Erinnerungen an die frühere Wädenswiler Chilbi

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1985 von Heinrich Müller

Da der Samstag einst Arbeitstag war, galten als Chilbitage Sonntag und Montag sowie der Dienstag-Abend. Trotz Chilbi-Sonntag gab es keinen Dispens für den Kinderlehre-Besuch von nachmittags ein bis zwei Uhr! Doch die Jungmannschaft hatte bereits anderes im Kopf und war daher nicht besonders aufnahmefähig, so dass es am Schluss ein recht eilfertiges Verlassen der Kirche gab, um ja nichts zu verpassen! Aber auch die Eltern und viele Erwachsene schienen von diesem Fieber etwas erwischt zu haben. Als ich schon auswärts wohnte, meinte meine Mutter sogar einmal: «Aber anere Wättischwiiler-Chilbi chunt mer doch hei!»
Wir machen einen Rundgang und fangen beim äusseren Sustplatz an: Da war fast jedes Jahr die «Schiffli-Riitschuel» der Witwe Arnold platziert, mit Segelschiffchen bestückt, mit Dampf betrieben und mit einer prächtigen Orgel. Bei den Wädenswilern war dieses Unternehmen immer sehr beliebt. Gleich daneben hatte sich das Kino «Exelsior» installiert, später war es dasjenige des Rapperswilers Leuzinger. Ein Kino war früher in Wädenswil eine Sensation. Gezeigt wurden Stummfilme, von Sprechfilmen wusste man damals noch nichts. Originell war bei diesem Kino, dass vor jeder Vorstellung eine von den Angestellten des Unternehmens gebildete sechsköpfige Blaskapelle neben dem Eingang einen schneidigen Marsch spielte und der Herr «Direktor» dazu das Schlagzeug bediente, nachdem er zuvor mit lauter Stimme die Filme angekündigt hatte.
Wädenswiler Chilbi 1931. Buden und Reitschulen am Standort des heutigen Kronenblocks.

Auf der andern Seite der Sust, gegenüber dem Seehof, befanden sich gewöhnlich eine Schiffsschaukel sowie eine «Rössli-Riitschuel» oder «Föifermüli», so genannt, weil der Fahrpreis 5 Rappen betrug! Originell auch die Orgeltöne dieses Karussell: «Es war im Böhmerwald» oder: «Mein Herz, das ist ein Bienenhaus, die Mädchen sind darin die Bienen ... » und noch viele andere «Perlen klassischer Musik»! Wo das heutige Hotel Du Lac steht, lag der ehemals beliebte «Du Lac»-Garten, der an der Chilbi immer sehr gut besetzt war. Der grosse Platz zwischen dem Güterschuppen und dem jetzigen Bahnhof, wie auch der grosse Bahnhofplatz von heute, bestanden damals nicht, denn der alte Bahnhof mit dem nicht gerade heimatschutzwürdigen WC befand sich bis 1932 ungefähr gegenüber dem heutigen Du Lac. Für die Erweiterung der Bahnhofanlage mussten eben 1930–1932 eine ganze Reihe von Häusern weichen, so unter anderem das Restaurant Schiffli, das Restaurant Bellevue, das alte «Pöstli» sowie an der Seestrasse die «Johannisburg». Die Verkaufsstände, die an der heutigen Chilbi jeweils auf dem Bahnhofplatz stehen, befanden sich damals links und rechts an der Bahnhofstrasse, bis hin zum Hotel Engel. Kurz vor dem Restaurant Schiffli konnte man über eine Passerelle (brückenähnlicher Übergang) den Seeplatz erreichen, und beim «Engel» befand sich eine Rollbarriere.
Der Seeplatz war schon damals Hauptchilbiplatz. Eine Unzahl von Buden, Schiessständen, Karussells fand sich jedes Jahr ein, darunter auch der «Gütterli-Meier» mit seiner «Föifermüli», einmal ein Floh-Zirkus und sogar ein zweiter Kino (Wallenda). Der zweite Bootshafen bestand damals auch noch nicht. Als ganz zuvorderst auf dem Seeplatz die «Achtibahn» von Weidauer aufgestellt wurde, war diese ein «weiteres Zugpferd» der Chilbi. Noch früher aber hatte dort Jahr für Jahr ein Hippodrom, also eine Art Reithalle mit richtigen Pferden, seinen Platz! «Rein spaziert, meine Herrschaften, selbst Damen können reiten allhier» tönte es vom Eingang her, und köstlich war es dann zu sehen, wie eine Reiterin einen Ritt wagte, sich oft bald statt am Zügel an der Mähne oder am Hals des Tieres festhielt, mit dem ängstlichen Ruf: «Halt, nüd e so schnäll!»
Hatte man eine Verschnaufpause nötig, begab man sich über die Passerelle wieder zum Ausgangspunkt zurück, und dann noch zum Plätzli (das Sparkassa-Gebäude stand damals noch nicht). Auch hier konnte man sich bestens unterhalten, sei es auf einer Rutschbahn oder auf der «Tunnel-Riitschuel». Dass zu einer Chilbi einst auch der Tanz gehörte, bewies jeweils der gut besuchte Gang zu den Tanzlokalen, dies trotz Chilbibetrieb. Wie manchmal während der ganzen Chilbi der Rundgang von der Sust zum Seeplatz und zurück erfolgte, weiss ich nicht, aber es dürften wohl Kilometer zurückgelegt worden sein, und dies trotz Massenandrang.
Inserate in den «Nachrichten vom Zürichsee», 20. August 1921.

Die Chilbi von 1921 ist mir noch ganz gut in Erinnerung. Entgegen sonstiger Gewohnheit ging ich diesmal etwas früher nach Hause, hatte ich doch einige Zeit zuvor eine Einladung erhalten, des Inhalts: «Sie erhalten den Befehl, vollständig ausgerüstet und bekleidet (wie es damals hiess) einzurücken, Montag, den 22. August 1921, vormittags 9 Uhr ... ». «Und das uusgrächnet am Chilbi-Mäntig!» Aber wenn Mutter Helvetia ruft, dann geht man eben! Nach den üblichen Retablierungs-Arbeiten am Einrückungstag erfolgte gegen Abend der Abmarsch Richtung WK-Ort. Da es schönes Wetter war, aber sehr heiss, drückten die Folgen genossener Chilbi-Freuden weit mehr als der Tornister und die schweren Marschschuhe! Das energische «Auf» des Feldweibels am andern Morgen und das nachfolgende Frühturnen sorgten dann von selbst für die «Normalisierung der Umstände».
Der Einsiedler Dichter Meinrad Lienert hat einem seiner Jugendbücher den Titel gegeben: «Das war eine goldene Zeit.» Das möchte ich auch diesen Zeilen beifügen und damit meine Ausführungen schliessen.




Heinrich Müller