Schon im Verlaufe des Sommers 1918 spürte man, dass sich der Übergang zur Friedenszeit nicht glatt vollziehen werde. Vorab die Stimmung unter der Arbeiterschaft war gereizt. Von der Sozialdemokratie und von den Gewerkschaften waren − zum Teil unter dem Eindruck des kommunistischen Erfolgs in Russland − Forderungen zu erwarten. Am 11. November 1918, dem Tag des Waffenstillstands, brach ein Streik aus, der während dreier Tage den inneren Frieden des ganzen Landes bedrohte. Das Neun-Punkte-Programm, das die Streikleitung aufstellte, zielte auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung, auf das Ende des bürgerlichen Zeitalters überhaupt3. Als die Wädenswiler Fabrikbetriebe am Montagmorgen, 11. November 1918, die gewohnte Arbeit aufnehmen wollten, standen überall Streikposten, welche den anrückenden Arbeitern den Generalstreik verkündeten und die Geschäftsleiter mehr oder weniger höflich zur Betriebseinstellung aufforderten4. Um Körperverletzungen und Sachschäden zu verhindern, wurde die Arbeit teils am frühen Morgen, teils im Verlaufe des Vormittags eingestellt. Da und dort wurden Arbeitswillige bedroht und aus dem Betrieb geholt. Es kam hingegen zu keinen nennenswerten Gewaltakten. Streikführer war in Wädenswil der Verwalter des Allgemeinen Konsumvereins, der sozialistische Gemeinderat und Kantonsrat Ernst Kessler. Die Streikenden spazierten im Sonntagsgewand durch das Dorf, setzten den Hut selbstbewusst aufs linke oder rechte Ohr und schauten mit königlicher Herablassung auf gewöhnliche Sterbliche herab. Mit Wort, Miene, Hut und Krawattenstellung gab mancher der Streikenden seiner Meinung unmissverständlich Ausdruck: Jetzt wollen wir einmal regieren!
Der Gemeinderat trat sofort zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammen und forderte die Bevölkerung in den Lokalblättern vom Dienstag, 12. November, zur Ruhe auf. Jegliche Provokation sollte unterbleiben. Die hiesigen Streikführer, so wurde beigefügt, übernähmen ihrerseits die Garantie, dass seitens der Streikenden keine Ausschreitungen begangen würden. Die Zeitungen erschienen nur mit grosser Mühe und in stark reduzierter Form.
Sofort wurde in Wädenswil als Gegenmassnahme eine Bürgerwehr gegründet. Der Gemeinderat hatte Kenntnis von der Existenz dieser Organisation. Er wollte die Bürgerwehr auch einsetzen, sofern die Streikenden nicht garantierten, dass Arbeitswillige ungestört arbeiten konnten.
Während sich die Streikenden in der Turnhalle des
Glärnisch-Schulhauses versammelten, trafen sich am Mittwochabend, 13. November, die Bürgerlichen auf Einladung der Demokratischen Ortsgruppe im «Engel». Nachdem man wusste, dass die ernste Lage auch in Zürich und im Kantonsrat beraten worden war, löste sich die Tagung auf, im Vertrauen auf einen guten Ausgang des Streiks. Am Donnerstag, 14. November, sickerte aus Zürich die Nachricht vom Streikabbruch durch. In Wädenswil glaubte man diese Meldung vorerst nicht. Der erste Eisenbahnzug, der um zwölf Uhr in die verwaiste Station einfuhr, brachte indessen den Beweis. Der Zug wurde von den zahlreich anwesenden Bürgerlichen als Symbol der wiederkehrenden Ordnung und Demokratie mit Jubel empfangen. Die Reisenden waren zur Hälfte Soldaten. Sie beschützten den Lokomotivführer, bewachten den Gepäck- und Postwagen sowie die Personenwagen, in denen auch höhere Bahnbeamte reisten. Während der Zug im Bahnhof Wädenswil stand, wurde mit der Kartoffel- und Gemüseschelle gekündet: «Streik nicht fertig! Grosse Versammlung in der neuen Turnhalle!» Obwohl die Blätter bereits bekanntmachten, dass der Streik andernorts zusammengebrochen war, begaben sich die sozialistischen Wädenswiler zur Turnhalle. Ein Demonstrationsumzug, an dem etwa 350 Personen teilnahmen, darunter auch Frauen, schloss die Veranstaltung ab.
