am Kaminkopf betrug einst 225 Zentimeter, der Innendurchmesser 175 Zentimeter. Ein Blitzschlag verursachte im Bereich der Krone Risse im Mauerwerk. Die TUWAG verzichtete auf den Abbruch des von ihr nicht mehr benötigten Hochkamins, liess aber 1988 aus Sicherheitsgründen die beschädigte Krone um 8 Meter kürzen. Am Fuss ist die Kaminmauer 110 Zentimeter mächtig und verjüngt sich dann alle fünf bis sechs Meter um 12 Zentimeter.

Wollwäscherei von 1885

Der langgestreckte, zweigeschossige Satteldachbau mit unregelmässiger Anordnung von Einzelfenstern und gekoppelten Fensterpaaren mit Stichbogensturz sowie horizontaler Gliederung durch ein Gurtgesimse wurde 1885 für die Wollwäscherei erstellt. Das Gebäude steht hinter jüngeren Fabrikbauten am steil ansteigenden Gelände und ist von der Einsiedlerstrasse her kaum sichtbar. Die Wollwäscherei in Sichtbackstein-Bauweise ist typisch für den Fabrikbaustil des späten 19. Jahrhunderts.
81 Kranz des Kochkamins von 1902, abgebrochen 1988.

88 Wollwäscherei von 1885.

Ökonomiegebäude von 1889

Das Ökonomiegebäude mit Wohnungen (Einsiedlerstrasse 27) aus dem Jahre 1889 ist der erste Bau, der seeseits der Einsiedlerstrasse erstellt wurde; er leitete die Vergrösserung der Fabrikanlage nach Nordosten ein. Auffallend ist die gleiche Formgebung wie bei der sechs Jahre früher erstellten Fabrikantenvilla Einsiedlerstrasse 24: die Gliederung in einen traufbetonten Mittelbau (Treppenhaus und Remise) und zwei giebelbetonte Seitenbauten (Scheune, Wohnhaus und Pferdestall). Die Kombination von schmucklosen Backsteinfassaden und bretterverschalter Holzkonstruktion wirkt dekorativ. Der Brunnentrog trägt die Jahrzahl 1889.
82 Ökonomiegebäude von 1889.
86 Fabrikgebäude von 1894. Aufnahme 1976.

Shedbau von 1890/1906

Seeseits der Einsiedlerstrasse wurde 1890 in Sichtbackstein-Bauweise eine Sheddachanlage gebaut und 1906 durch ein weiteres Sheddachgebäude gegen Süden vergrössert. Die für die Spinnerei genutzten Bauten bedeuteten damals eine neue Entwicklung im Fabrikbau, die vor allem darauf Wert legte, den natürlichen Lichteinfall optimal zu nutzen. Die beiden rechtwinklig zueinander ausgerichteten Gebäudetrakte mit je sechs Giebeln entsprechen den zwei Bauphasen. Die Strassenfassade setzt sich aus den sechs asymmetrischen Giebeln des unteren Baus und einer mit Lisenen und einem Zahnschnittfries unter dem Dachgesims verzierten Traufseite des Traktes von 1906 zusammen.
83 Shedbau von 1890.

87 Erweiterungsbau von 1936.
84 Shedbau von 1906.

85 Blick vom Hochkamin auf die Shedbauten.

Fabrikgebäude von 1894

Zwischen dem Altbau von 1822 und der Einsiedlerstrasse wurde 1894 als dreigeschossiger Backsteinbau mit Flachdach ein neues Webereigebäude (Einsiedlerstrasse 30) erstellt, welches den Strassenraum in entscheidender Weise prägt. Die Jahrzahl 1894 am Dachaufsatz weist auf das Baujahr hin. Die unverputzten Backsteinwände, die in Achsen angeordneten grossen Fenster mit Sichbogensturz, die Pilaster zwischen den Fensterachsen, die Gurtgesimse und ein Fries unter dem Dachgesims sind typisch für den Fabrikbau der Jahrhundertwende, mit leichter Anlehnung an den «Schlössli-Stil». Anstelle der ehemaligen Sprossenfenster sind heute Rippenglasquadrate eingesetzt. 1936 wurde das Fabrikgebäude um vier Fensterachsen nach Süden vergrössert. Die Erweiterung hebt sich durch Rechteckfenster und Fassadengestaltung ohne Pilaster vom Bau 1894 ab.
 

Verwaltungsgebäude von 1917

Das 1917 nach Plänen der Architekten Müller & Freytag in Thalwil erstellte Verwaltungsgebäude (Einsiedlerstrasse 25), ein viergeschossiger Massivbau mit Walmdach über L-förmigem Grundriss, ist der unterste Bau der Fabrikanlage seeseits der Einsiedlerstrasse. Der südliche Vorplatz ist ausgeebnet und durch eine Balustrade gegen die Strasse abgegrenzt. Mit seiner leicht vorgerückten Stellung setzt der grosse, mit Ecklisenen gefasste Baukubus einen markanten Akzent. Die symmetrische fünfachsige Strassenfassade zeigt im Erdgeschoss Rundbogenfenster, im ersten und zweiten Obergeschoss Fensterpaare und im dritten Obergeschoss Einzelfenster. Ein Gurtgesims zieht sich zwischen erstem und zweitem Obergeschoss als Gestaltungselement um den ganzen Gebäudekomplex. Das oberste Geschoss ist hervorgehoben durch den Balkon und die in Kunststein gegossene Girlandenverzierungen unter den Fenstern. In der Fassadenordnung zeigen sich Elemente der Gründerzeit, in der Detailgestaltung Elemente des Jungendstils.
89 Verwaltungsgebäude von 1917.
90 Färbereigebäude von 1924.

Färbereigebäude von 1924

Das Färbereigebäude, ein klar durchgestalteter Backsteinbau in Basilika-Form mit erhöhtem, durch Walmdach abgeschlossenem Mittelbau, wurde 1924 zwischen das Wohnhaus Einsiedlerstrasse 28 und das Wollwäschereigebäude eingefügt. Die tieferen, als Pultdachbauten ausgebildeten «Seitenschiffe» ragen auf den Querseiten über den Mittelbau vor und enden in je zwei Giebeldachbauten. Hohe Fenster gliedern die Längsseiten regelmässig. Stark prägend sind die zwei Kaminreihen mit je sechs Entlüftungskaminen, die sich beidseits an das «Mittelschiff» anschmiegen.
 
Auf der Einsiedlerstrasse oder der Tannstrasse gehen wir seewärts und biegen dann oberhalb des Bahnübergangs an der Linie der SOB nach links in den Bollerweg ein.




Peter Ziegler