Neuerdings ermahnte der Gemeinderat die Einwohner von Wädenswil, gegenseitige Provokationen zu unterlassen. Gleichzeitig teilten die Arbeitgeber von Wädenswil und Umgebung mit, dass die Arbeit auf Wunsch vieler Arbeitswilliger am Freitag, 15. November 1918, wieder aufgenommen werde und dass allfällige Störungen seitens der Arbeiter-Union sogar eine militärische Intervention bewirken könnten.
Am 14. November 1918 spät abends entschloss sich das Zürcher Komitee, den Streik abzubrechen. Dies bedeutete auch für die Gemeinde Wädenswil den Streikabbruch. Am Morgen des 15. Novembers, noch vor Arbeitsbeginn, wurde das Ende des Streiks ausgetrommelt, und die Bürgerwehr zog ihre Posten ein. Schon am ersten Arbeitstag wollte sich der Streikführer Kessler wegen des unerwarteten Streikabbruchs vor der Wädenswiler Arbeiterschaft rechtfertigen. Die Versammlung wurde indessen verschoben, und eine Woche später besorgte ein Redner aus Zürich die Aufklärung. Gegen Ende November verteidigte Kessler den Streik in den beiden Lokalblättern. Seine Worte wurden indessen aus den Reihen der Bürgerlichen mit aller Deutlichkeit erwidert.
Als Folge des Generalstreiks stellte die Arbeiterschaft an den Gemeinderat Wädenswil acht Forderungen, die von der Behörde wie folgt beantwortet wurden:
1. Wohnungsbau durch die Gemeinde − Das Möglichste geschieht
2. Wahl einer Kommission, die Lohnabzüge wegen des Streiks zu vermeiden hat − Die Kommission ist gebildet und wird vermitteln
3. Kredit für billige Lebensmittel − Entsprechende Gesuche sind an die Hülfskommission zu richten
4. Proporz in den Gemeindebehörden − Ein kantonales Gesetz müsste dies vorschreiben
5. Das «Volksrecht» soll amtliches Publikationsorgan der Gemeinde Wädenswil werden − Ablehnung
6. Arbeit und Kredit für Arbeitslose − Die Sache wird eidgenössisch geregelt
7. Drucklegung der Steuerregister − Ablehnung
8. Sitzungsgeld für Behördenmitglieder − Die Angelegenheit soll geprüft werden.
«Nicht berauschendes Siegesgefühl beherrscht die Bürgerlichen, sondern der feste Wille zu einer Sozialpolitik, die sich den Verhältnissen besser anzupassen versteht, als es vorher der Fall war.» Mit diesen Worten schloss der Chronist der
Lesegesellschaft seine ausführliche Schilderung über den Generalstreik in Wädenswil. Dass aber die Spannungen doch noch einige Zeit andauerten, beweist unter anderem die Tatsache, dass die Bauern fortan nicht mehr die Brückenwaage des Sozialisten Iten, des Wirtes zur Johannisburg, benützen wollten, sondern sich 1919 zusammenschlossen und vor der
Sust eine neue Waage bauen liessen. Und als eine Gesellschaft das
Gasthaus zur Sonne erwarb, um hier «ein allen zugängliches Volkshaus» zu schaffen und die Abstinenz zu fördern, erwarben die Sozialisten sofort ihr bisheriges Stammlokal, den
«Löwen», und tauften es in
«Volkshaus» um, «obwohl sich andere Leute, die nicht dort verkehren, auch zum Volke rechnen»
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